sehepunkte 23 (2023), Nr. 1

Heinz Högerle / Peter Müller / Martin Ulmer (Hgg.): Ausgrenzung - Raub - Vernichtung

"In dem Moment als die Juden fortgeschafft waren, fiel das Vermögen an uns. Dieses ganze Vermögen hatte ich zu verwerten" (466). So beschrieb Hans Neukamm im Spruchkammerverfahren seine Rolle als vormaliger Finanzamtsvorsteher in Heilbronn bei der Verwertung des Vermögens von jüdischen Bewohnern eines Zwangsaltenheims, die 1942 in das KZ Theresienstadt deportiert worden waren. "[F]reimütig" gab Neukamm zu, dass er in entscheidender Position an der "staatlichen Ausplünderung der Deportierten" (466) während der NS-Zeit partizipiert hatte. Das konstatiert Martin Ulmer in einem der insgesamt 42 Beiträge des 2019 erschienenen Sammelbands, der die Geschichte der Ausgrenzung, des Raubs und der Vernichtung der Juden für Württemberg und Hohenzollern in den Jahren 1933 bis 1945 erstmals grundlegend und unter Einbezug zahlreicher unveröffentlichter Quellen behandelt.

Die Publikation, zu der parallel eine gleichnamige Wanderausstellung entstanden ist, vereint die Ergebnisse eines überwiegend ehrenamtlich getragenen Projekts des Gedenkstättenverbunds Gäu-Neckar-Alb e.V. und des Landesarchivs Baden-Württemberg von 29 Forschern und Forscherinnen und beruht daher im Besonderen auf der "beispielhafte[n] Zusammenarbeit von zivilgesellschaftlichen Initiativen und staatlichen Institutionen" (9). Dank dieser Bemühungen liegt nun eine als Standardwerk zu bezeichnende Veröffentlichung vor, die das Thema der "Arisierung" in einer beeindruckenden Mischung aus Darstellungen zur allgemeinen, auch reichsweiten Radikalisierung der Judenverfolgung zwischen 1933 und 1945, zu regionalen und lokalen Besonderheiten sowie Fallbeispielen und individuellen Schicksalen für Württemberg und Hohenzollern aufarbeitet.

Bei der Gliederung des umfangreichen Werks haben sich die Herausgeber chronologisch an den Phasen und Eskalationsstufen der NS-Judenpolitik orientiert. Der Band ist in fünf Hauptteile gegliedert, deren Beiträge thematisch die Geschehnisse vom Boykott jüdischer Gewerbetreibender sowie den frühen Berufsverboten auf Grundlage des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums 1933 und der Verabschiedung der Nürnberger Gesetze 1935 über die Pogrome vom November 1938 hin zu den Massendeportationen bis zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in den letzten Jahren des Dritten Reichs abdecken und schließlich auch auf die Zeit nach dem Kriegsende im Mai 1945 ausgreifen - die Fragen nach Restitution, Entschädigung und Erinnerung mit eingeschlossen. Den Aufsätzen gehen einige einleitende Beiträge voraus, von denen die Ausführungen des Historikers und Archivars Martin Burkhardt besonders hervorzuheben sind, der die Stellung der Juden in Württemberg und Hohenzollern vor 1933 summarisch beleuchtet.

Unter den Hauptkapiteln nimmt dann jener Zeitabschnitt den größten Raum ein, der in der historischen Forschung bislang vielfach als ein uneinheitlicher "Arisierungs"-Prozess zwischen 1933 und 1938 verstanden wurde. Dass diese ersten fünf Jahre des NS-Regimes besonders intensiv in den Blick geraten, ist mit Sicherheit dem Umstand geschuldet, dass sich hier nicht nur im Allgemeinen noch die meisten offenen Fragen in Bezug auf das Thema "Arisierung" ergeben können, sondern auch vielfältige Einzelbeispiele beschreiben lassen, die in katastrophaler Weise von der massiven, sich verhältnismäßig schnell ausbreitenden Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung zeugen. Betroffen hiervon waren vor allem Staatsbedienstete, Rechtsanwälte und Ärzte, aber auch Warenhausinhaber, Einzelhändler und andere Unternehmer. So hat die Schriftstellerin Amelie Fried in ihrem Beitrag exemplarisch das Schicksal ihrer jüdischen Familie väterlicherseits aufgearbeitet, indem sie die Ereignisse um das Schuhhaus Pallas in Ulm schildert. Dieses wurde, obwohl der Besitzer, Franz Fried, Jahrzehnte zuvor zum Christentum konvertiert war, schon unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten als "jüdisches Geschäft" dermaßen verunglimpft, dass sich Fried in der Folge nicht nur gezwungen sah, das Geschäft auf den Sohn überschreiben zu lassen, der als "jüdischer Mischling" galt, sondern sogar die Scheidung von seiner "arischen" Ehefrau einreichte, um den Betrieb zu retten. Letzten Endes blieben diese Maßnahmen jedoch wirkungslos, und das Schuhhaus Pallas musste 1943 endgültig schließen.

Solche Einzelschicksale finden sich in dem hier besprochenen Sammelband immer wieder. So wird die Geschichte der Schramberger Majolikafabrik im Schwarzwald oder die Biografie des ungarischen Kunsthändlers Morton Bernath in Stuttgart erzählt. Gleichermaßen konsequent in den Blick geraten die verantwortlichen Institutionen mit ihren Akteuren des Raubs: Neukamm vom Finanzamt Heilbronn steht hierfür ebenso stellvertretend wie etwa der als "Judenhasser" bekannt gewordene Devisenstellenleiter in Stuttgart, Ernst Niemann, oder der Finanzbeamte Gottlob Belzner in Mergentheim, der sich als besonders aktives NSDAP-Mitglied hervortat und unter anderem bei der Einziehung der "Judenvermögensabgabe" mitwirkte, also jener willkürlich durch die NS-Führung verhängten kollektiven Strafsteuer nach dem von Herschel Grynzspan in Paris verübten Attentat auf Ernst vom Rath.

Gerade die eindeutige Identifizierung der Täter vor Ort sowie die Einordnung ihrer Tätigkeiten an den Schaltstellen des Raubs, vor allem bei den Finanzämtern und Devisenstellen, aber auch den Instanzen der Gauleitung, der Gau- oder Kreiswirtschaftsberatung, sind lobend hervorzuheben. Ebenfalls zu betonen ist, dass in vielen Beiträgen die bisher oft hintangestellte Frage nach der "Arisierung" von Immobilien und Grundstücken aufgeworfen wird, wobei sich zeigt, dass nicht nur Privatpersonen wie der Gauschulungsamtsleiter Eugen Klett, der sich 1936 "auf Kredit ein gediegenes Wohnhaus in Stuttgart" (258) sicherte, sondern auch Städte und Gemeinden an jüdischem Grundbesitz bereicherten. [1] Diesen Aspekt stellt Josef Klegraf in seinem Aufsatz ins Zentrum des Interesses, und er kann schlüssig nachweisen, dass sich die Landeshauptstadt Stuttgart in der NS-Zeit mindestens 56 Liegenschaften jüdischer Eigentümer aneignete, und hiervon faktisch "bis heute profitiert" (415).

Indem die Herausgeber Untersuchungen zum Thema "Arisierung" sowohl auf der Makro- als auch der Mikroebene gekonnt verknüpfen, gelingt eine Gesamtdarstellung der "Zusammenhänge der Ausplünderung" (9) für Württemberg und Hohenzollern. Die Publikation lässt sich somit in die inzwischen verhältnismäßig umfangreiche und ausdifferenzierte Forschung zur Übertragung, Beschlagnahme und Enteignung sämtlichen jüdischen Eigentums im Dritten Reich sowie dessen Restitution nach 1945 einreihen. Sie sticht jedoch zugleich heraus wegen ihres weitreichenden Zugriffs auf das Thema, neuer (Vergleichs-)Perspektiven und ihres anschaulich-exemplarischen Charakters. Der Sammelband empfiehlt sich daher nicht nur für Forschende, sondern auch für interessierte und engagierte Laien.


Anmerkung:

[1] Vgl. Wolf Gruner: Die Grundstücke der "Reichsfeinde". Zur "Arisierung" von Immobilien durch Städte und Gemeinden 1938-1945, in: Irmtrud Wojak/Peter Hayes (Hgg.), "Arisierung" im Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis, Frankfurt am Main 2000, S. 125-156.

Rezension über:

Heinz Högerle / Peter Müller / Martin Ulmer (Hgg.): Ausgrenzung - Raub - Vernichtung. NS-Akteure und "Volksgemeinschaft" gegen die Juden in Württemberg und Hohenzollern 1933-1945, Stuttgart: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg 2019, 584 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-945414-69-9, EUR 18,00

Rezension von:
Mirjam Schnorr
Fritz Bauer Institut, Frankfurt/M.
Empfohlene Zitierweise:
Mirjam Schnorr: Rezension von: Heinz Högerle / Peter Müller / Martin Ulmer (Hgg.): Ausgrenzung - Raub - Vernichtung. NS-Akteure und "Volksgemeinschaft" gegen die Juden in Württemberg und Hohenzollern 1933-1945, Stuttgart: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg 2019, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 1 [15.01.2023], URL: https://www.sehepunkte.de/2023/01/33952.html


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