Eine Kritik - klar und unklar zugleich: "Wir haben eine Zeitenwende, aber Christian Lindner hat keine inhaltliche Neujustierung vorgenommen. Die FDP bleibt bei ihren neoliberalen Dogmen." [1] Prominent platziert auf ihrer Titelseite bediente sich die Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) Anfang Juli 2022 in einer auf eine Reportage verweisenden Kurzmeldung dieses Zitats. Es stammt von Jessica Rosenthal, der Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD (Jusos). Völlig klar an ihrer Kritik sind auch ohne jede weitere Erklärung die Adressaten. Auffallend unklar bleibt hingegen auch im kontextualisierenden Rahmen der FAZ-Reportage der inhaltliche Kern Rosenthals Anschuldigung - und dass gerade wegen seiner Benennung als "neoliberal".
Die geschilderte politische Kritik exemplifiziert nicht nur die vom Politikwissenschaftler Thomas Biebricher in seiner Habilitation als Aufhänger genutzte These, wonach Neoliberalismus zwar in aller Munde sei, seine Implikationen allerdings "gleichermaßen unklar wie umstritten" wären (7). Darüber hinaus illustriert es einen merkwürdigen Umstand, auf den Biebricher in seiner zuerst 2018 unter dem Titel "The Political Theory of Neoliberalism" publizierten Qualifikationsschrift kurz darauf zu sprechen kommt: Der Begriff des Neoliberalismus und die Diskussion, was darunter verstanden werden könnte, scheint vor allem eine Angelegenheit seiner Kritiker zu sein, während es "heute schlicht keine bekennenden Neoliberalen mehr gibt" (7). Biebricher jedoch, der besonders in diesem Teil seiner Studie auf sein schon 2012 erschienenes Buch "Neoliberalismus zur Einführung" zurückgreift, teilt diesen Eindruck ausdrücklich nicht. [2] Der Neoliberalismus ist für ihn "mehr als eine chimärische Ausgeburt der übersteigerten Phantasie seiner Kritiker" und deshalb auch mehr als ein bloßer politischer Kampfbegriff (8).
Sich einem die Performanz des diskursiven Feldes betonenden "konstruktivistischen Institutionalismus" (282) zurechnend, appelliert Biebricher vielmehr, den Neoliberalismus als Schule des Denkens ernst zu nehmen und in ihm eine genuin politische Theorie zu erkennen (209). Diese "auf interne Inkonsistenzen sowie Spannungen" hin abzuklopfen, ihre Heterogenität offenzulegen und sie anhand ihrer eigenen Ansprüche und Maßstäbe zu prüfen, erlaube eine "immanente Kritik" (19) des neoliberalen Denkens. Genau aus diesem Grund - und anders als der Titel des Buches vielleicht vermuten ließe - nimmt Biebricher eine methodische Zweiteilung vor, die seine Untersuchung formal wie inhaltlich strukturiert: Auf die ideengeschichtliche Rekonstruktion des Neoliberalismus als intellektuelles Politprojekt folgt die Fokussierung auf konkrete neoliberale Initiativen im empirischen Kontext der Europäischen Union (EU). Daran schließt sich ein kurzer Epilog zu den neuesten Entwicklungen seit der Corona-Pandemie an. Für seine beiden Teile unterzieht Biebricher die Werke unterschiedlicher neoliberaler Denker einer beeindruckend weitreichenden Analyse. Dazu gehören zum einen die deutschen Ordoliberalen Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow; zum anderen die angelsächsischen, respektive angelsächsisch geprägten Autoren Friedrich August Hayek, Milton Friedman und James M. Buchanan. Die Auswahl des Gros der genannten Denker ist selbsterklärend und logisch. Dennoch wären womöglich spezifische Kriterien verbunden mit einer kursorischen Einordnung sinnvoll gewesen. So muss beispielsweise offenbleiben, warum etwa die ordoliberalen Werke Rüstows und Röpkes Beachtung finden, die von Franz Böhm oder Leonhard Miksch aber nicht.
Als hilf- und lehrreich erweist sich die konzise geschilderte Genese des Neoliberalismus am Beginn des ersten Teils. Einleuchtend verweist Biebricher hier darauf, dass es in diesem Zusammenhang sowohl in narrativer als auch in metaphorischer Hinsicht trügerisch sei von einer Geburt zu sprechen. Es gäbe schlicht keinen singulären Ursprung mit entsprechendem Gründungsereignis, -text oder -datum. Schon eher existierte ein Entstehungsprozess dem eine Modernisierungslogik inhärent war, die sich auf die (wahrgenommene) Krise des Liberalismus bezog. Sie speiste sich aus den sozioökonomischen Erfahrungen beider Weltkriege, der Weltwirtschaftskrise im Verlauf der 1930er-Jahre und dem Erstarken des bolschewistischen Kommunismus. Der Befund eines Prozesses ist vor allem auch deshalb relevant, erklärt er doch die diversen Variationen, die das neoliberale Denken schon in dieser Frühphase seiner Existenz je nach Bezugspunkt annehmen konnte.
Ausgehend von diesem Befund lenkt Biebricher seinen Blick auf die Diskurse neoliberalen Denkens zu Staat, Demokratie, Wissenschaft und Politik. Sich eng an seinen Quellen abarbeitend, gelingt es ihm anschaulich wie überzeugend die theoretischen Widersprüchlichkeiten des Neoliberalismus herauszustellen. Ein besonders plastisches Beispiel dafür ist die Frage nach der Rolle, "die eine wie auch immer verstandene Wissenschaft im Verhältnis zur Politik spielen sollte" (188). Im Kern dreht sie sich darum, ob eine wissenschaftliche Politikberatung zulässig sei. Die analysierten neoliberalen Theoretiker entwickelten hier eine ganze Bandbreite an möglichen Antworten (und Verhaltensweisen), die teilweise sogar diametral verschieden waren. Während Buchanan eine wissenschaftliche Politikberatung rundheraus ablehnte, traf und beriet Hayek den chilenischen Diktator Augusto Pinochet und schrieb regelmäßig Briefe an die damals amtierende Premierministerin des Vereinigten Königreichs, Margaret Thatcher. Freilich sahen sich beide mit demselben neoliberalen Grundkonflikt konfrontiert: Freies, rationales Handeln der (Markt-)Akteure versus verzerrende Einflussnahme einer wissenschaftlichen Weltanschauung.
Der zweite, kürzere, und meinungsstärkere Teil des Bandes konzentriert sich auf die EU sowie die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), die für Biebricher "das bei weitem avancierteste Labor zur Entwicklung neuer neoliberaler politischer Formen darstellen" (9). Anhand der globalen Finanzkrise ab 2007, die sich in der Folge zu einer europäischen Staatsschuldenkrise entwickelte, spürt er den theoretisch-ideologischen Mechanismen nach, die im Hintergrund den politischen Umgang der EU mit der Krise prägten. Biebricher vertritt dabei die Ansicht, "dass die Eurozone in ihrer aktuellen institutionellen Ausgestaltung den politischen Vorstellungen des Ordoliberalismus [...] entspricht" (10, Hervorh. i. Orig.). Daraus folgert er die Integration der EU vollziehe sich als "Ordoliberalisierung Europas" (280). Denn zunehmend übernähme die EU Funktionen, "die Eucken und die Ordoliberalen für den Staat im Umgang mit Unternehmen, Gewerkschaften etc. vorgesehen hatten" (291). Zudem habe die Wettbewerbsfähigkeit "oberste Priorität als Ziel aller Reformen" (10). Unterbelichtet bleiben da die zahlreichen gegenläufigen Entwicklungen und Tendenzen in der Geschichte der europäischen Integration, wie sie etwa Laurent Warlouzet für zahlreiche Politikfelder zwischen der ersten Ölpreiskrise 1973 und der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 beschrieben hat. [3]
Und auch wenn Biebricher gerade am Ende im Hinblick auf die "Politik der Austerität" (240) und das "ESM-Troika-Regime" (253) zu einseitig aus der Perspektive der Schuldnerstaaten heraus zur Skandalisierung neigt, so bleibt nichtsdestoweniger festzuhalten: Sein Buch bietet eine fundierte und kritische Analyse neoliberalen Denkens und neoliberaler Praxis, die durch gute Lesbarkeit besticht.
Anmerkungen:
[1] Juso-Chefin: FDP bleibt bei neoliberalen Dogmen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.07.2022, Nr. 152/27 R1, 1.
[2] Mittlerweile bereits in einer dritten, überarbeiteten Auflage erschienen: Thomas Biebricher: Neoliberalismus zur Einführung, Hamburg 2018; vergleiche auch: Thomas Biebricher / Ralf Ptak: Soziale Marktwirtschaft und Ordoliberalismus zur Einführung, Hamburg 2020.
[3] Siehe Laurent Warlouzet: Governing Europe in a Globalizing World. Neoliberalism and its Alternatives following the 1973 Oil Crisis, New York 2018. Zudem setzt sich Biebricher erstaunlicherweise nicht mit dem noch immer bedeutenden Werk David J. Gerbers auseinander, in dem dieser sich mit den Konzeptionen der EU-Wettbewerbsordnung und dem Einfluss des Ordoliberalismus beschäftigt, oder mit der dessen Thesen relativierenden Forschung. Siehe hierzu: Kiran Klaus Patel / Heike Schweitzer: Introduction, in: The Historical Foundation of EU Competition Law, hg. von ders., S. 1-18, Oxford 2013.
Thomas Biebricher: Die politische Theorie des Neoliberalismus (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 2326), Berlin: Suhrkamp 2021, 345 S., ISBN 978-3-518-29926-5, EUR 22,00
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