sehepunkte 22 (2022), Nr. 4

Thomas Hellmuth / Christine Ottner-Diesenberger / Alexander Preisinger (Hgg.): Was heißt subjektorientierte Geschichtsdidaktik?

Subjektorientierung hat in den letzten Jahren im geschichtsdidaktischen Diskurs in Österreich an Aufmerksamkeit gewonnen. [1] Dies schlägt sich auch bildungspolitisch nieder: In Österreich ist Subjektorientierung zu einem didaktischen Prinzip historisch-politischen Lernens avanciert. [2] Der Berichtsband über die Ergebnisse der Jahrestagung (2018) der Gesellschaft für Geschichtsdidaktik Österreich (GDÖ), herausgegeben von Thomas Hellmuth, Christine Ottner-Diesenberger und Alexander Preisinger knüpft hier an und vermisst das Feld der "subjektorientierten Geschichtsdidaktik" auf theoretischer, empirischer und pragmatischer Ebene. Folgt man den Perspektiven der Herausgeber*innen, ist es das Ziel des Sammelbandes, auf Basis des Prinzips der Subjektorientierung theoretisch "eingefahrene" (12) geschichtsdidaktisch-theoretische Debatten beispielsweise zur Kompetenzorientierung (9) neu anzustoßen. Neben einer Einführung durch die Herausgeber*innen (5-12) gliedert sich der Band in die Dimensionen Theorie, Empirie, Pragmatik und umfasst insgesamt 12 Beiträge. Diese werden im Folgenden kurz vorgestellt sowie ein Beitrag aus jeder Dimension exemplarisch näher betrachtet, um die vielfältigen Zugänge des Bandes zu verdeutlichen.

Die "theoretischen Reflexionen" (13-43) umfassen drei Beiträge. So gibt Johannes Meyer-Hamme einen Überblick über Grundpositionen der Subjektorientierung und bearbeitet dabei Dilemmata historischen Lernens. Thomas Hellmuth skizziert in seinem Beitrag eine "Kritisch[e] Geschichtsdidaktik", indem er eine auf der Lebenswelttheorie fußende Subjektorientierung mit Diskursanalyse verzahnt und anhand eines Praxisbeispiels konkretisiert. Ein weiterer Beitrag Hellmuths gemeinsam mit Christine Ottner-Diesenberger beschäftigt sich mit einer "Phänomenologischen Geschichtsdidaktik" und wählt dabei den Weg der Annäherung über digitale Medien und digitales Lernen.

An dieser Stelle wird Hellmuths Beitrag zur "Kritischen Geschichtsdidaktik" (27-42) näher beleuchtet. Er erläutert einen Ansatz, der auf dem Grundgedanken fußt, "die Macht von Erzählungen auf den Einzelnen zu dekonstruieren und die Fähigkeit zu fördern, Gegenerzählungen zu konstruieren sowie gesellschaftliche Zusammenhänge zu durchschauen, um sich in der eigenen Lebenswelt zurechtzufinden und daran zu partizipieren" (27). Er untermauert diesen Zugriff mit der Lebenswelttheorie nach Alfred Schütz und der Foucaultschen Diskursanalyse. 'Subjektorientierung' wird in diesem Beitrag somit um einen weiteren theoretisch-methodischen Zugang erweitert. Dessen Praxistauglichkeit wird anschließend durch einen unterrichtspragmatischen Vorschlag verdeutlicht sowie das Potential komplexer Theorien für den Geschichtsunterricht betont.

Im zweiten Teil "Subjektorientierung: konkret" werden verschiedene Teilbereiche des historischen Lernens unter pragmatischen Gesichtspunkten mit subjektorientierten Zugängen ausgelotet (58-122). Isabella Svacina-Schild stellt ein Unterrichtsplanungsmodell vor, welches das konzeptuelle Lernen mit Begriffen aus der 'Neuen Kulturgeschichte' sowie das historische Erzählen berücksichtigt. Johannes Mattes setzt sich mit dem Konzept einer historischen Lesekompetenz auseinander und legt dabei den Schwerpunkt auf den wechselseitigen Einfluss von lesendem Subjekt und Text.

Sebastian Barsch (58-73) setzt sich mit den Potentialen von Objekten als Sachquellen für das historische Lernen auseinander. Ein besonderer Blick soll hier auf dessen Beitrag geworfen werden. Auf Basis der Theorie des 'New Materialism' unter Anwendung der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) von Bruno Latour entwickelt er eine "erneuerte Didaktik der Objekte" (68). Barsch schlägt die Brücke zur Subjektorientierung, indem er argumentiert, dass hier Lernende in "den Mittelpunkt des Lernprozesses gestellt" (69) und Objekte in der Interaktion nicht mehr nur funktional als "Anschauungsmaterial" eingesetzt würden (69). Vielmehr würden diese und die ihnen zugeschriebenen Bedeutungen im diachronen Vergleich wie in der Gegenwart selbst Gegenstand historischen Lernens. Als pragmatische Konsequenz folgert er, dass bei der Konzeption von Lernprozessen subjektive Voraussetzungen berücksichtigt werden müssten, um diese anschließend fachlich weiterentwickeln zu können (69). Diese allgemeingültige pädagogische Synthese konkretisiert Barsch in einigen Praxisbeispielen, welche die Potentiale seines Ansatzes gut verdeutlichen.

Im dritten Teil werden "empirische Untersuchungen" und Ergebnisse, die die Probleme der Subjektorientierung aus Lehrer*innen- und Schüler*innenperspektive thematisieren, vorgestellt (123-199). Hier werden in den Beiträgen von Thomas Stornig der Stellenwert von Subjektorientierung bei Politiklehrpersonen und von Andrea Brait die Perspektiven von Lehrkräften auf die jüngste österreichische Lehrplanreform erhoben. Sabine Hoffmann-Reiter untersucht gemeinsam mit Philipp Mittnik individuelle Konzepte zum Nationalsozialismus von Schüler*innen am Ende ihrer Schulzeit.

Der Beitrag von Andrea Kronberger nimmt Zeitvorstellungen von Schüler*innen in den Blick (153-183) und soll für die Dimension der Empirie genauer betrachtet werden. Die ihrem Beitrag zugrundeliegende These lautet, dass österreichische Schüler*innen anhand des neu strukturierten österreichischen Lehrplans ein chronologisches Verständnis aufbauen können (154). Diese These untersucht sie anhand einer qualitativ angelegten Erhebung, in welcher zwei parallel unterrichtete Klassen (n=52) zwei Schreibaufgaben bearbeitet haben. Die sehr offen angelegten Aufgaben forderten die Schüler*innen auf, eigenständige historische Narrationen zu verfassen. Diese Schreibprodukte wurden mittels einer themenzentrierten Inhaltsanalyse ausgewertet. Dabei zeigte sich, dass ein Großteil der untersuchten Schüler*innen ein grundsätzliches Verständnis von Chronologie entwickeln konnte (172). An diese Gesamtauswertung schließt Kronberger eine Einzelfallanalyse zweier Schüler*innennarrationen "im Sinne der Subjektorientierung" (172) an, in welcher sie die narrative Konstruktion von Chronologie und Zeit exemplarisch analysiert. In der Einzelfallanalyse sieht sie viel Potential, "denn hier offenbar[e] sich das Denken und Selbstverständnis der jungen Generation" (183). Eine Rückbindung an das Prinzip der Subjektorientierung bleibt hier - wie auch in anderen Beiträgen - aus. Es lassen sich dennoch gerade an den Beispielen einige interessante Einsichten in die narrative Konstruktion von Zeitlichkeit in Schüler*innentexten gewinnen.

Insgesamt wird dieser Tagungsband seinem Anspruch gerecht, die Vielfältigkeit der Zugänge zu "subjektorientierter Geschichtsdidaktik" zu zeigen und damit zugleich den Diskurs abseits der traditionellen theoretischen Denkweisen der Geschichtsdidaktik anzuregen. Dennoch haben die Herausgeber*innen selbst den eigentlichen Kritikpunkt schon vorweggenommen (12): Eine gemeinsame konzeptuelle Basis der Beiträge lässt sich nicht erkennen. Allerdings könnte anhand des gewählten Titels leser*innenseitig durchaus eine Konzeptschärfung erwartet werden. Hier stellt sich sicherlich die Frage, ob auf Ebene der Einleitung und der Einzelbeiträge Potentiale für eine Systematisierung des Forschungsfeldes verschenkt worden sind. Gehört dies sicherlich zu den strukturellen Schwächen vieler Sammelbände, bleibt der vorliegende Band mit seinen verschiedenen Themen und Zugängen zu historischem Lernen ein spannender Beitrag, der weitere Forschungen und Diskussionen zum Prinzip der Subjektorientierung anregen kann.


Anmerkungen:

[1] Davon zeugen einschlägige Publikationen der letzten Jahre: Heinrich Ammerer u.a. (Hgg.): Subjektorientierte Geschichtsdidaktik, Schwalbach / Ts. 2015; Thomas Hellmuth / Christoph Kühberger (Hgg.): Geschichtsdidaktik aus subjektorientierter Perspektive, Wien 2013; Christoph Kühberger: Subjektorientierung: Can subaltern pupil think historically? In: Public History Weekly 2 (2014) 16; Christoph Kühberger / Robert Schneider: Subjektorientierung, in: Sebastian Barsch u.a. (Hgg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Inklusive Geschichtsdidaktik, Frankfurt am Main 2020, 27-36.

[2] Thomas Hellmuth / Christoph Kühberger: Kommentar zum Lehrplan der Neuen Mittelschule und der AHS-Unterstufe "Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung" (2016), Wien 2016, https://www.politik-lernen.at/dl/NqssJKJKonmomJqx4OJK/GSKPB_Sek_I_2016_Kommentar_zum_Lehrplan_Stand_26_09_2016_pdf (zuletzt aufgerufen am 22.02.2022).

Rezension über:

Thomas Hellmuth / Christine Ottner-Diesenberger / Alexander Preisinger (Hgg.): Was heißt subjektorientierte Geschichtsdidaktik? Beiträge zur Theorie, Empirie und Pragmatik (= Reihe der Gesellschaft für Geschichtsdidaktik Österreich; Bd. 1), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2021, 200 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-7344-1271-4, EUR 29,90

Rezension von:
Johanna Glandorf
Institut für Didaktik der Geschichte, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Empfohlene Zitierweise:
Johanna Glandorf: Rezension von: Thomas Hellmuth / Christine Ottner-Diesenberger / Alexander Preisinger (Hgg.): Was heißt subjektorientierte Geschichtsdidaktik? Beiträge zur Theorie, Empirie und Pragmatik, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 4 [15.04.2022], URL: https://www.sehepunkte.de/2022/04/36457.html


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