In Strategien der Einverleibung untersucht Irina Hiebert Grun exemplarisch Arbeiten von fünf zeitgenössischen brasilianischen Künstler*innen im Hinblick auf ihre Auseinandersetzung mit dem Konzept der Antropofagia. Mit diesem Begriff bezieht sie sich auf die Ideen des brasilianischen Philosophen Oswald de Andrade, der in den 1920er Jahren die Praxis des Verzehrs von Menschenfleisch als kulturelle Metapher umwertete. Ausgehend von der Annahme, dass dieses Konzept für die untersuchten Künstler*innen eine "zentrale Bezugsquelle darstellt" (9), zeigt sie, wie es in den von ihr analysierten Arbeiten "als konzeptuell-ästhetische Strategie" mit "gesellschaftskritische[r] und politische[r] Stoßrichtung" in Erscheinung tritt.
In der chronologisch angelegten Studie erläutert Hiebert Grun zunächst ausführlich die europäische Konstruktion des antropophagen "Ureinwohners" Lateinamerikas aus der Zeit der Conquista. Die europäische Vorstellung des indigenen Kannibalen erweist sich als notwendige Strategie der Konquistadoren, die einheimische Bevölkerung als radikal Andere zu stigmatisieren, um den eigenen Herrschaftsanspruch zu legitimieren. Diese vorangestellten Betrachtungen sind wichtig, weil erst auf diese Weise deutlich wird, gegen welche Vorstellungen sich Andrades Antropofagia-Konzept ursprünglich wandte: In einer Art ironischen Geschichtsaneignung wandelt Andrade die den indigenen Volksgruppen zugeschriebene Praxis der Antropophargie in eine Metapher kultureller Aneignung um und wertet sie als identitätsstiftende brasilianische Kulturstrategie schlechthin auf. Im zweiten Kapitel nimmt Hiebert Grun eine in deutscher Sprache bisher noch nicht durchgeführte detailreiche Analyse der beiden zentralen Manifeste Andrades (Manifesto Antropófago, 1928 und Manfiesto da Poesia Pau Brasil, 1924) vor, die das Konzept der Antropofagia vornehmlich definieren. Damit etabliert die Autorin zugleich ihre grundlegende Vorgehensweise, nämlich das gleichzeitige Heranziehen von literarischen, theoretischen und visuellen beziehungsweise plastischen Quellen. Diese Strategie ist zugleich in der Antropofagia selbst angelegt, denn Andrades Manifeste entstanden in engem Bezug zu den künstlerischen Werken des Modernismo, die sein Konzept wiederum aufnahmen und verarbeiteten, wie die Autorin herausstellt.
Bevor sich Hiebert Grun den zeitgenössischen Manifestationen widmet, geht sie zunächst auf die Aneignung und gleichzeitige politische Umwertung der Strategie kultureller Einverleibung während des Tropicalismo in den späten 1960er Jahren in Brasilien ein. Insbesondere die Ikonen der Avantgarde Hélio Oiticica und Lygia Clark bezogen ihr Schaffen auf die kulturkannibalistische Metapher. Im Zentrum ihrer Kritik stand eine zu konstruierende brasilianische Identität, die gegen kulturelle und hegemoniale Einflüsse insbesondere der USA in Stellung gebracht wurde.
Den Hauptteil der Studie von Hiebert Grun machen jedoch die darauffolgenden exemplarischen Werkanalysen der fünf Künstler*innen Adriana Varejão, Cildo Meireles, Anna Maria Maiolino, Ernesto Neto und Ricardo Basbaum aus. Diese unterteilen sich wiederum in eine frühe Phase, die direkt an den Tropicalismo anschließt (Meireles, Varejão und Maiolino) und eine spätere Phase, die bis in die Gegenwart hineinreicht (Neto und Basbaum).
Die Perspektivierung der Werkanalysen auf die Andrade'sche Antropofagia ist besonders im Hinblick auf die Arbeiten Meireles' und Varejãos gelungen. In ihren Arbeiten beschäftigen sich die beiden Künstler*innen explizit mit der Dekonstruktion "eurozentrischer Kategorisierungen" und "kolonial geprägte[r] Stereotype" (112). Während Meireles in direkter Nachfolge zum Tropicalismo operierte und in seinen Arbeiten häufig auch die damals herrschende Militärdiktatur kritisch thematisierte, stellen Varejãos Arbeiten einen direkten Bezug zur Kolonialzeit her, da sich die Künstlerin mit den portugiesischen Azulejos (Kachelmalerei) und der brasilianischen Aneignung barocker Malerei auseinandersetzt.
Etwas weniger überzeugend ist die Werkanalyse der Künstler*innen Anna Maria Maiolino und Ernesto Neto aus der Perspektive der Antropofagia. Hiebert Grun erläutert immer wieder Positionen brasilianischer Kunsthistoriker, die die Arbeiten der beiden Künstler*innen durch diese Linse gelesen haben. Jedoch bleibt die Referenz der Künstler*innen selbst auf die Antropofagia eher vage bzw. ganz aus, sodass es sich als weniger nachvollziehbar erweist, auch bei diesen Arbeiten von der Antropofagia als einer "zentrale[n] Bezugsquelle" (9) zu sprechen. Zwar stellt die Autorin zu Beginn heraus, dass sie einen poststrukturalistischen Interpretationsansatz verfolgt, der die Intention der Künstler*innen als nur einen von vielen Ansätzen behandelt und stattdessen vom Werk selbst ausgeht. Doch bleibt die Subjektivität, die der Werkanalyse stets immanent ist, und somit die Auswahlkriterien der Autorin selbst, nur implizit und unbenannt.
Eine stärkere Einbindung des Kunstdiskurses hätte an dieser Stelle aufschlussreich sein können, auch um die stetige Um- und Neubewertung des Konzepts der Antropofagia kritisch zu hinterfragen. "Die theoretischen Modelle des Postkolonialismus" (16), die Hiebert Grun geschickt verwendet, um die Arbeiten Meireles' und Varejãos zu analysieren, werden von der Autorin auch als "Ausgangspunkt für das Movimento Antropófago" (15) verstanden. Dies ist insofern irritierend, da Andrades Konzept historisch viel früher entstanden ist und deshalb von euro-nordamerikanischen Akademiker*innen auch mehrfach als postkoloniales Konzept avant la lettre eingestuft worden ist. [1] Letzteres kann gerade aus dekolonialer Perspektive gleichwohl auch als epistemische Gewalt gelesen werden, denn es lässt Fragen danach aufkommen, ob brasilianische Kulturkonzepte etwa nur dann im Westen auf Interesse stoßen, wenn sie in die eigene Kosmogonie der kritischen Konzepte passen. Die Autorin erwähnt zwar die XXIV. Biennale von São Paulo 1998 als "wichtigen kunsthistorischen Beitrag zur Herausstellung der Bedeutsamkeit des Movimento Antropófago für die Bildende Kunst" (13), doch bleibt ihre Funktion als diskursherstellender Referenzpunkt für die zeitgenössischen Künstler*innen im Dunkeln. Die Biennale hat maßgeblich dazu beigetragen, das Konzept der Antropofagia zu ahistorisieren und es praktisch fast jeder künstlerischen Praxis als Bezugspunkt zu öffnen. Ein Rückgriff auf die Antropofagia könnte für brasilianische zeitgenössische Künstler*innen daher auch eine strategische Entscheidung sein. Besonders im Falle Ricardo Basbaums, wäre hier eine stärkere Untersuchung dieser Stoßrichtung interessant, da er sowohl als Künstler als auch als Kunsthistoriker und Kritiker in Brasilien in Erscheinung tritt und solcherlei Diskurse daher aktiv mitprägt. Zudem bleibt unerwähnt, dass die Antropofagia in Brasilien selbst stets auf einer Aneignung indigener kultureller Praktiken und Ideen durch weiße Künstler*innen und Theoretiker*innen beruht, sind doch zu keinem Zeitpunkt indigene Künstler*innen an der Herstellung dieser Imagination beteiligt.
Sehr aufschlussreich ist hingegen der kurze Ausblick, den Hiebert Grun am Ende ihrer Monographie präsentiert. Hier nimmt die Autorin Werke europäischer zeitgenössischer Künstler*innen in den Blick, die durch Arbeitsaufenthalte in Brasilien mit der Antropofagia in Kontakt kamen und das Konzept nun ihrerseits zur kritischen Betrachtung heimischer Integrations- und Assimilationsdiskurse verwenden. Hierdurch offenbart sich, dass die Blickrichtungen sich tatsächlich geändert haben.
Anmerkung:
[1] Else Viera: Postcolonialism and the Latin Americas, in: Interventions 1 (1999), Nr. 2, 273-281; 274; Angela Prysthon: Revisitando a antropofagia: os estudios culturais brasileiros nos anos 90, in: Revsita Famecos 9 (2002), Nr. 17, 101-109; 106; Carlos A. Jáuregui: Oswaldo Costa, Antropofagia, and the Cannibal Critique of Colonial Modernity, in: Cuture and History Digital Journal 4 (2015), Nr. 2, 2, verfügbar unter: http://dx.doi.org/10.3989/chdj.2015.017 [25.11.2019].
Irina Hiebert Grun: Strategien der Einverleibung. Die Rezeption der Antropofagia in der zeitgenössischen brasilianischen Kunst, Bielefeld: transcript 2020, 332 S., ISBN 978-3-8376-5030-3, EUR 39,99
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.