Epochen des Übergangs und der Transformation sind komplex, uneinheitlich, ja widersprüchlich, immer aber auch gekennzeichnet von Kontinuität und Wandel. Dies gilt für die Zeitenwende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit um 1500, aber auch für den Prototypen der Sattelzeit um 1800, wie ihn Reinhart Koselleck beschrieben hat. Und genau diese Zeitspanne in der Geschichte Brandenburg-Preußens, vom Regierungsantritt Friedrichs II. im Jahr 1740 bis zur Niederlage von Jena und Auerstedt im Oktober 1806, nimmt der vorliegende Sammelband in den Fokus, der die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Tagung im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam von 2021 enthält.
Die insgesamt zehn Beiträge unterschiedlicher Autor*innen, verteilt auf vier Kapitel, beschäftigen sich mit dem Gruppenprofil preußischer Staatsmänner, die die Reorganisation der Hohenzollernmonarchie in der Reformära nach 1806 maßgeblich bestimmten, ihre Prägung vielfach aber in friderizianischer und nachfriderizianischer Zeit erhalten hatten. Die Texte zielen insbesondere darauf ab, wie aus der Einführung (1-14) hervorgeht, die überindividuellen, gruppenspezifischen Konturen dieser Staatsmänner in Bezug auf familiäre Herkunft, Erziehung, Ausbildung, Karrierewege, Dienstalltag und Weltbilder in der Umbruchphase am Ende des Ancien Régime herauszuarbeiten, als in der Aufklärung traditionelle Werte immer mehr rational hinterfragt wurden und die geburtsständische Gesellschaft bürgerlichen Vorstellungen Platz machte. Abgerundet wird der Sammelband durch ein Inhalts- (V-VI), Autor*innen- (269) und Personenverzeichnis (271-276).
Das erste Kapitel ist den "Bildungswelten" der preußischen Staatsmänner gewidmet, wobei sich der Blick auch über Brandenburg-Preußen hinaus weitet. Jonas Flöter widmet sich - ausgehend von den Einzelbiografien von Johann August Ernesti, Johann Heinrich Ludwig Meierotto und Friedrich Gedike - den "Bildungsreformer[n] im Kontext von Aufklärung und Neuhumanismus" (17-38), während Julia Kurig (39-65) den schleswig-holsteinischen und dänischen Sozialisationsbedingungen und Bildungserfahrungen von Barthold Georg Niebuhr und Georg Heinrich Ludwig Nicolovius nachspürt, die ebenfalls zu den Gestaltern der preußischen Reformzeit gehörten.
Vier Aufsätze beschäftigen sich im umfangreichen zweiten Kapitel mit den "Denkwelten" der preußischen Staatsmänner. Am Beispiel der Judengesetzgebung zwischen 1787 und 1806 arbeitet Tim Friedrich Meier (69-100) heraus, wie die an der Universität Halle gelehrte kameralistische Doktrin eines starken, kontrollierenden und am Gemeinwohl orientierten Staates das politische Handeln der preußischen Spitzenbeamten beeinflusste, aber auch begrenzte. Denn ihnen blieben die liberalen Ideen einer völligen jüdischen Gleichberechtigung, die auf individueller Selbstverantwortung und selbstregulierender Konkurrenz beruhten, fremd und unverständlich. "Die Emanzipation der jüdischen Bevölkerung wurde zur Stellvertreterdebatte über das normative Verhältnis, welches zukünftig zwischen Staat, Wirtschaft und Bürgern herrschen sollte, und verweist somit auf die Entstehung der modernen Marktwirtschaft" (99). Carola Groppe (101-138) vergleicht den unterschiedlichen sozialisationshistorischen Kontext zweier preußischer Minister: des aus einer schlesischen Adelsfamilie stammenden Justizministers Karl Abraham von Zedlitz und Leipe und des aus einer bürgerlich-pietistischen Pastorenfamilie stammenden Finanzministers Carl August von Struensee. Trotz unterschiedlicher Voraussetzungen führte der Sozialisationsprozess in beiden Fällen zum selben Ergebnis, "zu einer Selbstverortung im Rahmen der Aufklärung" (103). Vervollständigt wird dieses Kapitel durch einen kurzen Text von Jürgen Overhoff (139-150) über Wilhelm von Humboldt als "Staatsmann wider Willen" (139), der bereit war, aus Pflichtbewusstsein Regierungsverantwortung zu übernehmen, und Ausführungen von Astrid Albert (151-180) über die beruflichen und privaten Lebensentwürfe des jungen Ludwig von Vincke, wie sie sich in seinen frühen Tagebucheinträgen finden. "Unter Einbezug von Ansätzen aus der Geschlechtergeschichte, der Männlichkeits- und Familienforschung" (155) arbeitet die Autorin das von Ideen der Spätaufklärung geprägte neue Männlichkeits- und Familienideal von Vinckes heraus, das - im Gegensatz zu den ständischen und familienpolitischen Erwartungen der Eltern - an Kategorien wie persönliche Interessen, individuelle Leistung, privates Ehe- und Familienglück und Nutzen für Staat und Allgemeinwohl orientiert war.
Das dritte Kapitel ist den "Handlungswelten" preußischer Staatsmänner gewidmet, deren Aktionsraum sich natürlich immer auch auf das Heilige Römische Reich deutscher Nation erstreckte. Während Michael Rohrschneider die "Praktiken und Netzwerke der Reichstagsgesandten Friedrichs II." (183-201) behandelt, hebt Wolfgang Burgdorf den überragenden Einfluss der deutschen Staatsrechtslehrer Johann Jacob Moser und Johann Stephan Pütter auf "die preußischen Staatsmänner [hervor], die ab 1806 die sogenannten "Preußischen Reformen" umsetzten" (228).
Das vierte Kapitel beleuchtet die "Karrierewelten" preußischer Staatsmänner in der Sattelzeit um 1800. Frank Göse untersucht "Karrieren, Mentalitäten und Netzwerke landadliger märkischer Amtsträger im 18. Jahrhundert" (231-254). Trotz des zunehmenden Professionalisierungsdrucks auf den Adel und der deshalb erforderlichen hohen Ausbildungsinvestitionen, um mit den bürgerlichen Bewerbern um Amtsstellen konkurrenzfähig zu sein, wurde der Hof- und Staatsdienst immer attraktiver für den Adel, zumal dabei erworbene Verdienste für das Prestige einer Adelsfamilie immer wichtiger wurden. Thomas Stamm-Kuhlmann (255-268) beschäftigt sich mit den Kriterien, die den Aufstieg bis an die Spitze der nach wie vor vom Adel dominierten Ministerialbürokratie ermöglichten. Neben beruflicher Qualifikation und individueller Leistung waren immer noch auch persönliche Beziehungen, Empfehlungen oder die Nähe zum Herrscher am Fürstenhof entscheidend wie im Falle von Johann Christoph von Woellner, der über den Orden der Rosenkreuzer Zugang zum Thronfolger Friedrich Wilhelm II. fand.
Dass Geschichte eine kontinuierliche Abfolge von Geschehnissen ist, die lediglich durch Historiker*innen ex post eine scheinbar klare Struktur bekommt, wird einmal mehr durch den vorliegenden Sammelband belegt. Er verbindet - über die früher vielfach beschworene Zäsur von 1806 hinweg - den preußischen Neuanfang nach der verheerenden Niederlage von 1806 mit den aufgeklärt-absolutistischen Zeiten der Hohenzollernmonarchie davor, als die Vordenker und Repräsentanten der preußischen Reformära in der noch fest verankerten Ständegesellschaft aufwuchsen und ihre (ersten) Erfahrungen im preußischen Staatsdienst sammelten. Ihre unterschiedlichen Lebensumstände in der Spätphase des Alten Reiches werden von den Autor*innen des Bandes, die aus der Frühneuzeitgeschichte und der Historischen Bildungsforschung kommen, kenntnisreich und differenziert dargestellt mit feinem Gespür für die sich abzeichnenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen dieser Umbruchepoche. Gerade darin liegt das eigentliche Verdienst dieses Bandes, während die in der Einleitung gestellten Fragen nach dem Gruppenprofil der preußischen Staatsmänner zwischen 1740 und 1806 oder nach der näheren Begriffsbestimmung von "preußisch", "Staat" und "Staatsmann" (2-3) weitgehend unbeantwortet bleiben (in diesem Rahmen vielleicht auch bleiben müssen) - ohne dadurch der Exzellenz des Buches Abbruch zu tun.
Georg Eckert / Carola Groppe / Ulrike Höroldt (Hgg.): Preußische Staatsmänner. Herkunft, Erziehung und Ausbildung, Karrieren, Dienstalltag und Weltbilder zwischen 1740 und 1806 (= Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz; 21,1), Berlin: Duncker & Humblot 2023, VI + 282 S., ISBN 978-3-428-18869-7, EUR 89,90
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