sehepunkte 21 (2021), Nr. 9

Marco Heurich / Christof Mauch (Hgg.): Urwald der Bayern

Der "Urwald der Bayern", der erste bundesdeutsche Nationalpark im Bayerischen Wald, ist keine Wildnis im engeren Sinne, also kein Gebiet unberührter Natur mit wilden Tieren. Dazu ist selbst in den vergleichbar dünn besiedelten Regionen Deutschlands mit intensivster Landnutzung kein Platz. Insofern ist er nicht mit der Serengeti in Afrika oder mit dem weltweit ältesten Nationalpark Yellowstone in den USA vergleichbar. Dennoch ist die Flexibilität und Dehnbarkeit des Begriffs "Nationalpark", gepaart mit der internationalen Strahlkraft der Nationalparkidee, ein Teil der Erfolgsgeschichte, die in den letzten fünf Jahrzehnten auch im deutschen Naturschutz immer mehr Nachahmer gefunden hat. Dabei waren unter Bezug auf die internationalen Beispiele schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem Begriff "Naturschutzpark" Gebiete unter Schutz gestellt worden, etwa im Böhmerwald, in der Lüneburger Heide oder in den "Hohen Tauern" in Österreich.

Die Vorstellungen, die dem Konzept "Nationalpark" Pate standen, unterschieden sich sehr stark: Auf der einen Seite hatte man eine "Tierfreistätte" im Sinn, auf der anderen Seite ging es vornehmlich um den Erhalt eines "Urwaldes". Außerdem spielte die touristische Nutzung unter einem anderen Vorzeichen wie in den Alpen ohne Seilbahnen und Skiabfahrten eine große Bedeutung für die wirtschaftlich schwach entwickelte und abgelegene Region. Das die Gründung des Parks gerade 1970 vollzogen werden konnte, war nicht nur umfangreichen Spendenaufrufen der Naturschützer im Vorfeld des Europäischen Naturschutzjahres zu verdanken, sondern auch dem Wechsel im bayerischen Landwirtschaftsministerium, das mit Hans Eisenmann einen engagierten Parkbefürworter fand. Er brachte den einstimmigen Beschluss zur Errichtung des Nationalparks im Juni 1969 im Bayerischen Landtag auf den Weg. Außerdem waren Bernhard Grzimek, der mit seiner Fernsehsendung "Ein Platz für Tiere" populär wurde, sowie der staatliche Naturschutzbeauftragte für Niederbayern und spätere BUND-Vorsitzende Hubert Weinzierl Verfechter der Idee. Wolfgang Haber verfasste ein Gutachten, in dem er die Verwirklichung eines "Waldnationalparks" im Bayerischen Wald für möglich hielt, und erhielt von Eisenmann den Auftrag für einen Einrichtungsplan. Die ersten Konflikte drehten sich darum, die Holznutzung einzustellen und die Rotwildbestände zu reduzieren. Vom Ministerium wurde nach den Auseinandersetzungen stattdessen der Forstwissenschaftler Ulrich Ammer mit der weiteren Einrichtungsplanung beauftragt, der Habers Zielsetzungen jedoch weitgehend teilte. Das vom langjährigen ersten Leiter des Parks, Hans Bibelriether, entwickelte Motto "Natur Natur sein lassen." wurde umgesetzt und gilt fortan auch für die anderen deutschen Nationalparke als Maxime (Abb. 2, 171). [1] Das bedeutet, dass weder forstwissenschaftlich noch anderweitig vom Menschen eingegriffen wird. Auf die Probe gestellt wurde das Motto, als nach Windbrüchen in den 1980er Jahren und während der Trockenperioden der vergangenen Jahre sich der Borkenkäfer massiv bis in die wertvollsten Baumbestände ausbreitete - weder wurde der Befall bekämpft, noch das ihm zur Nahrung dienenden Totholz beseitigt. Die grünen Baumkronen färbten sich braun - Kritiker befürchteten, dass sich die Bestände nicht verjüngen und eine "Waldwüste" mit sinkendem Grundwasserspiegel und sauren Böden entstehen würde. Weitere Herausforderungen ergeben sich durch den Klimawandel und invasive Arten: Während die auf Gipfelbereiche spezialisierten Arten auszusterben drohen, wandern Arten ein, die es zuvor nicht gegeben hat, wie der Marderhund oder das Drüsige Springkraut. Ulmen und Eschen sterben ab und Hirsche und Rehe werden durch den amerikanischen Leberegel bedroht. Rehe sind außerdem das Hauptbeutetier der wieder im Nationalpark angesiedelten Luchse. Auch ihr Bestand droht dadurch zu sinken.

Diese Herausforderungen spricht der vom Sachgebietsleiter Besuchermanagement und Nationalparkmonitoring Heurich sowie dem Umwelthistoriker Mauch herausgegebene Band an. Das Buch bietet ein Facettenreichtum von Beiträgen zur Geschichte, Politik, Kultur und Ökologie des Nationalparks Bayerischer Wald. Es ist der erste Sammelband zu einem europäischen Nationalpark, der Forschungsperspektiven aus den Sozial-, Geistes- und Naturwissenschaften sowie Erinnerungen von Zeitzeugen vereint. Im ersten Teil beleuchten vier Historiker*innen historische und politische Aspekte aus der Vorgeschichte des Parks, der Zusammenarbeit mit den tschechischen Naturschützern nach dem Fall des Eisernen Vorhanges und der jüngsten Parkentwicklung.

Im zweiten Teil werden kulturelle Perspektiven wie etwa die der heimischen Bevölkerung, der "Waldler", behandelt. Sie lehnte den Park zunächst ab, aber die Mehrheit hat ihn mittlerweile in das eigene Heimatbild aufgenommen. Die Auseinandersetzungen um die Ausbreitung des Borkenkäfers, die "Käferkämpfe" und die Erweiterungsdebatten sowie die Rückkehr von Wildtieren werden ebenso thematisiert wie die ökonomische Bedeutung des Nationalparks für die Region und die Vermarktung im In- und Ausland. Ein weiterer Beitrag beschäftigt sich mit dem Motto "Natur Natur sein lassen".

Im dritten Teil geht es um philosophische Reflexionen: Sowohl um den Begriff des "Anthropozäns" sowie um die naturästhetische und naturethische Dimension der "Wildnis", u.a. der US-amerikanischen "wilderness idea". Außerdem wird in einem Beitrag der Frage nachgegangen, was Schutzgebiete als "Lernorte des Lebens" leisten können: Die Besucher*in soll sich einerseits "als Teil der Natur" spüren, andererseits die Andersheit der Natur erfahren.

Der vierte Teil ist den Rück- und Ausblicken bedeutender Zeitzeugen aus der Anfangszeit und den ersten Jahrzehnten des Nationalparks gewidmet: Sowohl den Einrichtungsplanern Wolfgang Haber und Ulrich Ammer als auch dem ersten Leiter des Nationalparks Hans Bibelriether und dem Zoologen Wolfgang Scherzinger, der u.a. Raufußhühner und Eulen im Nationalpark kartierte.

Die ausführliche Einleitung, die historischen Kapitel und die Zeitzeugenbeiträge bringen es mit sich, dass vieles in dem Band redundant ist - andererseits sind die Gewichtungen der Zeitzeugen mit authentischen Erinnerungen und Erfahrungen aus der Anfangszeit und der späteren Entwicklung eine nicht wegzudenkende Bereicherung, die viele Forschungsaspekte und Fragestellungen erst verständlich macht. Jede*, die* sich über die Nationalparkidee, den "Nationalpark Bayerischer Wald" und das Nationalparkkonzept in Deutschland informieren möchte, sollte sich diesen mit zahlreichen Fotos und Abbildungen illustrierten Band zulegen, der dazu noch erfreulich günstig zu haben ist.


Anmerkung:

[1] Hans Bibelreuther: Natur Natur sein lassen. Die Entstehung des ersten Nationalparks Deutschlands - der Nationalpark Bayerischer Wald, München 2017.

Rezension über:

Marco Heurich / Christof Mauch (Hgg.): Urwald der Bayern. Geschichte, Politik und Natur im Nationalpark Bayerischer Wald, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, 305 S., 23 Farb-, 63 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-36095-8, EUR 27,00

Rezension von:
Anselm Tiggemann
Köln
Empfohlene Zitierweise:
Anselm Tiggemann: Rezension von: Marco Heurich / Christof Mauch (Hgg.): Urwald der Bayern. Geschichte, Politik und Natur im Nationalpark Bayerischer Wald, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 9 [15.09.2021], URL: https://www.sehepunkte.de/2021/09/34535.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.