Bevor ich mich dem Sammelband und seinen Beiträgen zuwende, kurz noch etwas zu Westfalen (und Lippe). Das Gebiet, das man gemeinhin als Westfalen (Hauptstadt: Münster) bezeichnet, entspricht ungefähr der gleichnamigen Preußischen Provinz, die von 1815 bis 1946 Bestand hatte. Der Einzelstaat Lippe (Hauptstadt: Detmold) war von 1816 bis 1866 Teil des Deutschen Bundes, ab 1866 Mitglied im Norddeutschen Bund, ab 1871 Teil des Deutschen Kaiserreichs und nach 1919 ein demokratisch verfasster Freistaat in der Weimarer Republik. Westfalen und Lippe wurden nach dem 2. Weltkrieg in das 1946 neu gegründete Land Nordrhein-Westfalen integriert. Gegenstand der einzelnen Beiträge sind die kolonialen Verflechtungen und Spuren in den beiden Regionen, wobei der Schwerpunkt auf Westfalen liegt. Das dreiköpfige Herausgeber:innenteam besteht aus Sebastian Bischoff, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Universität Paderborn, Barbara Frey, wissenschaftliche Kuratorin für koloniale Vergangenheit und postkoloniale Gegenwart am LWL-Industriemuseum Zeche Zollern in Dortmund, und Andreas Neuwöhner, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Kulturamt Paderborn und Leiter des Residenzmuseums Schloß Neuhaus. Obgleich es in der Region viele koloniale Spuren (Gebäude, Firmen, Insitutionen, Denkmäler, Objekte, Dokumente, Personen etc.) gibt, liegt erst jetzt mit dieser Veröffentlichung eine erste Übersicht vor. Der Band entstand aus einer Tagung, die das Stadtmuseum Paderborn, die Universität Paderborn (Arbeitsbereich Zeitgeschichte), der Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalen, die Universität Bielefeld, das Lippische Landesmuseum Detmold und das Museum Hexenbürgermeisterhaus Lemgo zusammen im Frühjahr 2019 an der Uni Paderborn mit einem dezidiert regionalgeschichtlichen Ansatz durchgeführt hat. Am Ende haben es 17 Beiträge in den Sammelband geschafft, die ein großes Spektrum regionaler Perspektiven bieten.
17 Beiträge - 17 Themen: (1) Eine landes- und regionalgeschichtliche Kolonialgeschichtsschreibung hat großes Potenzial, wenn es ihr gelingt, über die zahlreichen (wichtigen) Einzelfallbeispiele den Anschluss an die übergeordneten Themenfelder der Postcolonial Studies mit Bezug auf die deutsche Vergangenheit herzustellen. Die Frage nach regionalen Besonderheiten ist dabei interessant, aber angesichts des gegenwärtigen Forschungsstandes noch nicht überzeugend zu beantworten. Es sollten vermehrt vergleichende Studien in Angriff genommen werden, wobei sich der Untersuchungszeitraum nicht nur auf die engere Kolonialzeit (1884-1919) konzentrieren muss, sondern auch die Vorgeschichten und die Nachwirkungen mit in den Blick zu nehmen sind (Johannes Häfner). (2) und (3): Interessant sind koloniale Verflechtungen in bisher noch nicht dazu untersuchten Städten. Als Beispiele für Westfalen können Dortmund und Essen dienen. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges engagierten sich mehr als 60 Dortmunder Firmen und Betriebe im kolonialen Raum, d.h. in den deutschen und anderen europäischen Kolonialgebieten sowie in China oder im Osmanischen Reich. Rohstoffsicherung, Kolonialwarenhandel und Absatzmärkte für Industrieprodukte waren die treibenden Kräfte für den Aufbau von "Geschäftsbeziehungen" (Detlev Brum). Ähnliches lässt sich auch über die Industriestadt Essen sagen, wo neben der örtlichen Abteilung der Deutschen Kolonialgesellschaft insbesondere die Familie und das Unternehmen Krupp sehr aktiv waren. Bemerkenswert ist zudem die Geschichte der 1897 gegründeten Essener Sigi-Pflanzungsgesellschaft mbH, die im Usambara Bergland eine Kaffee- und Kakao-Plantage aufbaute. Am Ende des Ersten Weltkrieges wurde sie geschlossen, doch als deutsche Unternehmen oder Siedler nach dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund wieder Eigentum in den ehemaligen Kolonien kaufen konnten, erwarb sie 1928 der im britischen Mandatsgebiet ansässige deutsche Pflanzer von Brandis und hielt ihre Bewirtschaftung bis 1944 aufrecht (Kerstin Rosery). (5): Sehr spannend ist der Hintergrund der auf der Turmspitze der Nikolaikirche in Siegen angebrachten vergoldeten Krone, die heute als Wahrzeichen der Stadt (Siegen = Krönchenstadt) gilt. Die Krone ließ 1658 Johann Moritz Fürst von Nassau-Siegen anfertigen, der von 1636 bis 1644 im Auftrag der Niederländischen Westindischen Kompanie das Amt des General-Gouverneurs im umkämpften "Nieuw Holland" im Nordosten Brasiliens innehatte. Das Emblem hat einen klaren Bezug zur Transatlantischen Sklaverei, der aber bislang in der städtischen Selbstdarstellung geflissentlich ignoriert wird (Tobias Scheidt). (6) und (7): Denkmäler und Gedenktafeln sind beliebte Gegenstände der regionalen Kolonialismusforschung und der damit verbundenen Erinnerungskulturen. Für den am 20. Juni 1900 in Beijing ermordeten, aus Münster stammenden Diplomaten Clemens von Ketteler errichtete man mit dem Ketteler-Obelisken in seiner Heimatstadt, dem Ehrengrab auf dem Gelände der deutschen Gesandtschaft in Beijing und dem Ehrenbogen an dem Ort des Attentates gleich drei monumentale Memorialbauten. "Der tote Gesandte wurde", so Thoralf Klein, "mit den Mitteln der Erinnerungspolitik für die Zwecke des wilhelminischen Imperialismus instrumentalisiert" (66). In zahlreichen Kirchen findet man heute noch immer Tafeln zum Gedenken an westfälische Soldaten der Kaiserlichen Schutztruppe. Sie sind Zeugen eines kolonialen Geistes, dessen Kontinuität bemerkenswerterweise bisweilen bis heute wirken (Barbara Frey).
(7) bis (14): Ein besonderes Augenmerk des Sammelbandes liegt (naturgemäß) auf Personen aus Westfalen und Lippe, deren Lebensläufe beispielhaft die mannigfaltigen Bezüge von Individuen zu kolonialen Kontexten zeigen. Der in Cap Haïtien in Haiti geborene Ludovic Thimoléon Pagenstecher (1849-1930) arbeitete zunächst für eine amerikanisch-haitianische Firma, bevor er 1890 mit den Seinen nach Hamburg zog. Trotz ihres afrokaribischen Hintergrunds wurden die Pagenstechers innerhalb kurzer Zeit zu einer angesehener Kaufmannsfamilie. Seit 1900 war Ludovic Inhaber des größten Handelshauses der deutschen Kolonie Kamerun. Letzten Endes führt sich seine Akzeptanz darauf zurück, dass seine Umgebung in Deutschland ihn nicht als "Schwarzen", sondern als "Weißen" ansah (Tristan Oestermann). Eugen Zintgraff (1858-1897) und sein Bruder Alfred (1878-1943) verfolgten beide koloniale Karrieren, Eugen als "Afrikaforscher" in Kamerun, Alfred als Botschafter am Hofe Meneliks II. (Regentschaft: 1889-1914) in Äthiopien, als Konsul in Mombasa und als Herausgeber der Deutsch-Ostafrikanischen Zeitung. Überaus spannend und methodisch wegweisend ist die Kontrastierung der beiden Repräsentanten des deutschen Kolonialismus mit afrikanischen Stimmen und Sichtweisen. Zum einen hören wir von Fon Galega und seiner Tochter Fe Kossa. Mit Fon Galega, dem Oberhaupt der Bali-Nyonga, hatte Zintgraff 1891 einen Vertrag geschlossen, und mit Fe Kossa war er eine Art Partnerschaft eingegangen. Zum anderen lernen wir Eugen Zintgraffs Diener Isaak und Munoko kennen, die sich 1890 mehrere Monate in Detmold aufhielten (Stefanie Michels). Interessant ist auch der Fall von Heinrich Hüttenhain, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwei Jahre in der Deutschen Kolonialschule Witzenhausen verbrachte und bis in die 1920er Jahre regelmäßig Briefe mit dem Schulleiter austauschte. 1904 hatte er sich zum Dienst in der Schutztruppe gemeldet und war in Deutsch-Südwestafrika zum Einsatz gekommen, bis er ein Jahr später an Typhus erkrankte und wieder nach Hause geschickt wurde. Er kehrte allerdings als Farmer und Siedler dorthin zurück und blieb bis 1921 (Andreas Neuwöhner). Koloniale Denkmuster entnimmt man nicht nur der Korrespondenz zwischen Hüttenhain und seinem ehemaligen Direktor, sondern auch den erhaltenen Schriften des westfälischen Oberleutnants Julius Smend (1873-1939). Dieser war als Kolonialbeamter und Sammler im Dienste des Kaiserreichs bis 1906 in Togo tätig und setzte sich nach dem Ersten Weltkrieg für die Rückgabe der ehemaligen deutschen Kolonien ein. Man kann gespannt sein auf die Dissertation des Autors des Artikels, Mèhèza Kalibani, die Julius Smends phonographische Aufnahmen von Musik und Traditionen der Kolonisierten untersucht und kontextualisiert.
Burkhart Waldecker (1902-1964) aus Hagen, Frieda und Gottfried Schmidt aus Schötmar und Günther Fürst (1914-1940) aus Iserlohn liefern drei weitere anschauliche Beispiele für die mannigfaltigen Verbindungen von Biographien gewöhnlicher Leute aus der Provinz mit kolonialen Karrieren und Denkmustern. Burkhart Waldecker wanderte 1935 nach Belgisch-Kongo aus und arbeitete ab 1943 für die belgische Kolonialverwaltung als Assistent des Kurators am Musée Léopold II in Elisabethville (Fabian Fechner). In Burundi wird er noch heute als "Entdecker" der südlichsten Nilquelle vermarktet. Das Ehepaar Schmidt wiederum, in deren Nachlass sich detaillierte Tagebücher befinden, repräsentieren das Leben und Denken deutscher Zivilisten in den Kolonien nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges (Marianne Bechhaus-Gerst). Ab 1920 kam Deutsch-Ostafrika unter das Mandat des Völkerbundes. Die nunmehr "Tanganjika" genannte Region unterstand größtenteils britischer Verwaltung. Die enteigneten und ausgewiesenen deutschen Siedler konnten erst in den späten 1920er Jahren zurückkehren und wieder Land erwerben. 1935 entschloss sich der Kolonialenthusiast Günther Fürst, einen Posten auf einer Farm in Dabaga anzunehmen. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde er von den Briten interniert. Im Frühjahr 1940 kehrte er schließlich nach Deutschland zurück (Rico Quaschny). Um einen etwas anders gelagerten Fall handelt es sich bei Friedrich Rosen (1856-1935), der ursprünglich aus Detmold stammte. Wie Amir Theilhaber in seiner 2020 veröffentlichten Dissertation [1] gezeigt hat, besaß Rosen eine sehr komplexe, vielschichtige Persönlichkeit. Eine seiner Hinterlassenschaften bildet ein ethnographisches Konvolut, das er während seiner Aufenthalte in Indien, Iran, Äthiopien und Marokko zusammentrug. Eine Einordnung der Objekte in eine imperiale Provenienzgeschichte steht noch aus (Amir Theilhaber).
Der Band schließt mit drei theoretisch und inhaltlich weiterführenden Artikeln. Zunächst geht es um "Airport Art". Damit sind kunsthandwerkliche Erzeugnisse gemeint, "die vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg gezielt für den Verkauf an westliche Touristen, Geschäftsreisende, Diplomaten oder Entwicklungshelfer hergestellt wurden" (286) und in denen man durchaus ein Weiterwirken kolonialistischer Sichtweisen ausmachen kann (Paul Duschner). Für eine mediale Konstruktion der von den Europäern kolonisierten Völkern, also für eine Art visuelle Kolonisierung, steht etwa die Darstellung von Kriegsgefangenen in Westfalen in Fotografien und Filmaufnahmen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg (Markus Köster). Wie kann man in Museen und Ausstellungen denn die "imperiale Szenografie" der Kolonialzeit durchbrechen? Eine spannende Möglichkeit könnte sein, Globalgeschichte als stadtgeschichtliches Ausstellungsnarrativ zu etablieren und Stadtgeschichte als lokale Weltgeschichte zu erzählen. Es geht darum, Exponate wie zum Beispiel die Osnabrücker "Mohren Tauf-Predigt" aus dem Jahre 1661 konsequent zu kontextualisieren und damit die Bezüge zu dem Transatlantischen Sklavenhandel und anderen Formen starker asymmetrischer Abhängigkeiten zu verdeutlichen (Thorsten Heese).
Alle Beiträge des sehr gelungenen Sammelbandes zeigen die vielschichtigen regionalen Verbindungen zum Kolonialismus und die alltägliche Durchdringung der westfälisch-lippischen Gesellschaft mit kolonialistischen Vorstellungen, Verhaltensweisen und spezifischen Formen der Wissensproduktion.
Anmerkung:
Amir Theilhaber: Friedrich Rosen. Orientalist Scholarship and International Politics. Berlin 2020.
Sebastian Bischoff / Andreas Neuwöhner / Barbara Frey (Hgg.): Koloniale Welten in Westfalen (= Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte; Bd. 89), Paderborn: Brill / Ferdinand Schöningh 2021, XXII + 338 S., ISBN 978-3-506-76047-0, EUR 49,90
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