Heavy Metal hat einen langen Weg von einem gesellschaftlich marginalisierten und akademisch ignorierten hin zur einem im Feuilleton und den Wissenschaften beachteten Pop-Phänomen zurückgelegt. Von den Anfängen in den sich bereits wandelnden proletarischen Milieus der 1960er und 1970er Jahre, über die diversen moral panics des darauffolgenden Jahrzehnts bis zur Entstehung von Heavy-Metal-Subkulturen in den staatssozialistischen Gesellschaften liefern Musik und Publikum auch durchaus Themen, anhand derer sich wandelnde Konsum- und Medienpraktiken, unterschiedliche Grade gesellschaftlicher Toleranzbereitschaft oder die globale Vernetzung ästhetischer und dann auch politischer Extremisten untersuchen lassen. In den Metal Studies schaffen seit ungefähr 15 Jahren regelmäßige Konferenzen und mittlerweile auch eine eigene Fachzeitschrift eine verknüpfte Fachöffentlichkeit, die allerdings von den Kulturwissenschaften und der Soziologie dominiert wird. [1] Geschichtswissenschaftliche Arbeiten zum Thema stellen also weiterhin ein Desiderat dar. Insofern ist Peter Pichlers Vorhaben, sich den ahistorischen Metal Studies mit einem "historical gaze" (20) zu nähern, durchaus begrüßenswert.
Im Buch des Kulturhistorikers, das in zwei Blöcke gegliedert ist, lassen sich drei Teile ausmachen. Zunächst stellt er in umfangreichen theoretischen Bemerkungen Konzepte vor, an denen sich seine Fallstudien zum Album, zur Tour, zu Identität, zu "Europeanness" und zu "Sonic Emplotment" orientieren sollen (40). Diese Konzepte helfen, die Geschichte von Heavy Metal und die Kulturgeschichte Europas respektive die Geschichte der europäischen Integration miteinander zu verbinden, indem er die Modi der Konstruktion einer europäischen Metal-Identität untersucht. Auf seine konzeptionellen Überlegungen folgt eine Reihe von Fallstudien, an denen er diese exemplifiziert. Für die realhistorischen Begebenheiten interessiert sich Pichler dabei weniger als für Erinnerung, Erzählungen und Rezeption der Akteurinnen und Akteure. Den Abschluss bilden zwei "ego-historiographical" Essays (148), in denen der Autor sich in Erlebnisberichten selbst zum Untersuchungsobjekt macht.
Einen Anschluss an die pophistorische Forschung leistet Pichler nicht und arbeitet sich stattdessen an den meist soziologischen Standardwerken der Metal Studies ab. Forscher wie Detlef Siegried, Kaspar Maase oder etwa Klaus Nathaus, die die Erforschung populärkultureller Phänomene mit den empirischen Methoden der Geschichtswissenschaft fruchtbar gemacht haben, sucht man vergeblich im Literaturverzeichnis. Inwiefern Pichlers Befunde allgemeine popmusikalische Entwicklungen abbilden, bleibt auch deswegen vielfach unklar. Seine theoretischen Gerüste bleiben meist zu weit von der Empirie entfernt, um nachhaltig zu überzeugen. Das gilt auch, weil die europäisch-transnationale Perspektive eher gezwungen wirkt und weil doch gerade die nationalen Reaktionen auf ein grenzübergreifendes, aber klar umreißbares Phänomen Unterschiede und Gleichartigkeiten in Gesellschaften erklären könnten. Wenn er an einer Stelle aber zeigt, wie kritisch 1982 die Wiener Arbeiter-Zeitung die später fast religiös verehrte Band Motörhead gegenüber österreichischen Lokalbands rezensierte, deutet er zumindest an, welches Potenzial eine Analyse mit einem feineren Raster hätte entfalten können. Im österreichischen Kontext hätte es sich angeboten, Fragen nach dem Zusammenhang von Arbeiterschaft, Strukturwandel, Heavy Metal und den katholischen (Gegen-)Reaktionen auf diese symbolstarke Kultur zu untersuchen und dann etwa mit Polen zu vergleichen.
"Ad Fontes", proklamiert Pichler zu Beginn eines Kapitels zu einer (Ostdeutschland-)Tour der bis heute extrem einflussreichen Black-Metal-Band Mayhem (120), das hier beispielhaft genauer untersucht werden soll. Insbesondere die Aufnahme eines Konzerts in Leipzig 1990 sollte in den folgenden Jahren stilprägend wirken und als Stoff für Mythenbildung herhalten. Diesen szeneinternen Memorialisierungprozess möchte Pichler untersuchen, verengt ihn aber unnötigerweise auf eine sehr kleine Anzahl von "crucial historical source texts" (120). Ohne weitere Erläuterung bezieht er sich ausschließlich auf zwei leicht zu beziehende und daher bereits sehr häufig bearbeitete Bände: eine norwegische Fanzine-Anthologie und das Buch "Lords of Chaos". Durch diese Vorauswahl, die zentrale Szene-Magazine und zahlreiche Fanzines ausschließt, entsteht zwangsläufig ein simplifiziertes und merkwürdig ortloses Bild, das den Status von "Mayhem - Live in Leipzig" überbetont.
Dies hat Folgen für die Analyse: So werden damit etwa die Beiträge osteuropäischer Bands zur globalen Marke Black Metal ausgelassen; und das, obwohl Europäisierungsprozesse ja im Zentrum der Studie stehen. Ein größerer Quellenkorpus hätte es ermöglicht, eine sich auch bereits vor 1990 vernetzende europäische Subkultur in ihren nationalen Kontexten zu untersuchen. Warum außerdem ausgerechnet "Lords of Chaos" von Michael Moynihan und Didrik Søderlind eine der zwei zentralen "Quellen" für den norwegischen Black Metal sein soll, erschließt sich nicht. Zwar erschien das Buch erstmals 1998 [2] und damit relativ zeitnah, doch sind die beiden Autoren Szeneexterne. Mit Moynihan muss einer der beiden Autoren außerdem als völkisch-rechtsradikaler Akteur bezeichnet werden. [3] Das Buch hat entsprechend einen klar neurechten Spin und spricht etwa von einem wiedererwachenden norwegischen Archetypus, der sich gegen die "Besatzung" der "semitischen" Religion durch Kirchenbrandstiftungen wehrt. [4]
Ärgerlicherweise finden sich im Buch zudem einige sprachliche Unsauberkeiten, die nicht nur das Lesevergnügen schmälern, sondern auch zu inhaltlicher Unschärfe beitragen. Analysierte journalistische Magazin-Interviews bezeichnet Pichler als "oral history" (111). Die stark theoriebezogene Sprache produziert außerdem einige Stilblüten in bestenfalls holprigem Englisch wie: "[We] take the position 1986 itself was a contingent and unique historical year" (113; auch 42). Hier wäre ein besseres muttersprachliches Lektorat nötig gewesen.
Pichler hat sich in ein zeithistorisch noch wenig bearbeitetes Feld vorgewagt und dafür eigene Konzepte entwickelt. Doch argumentiert er für Historikerinnen und Historiker zu weit von der Empirie entfernt und beachtet die relevante Forschung zu wenig. In den "Metal Studies" ist die von ihm angekündigte historiographische Intervention zwar notwendig, doch müsste diese die spezifischen Stärken der Geschichtswissenschaften tatsächlich umsetzen, statt sie nur aufzuzählen. Aus den genannten Gründen befürchtet der Rezensent, dass Pichlers Buch weder in der Zeitgeschichte noch in den Metal Studies Begeisterung auslösen wird.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Sarah Chaker: Metal goes Academia. Zum Phänomen der "Metal Studies", 19.02.2013; www.terz.cc/magazin_z_294_id_305.html [23.03.2021].
[2] Vgl. Michael Moynihan / Didrik Søderlind: Lords of Chaos: The Bloody Rise of the Satanic Metal Underground, Venice, CA 1998.
[3] Vgl. Thor Wanzek: [Interview mit] Michael Moynihan, in: Deftone 1/1998, 80-83.
[4] Florian Heesch / Reinhard Kopansiki: Klang - Text - Bild: Intermediale Aspekte der Black Metal-Forschung, in: Sarah Chaker / Jakob Schermann / Nikolaus Urbanek (Hgg.): Analyzing Black Metal - Transdisziplinäre Annäherungen an ein düsteres Phänomen der Musikkultur, Bielefeld 2017, 21-48, hier 28 f.
Anmerkung des Rezensenten:
In der ursprünglichen Fassung dieses Textes hieß es fälschlich, Pichler würde die zweite Auflage von 'Lords of Chaos' inkorrekt zitieren. Auf Hinweis des Autors wurde dies nun geändert. Weiterhin fand sich eine missverständliche Formulierung, die als Behauptung des Rezensenten gelesen werden konnte, Pichler würde die Magazin-Interviews als selbstgeführt ausweisen. Dies war so nicht gemeint und wurde ebenfalls korrigiert. Außerdem wurde eine ungenaue Aussage zur formalen Struktur der Studie angepasst. Der Rezensent bittet die Ungenauigkeiten zu entschuldigen.
Nikolai Okunew, im April 2022
Peter Pichler: Metal Music. Sonic Knowledge, and the Cultural Ear in Europe since 1970 (= Studien zur Geschichte der europäischen Integration; Bd. 34), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020, 184 S., 5 Farb-, 3 s/w-Abb., 9 Tbl., ISBN 978-3-515-12787-5, EUR 42,00
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