Die Historisierung der Deindustrialisierung erfreut sich in den Geschichtswissenschaften großer Beliebtheit - auch wenn nicht klar ist, ob sie bereits als ein abgeschlossenes Kapitel zu behandeln ist. Mit "Jenseits von Kohle und Stahl" lieferte Lutz Raphael 2019 die erste deutschsprachige "Gesellschaftsgeschichte nach dem Boom". Brüche in den Lebensläufen, "der Abschied der Industriearbeiter von der politischen Bühne", die Krise der Arbeiterkulturen: In seinem Buch versucht sich Raphael an einem Rundumschlag, in dem kulturhistorische Perspektiven auch aufgrund des traditionellen Methodenkanons der Sozialgeschichte, wenn überhaupt, nur eine Nebenrolle spielen. [1] Dabei ist in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von empirischen Arbeiten erschienen, die sich der Frage widmen, wie der Wandel der industriellen in eine (zumindest regional) postindustrielle Gesellschaft von Formen der Sinnstiftung begleitet wurde.
Giacomo Bottà folgt der Annahme, dass jene Selbst- und Fremdzuschreibungen immer auch das Resultat eines imagineerings sind, und nimmt in seiner Studie die Musikkultur in Industriestädten unter die Lupe, die vom Strukturwandel betroffen waren. Für Bottà war es kein Zufall, dass viele Musikgenres ab den 1970er Jahren mit dem Niedergang der Schwerindustrien verbunden waren. Post-Punk, New Wave und Krautrock spiegelten und produzierten die Stimmung der sozialen Kälte, die über die einstigen ökonomischen Zentren hinwegfegte. Das Farbspektrum der Gegenwart verschob sich vom Colour-TV der 1960er Jahre hin zu Grautönen in der Presse, die den städtischen Zerfall und die sozialen Nöte versinnbildlichten. Den Soundtrack dazu lieferten Pioniere der elektronischen Musik wie Kraftwerk oder Bands wie Joy Division, die mit ihrer lyrischen und musikalischen Melancholie das Stimmungsbild in Manchester mitprägten.
Bottàs spannendes Buch zeigt nicht nur, wie Bands Industrialisierung und Deindustrialisierung ästhetisch verhandelten. Der Autor beschreibt auch, wie die wirtschaftliche Rezession für den Kulturbetrieb spürbare Einschnitte, aber auch neue Freiheiten bereithielt. Er skizziert, wie Freiräume für Underground-Musikkultur entstanden und welchen Beitrag die Musikindustrie zur Schaffung postindustrieller Selbstbilder und Stadtwirtschaften beisteuerte. Dabei argumentiert er, dass Popmusik ein wirkmächtiges Instrument war, um die Krise der Industriestädte in den späten 1970er Jahren und den Aufbruch in deren postindustrielle Zukunft im Sinne eines Storytellings zu begleiten.
Bottà untersucht das Wechselspiel zwischen Popmusik und Deindustrialisierung am Beispiel von vier Städten, deren Auswahl er mit dem nachhaltigen Einfluss der untersuchten Musikerinnen und Musiker auf das regionale Selbstbild begründet. Eingangs rekapituliert er den Typus Industriestadt und führt in die geschichts- und sozialwissenschaftliche Debatte darüber ein.
Mit Bezug auf den Nationalökonomen Joseph Schumpeter attestiert Bottà wirtschaftlichen Krisen eine "creative destruction" (29), an die auch die Musikkultur anknüpfte. Er zeigt auf, wie sich die Krise auf Träume, Aspirationen, Kämpfe, Erwartungen, Weltanschauung und Gefühlslagen auswirkte. Dafür stellt Bottà eingangs seine Idee der "industrial crisis as atmosphere" (32) vor und gibt Einblicke in Ansätze, in denen Spezifika einer Vergesellschaftung in Industriestädten verhandelt werden. Es folgt eine Abhandlung über die Genealogie der Forschung zu Industriestadtmusik, in der die Auswirkungen der materiellen Verfasstheit und Agency von Städten auf das Musikmachen im Vordergrund stehen. Von diesem Forschungsfeld grenzt sich Bottà jedoch ab, indem er den Kulturaustausch zwischen Musikerinnen und Musikern, allen voran zwischen den Pionieren der elektronischen Musik und Schwarzen Künstlerinnen und Künstlern in den USA nicht als Einbahnstraße, sondern als einen heterogenen, kosmopolitischen Dialog betrachtet.
In den empirischen Abschnitten spürt Bottà Wendepunkte auf, bei denen sich eine neue kulturelle Attitüde im Umgang mit sich wandelnden Städten zeigte. Für Manchester nennt er die erste Show der wohl bekanntesten englischen Punkband Sex Pistols. Der empirische Teil konzentriert sich darauf, die Verzahnung von Musikkultur und Industriestadt sichtbar zu machen, die nicht nur die Klangkultur prägte, sondern sich auch durch die Rückwirkung von Industriedesign auf die künstlerische Selbstrepräsentation bemerkbar machte.
Auch untersucht Bottà, wie Musik auf Lesarten der Stadt zurückwirkte, und bringt für die von ihm untersuchten Städte Manchester, Düsseldorf, Turin und Tampere eine Vielzahl von Beispielen. Wie explizit die Rekurse auf die Lebenswelt Industriestadt waren, zeigt die Solinger Band S.Y.P.H., die sich auf ihrer LP Zurück zum Beton mit Themen des urbanen Lebens beschäftigte. Mit "An das Industriemädchen" grenzte sich die Band zum Beispiel von der Entfremdung der Achtundsechziger vom Industrieproletariat ab und besang stattdessen eine urbane, vom Maschinenklang geprägte industrielle Lebensrealität, etwa in den Zeilen: "Beim Elektrizitätswerk haben wir uns geliebt / im Hintergrund hat der schnelle Brüter gepiept".
Während Manchester und Düsseldorf bereits gut erforscht sind, [2] erschließt Bottà mit Turin und Tampere Neuland. Immer wieder geht der in Helsinki lehrende und komparativ arbeitende Urbanist empirisch über eine musikwissenschaftliche Analyse hinaus und widmet sich städtischen Orten der Musikszene oder der Rolle der Nachtökonomie in der krisenhaften lokalen Wirtschaft. Dabei blickt er auf räumliche Kerneigenschaften der Industriestadt und zeigt, wie diese von der örtlichen Musikszene unterminiert, aufgegriffen oder politisiert wurden. Während in Düsseldorf zum Beispiel die Punkszene in enger Verbindung zur Kunsthochschule stand, war der Punk in Turin mit der linksradikalen Bewegung Movimento del 77 verwoben. Insgesamt bleiben vergleichende und verflechtungsgeschichtliche Perspektiven jedoch unterrepräsentiert. In Teilen wirken die Herangehensweisen im empirischen Teil eklektisch; Unterschiede und Gemeinsamkeiten hätten stärker benannt werden können. Auch wäre es vorteilhafter gewesen, den Hauptteil nicht nach einzelnen Städten, sondern thematisch zu gliedern. Mit seinem Aufbau vermittelt Bottà den Eindruck, es handele sich bei seinen Beispielen um lokal spezifische, nicht verallgemeinerbare Entwicklungslinien.
Das Buch endet mit der Frage, wieso es uns logisch erscheint, Joy Division auf den Kopfhörern zu hören, während deindustrialisierte Orte besucht werden, oder zu Techno in verlassenen Fabrikhallen zu tanzen. Heute löst die darin enthaltene ästhetische Verarbeitung sozioökonomischen und kulturellen Wandels nostalgische Gefühle aus: Musik wurde in der Funktion des Erinnerungsspeichers in den vergangenen Jahrzehnten selbst zu einem kulturellen Katalysator und Gegenstand der Heritage Industry.
Giacomo Bottà ist ein sehr lesenswertes Buch gelungen, das nicht ausschließlich für Expertinnen und Experten der Popgeschichte geschrieben wurde und mit seiner Orientierung an sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Theorien auch für die Geschichtsschreibung vielseitig nutzbar ist. Auch wenn viele seiner Interpretationen nicht durchweg neu sind, so hat er dennoch ein international weit ausgreifendes Standardwerk zur Kulturgeschichte der Deindustrialisierung vorgelegt.
Anmerkungen:
[1] Lutz Raphael: Jenseits von Kohle und Stahl: Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019, 201.
[2] Vgl. z. B. Katie Milestone: Madchester, in: Brett Lashua et al. (eds.): Sounds and the City, Vol. 2, Cham 2019, 303-319; Sean Albiez / David Pattie (eds.): Kraftwerk. Music Non-Stop, New York / London 2011, und Johannes Springer / Christian Steinbrink / Christian Werthschulte (Hgg.): Echt! Pop-Protokolle aus dem Ruhrgebiet, Duisburg 2008.
Giacomo Bottà: Deindustrialisation and Popular Music. Punk and Post-Punk in Manchester, Düsseldorf, Torino and Tampere, Lanham: Rowman & Littlefield 2020, VIII + 213 S., ISBN 978-1-78660-737-9, GBP 104,00
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