Mit dieser Publikation setzen Anne Hartmann und Reinhard Müller einen Schlussstein zu ihren bisherigen, achtunggebietenden Arbeiten. Beide sind brillante Kenner der Materie, auf die sie sich seit Jahren erfolgreich fokussiert haben. Sie veröffentlichen nun hier 38 Dokumente über einen kurzen Zeitraum: von November 1935 bis Februar 1941. Die Texte befassen sich ausschließlich und explizit mit dem Innenleben der relativ überschaubaren kleinen Gruppe der aus Deutschland in die Sowjetunion emigrierten deutschen Schriftsteller: ca. dreißig Autoren, die auch schon vor ihrer Emigration in Deutschland publizierten, unter ihnen die Lyriker Johannes R. Becher und Erich Weinert, die Epiker Adam Scharrer und Willi Bredel, die Dramatiker Friedrich Wolf und Julius Hay. Zu ihnen sind auch Publizisten zu zählen, wie Fritz Erpenbeck, Hans Günther und Georg Lukács. Manche von ihnen übten auch Parteifunktionen in der Exil-KPD aus. Sie sahen sich ausnahmslos in der Front des antifaschistischen Kampfs und empfanden eine tiefe Verbundenheit mit der Sowjetunion. Alle ihre Texte, die hier entstanden, sollten diesem Kampf dienen. Als ein Hauptfeld ihrer Arbeit verfassten sie Beiträge für die deutschsprachige "Deutsche Zentralzeitung", die viele ihrer Texte druckte, honorierte und mit deren Redaktion viele in ständigem Austausch standen.
Ihr Schaffen und ihre persönlichen Existenzen gerieten in diesen Jahren in die mörderischen Apparate und Mechanismen der Partei-Säuberungen, die die Exil-KPD betrieb. Oder sollte man besser sagen: betreiben musste, denn die Partei war eng in das Netzwerk von Komintern (als oberstes Organ der kommunistischen Weltbewegung) und Geheimdienst NKWD eingebunden, von beiden existenziell abhängig und zugleich bedroht. Sie waren in diesen Jahren des - wie man sich angewöhnt hat, zu sagen - "Großen Terrors" als barbarischem Auswuchs der Stalinschen Diktatur mit den sie umgebenden Vorgängen eng verflochten. Die Schriftsteller wurden und waren in ein Spannungsfeld von Bedrohung, Angst und Überlebenswillen eingebunden, das zunehmend von Hysterie durchgefärbt wurde und das sich personell-privat verschieden gestaltete (man sollte hier auch das psychologische Unterfutter mitdenken, das bei dieser Art Entgrenzung alle zivilen Barrieren verformte). Viele der im Moskauer Exil lebenden deutschsprachigen Intellektuellen machten sich die Losungen und Redewendungen der sowjetischen Propaganda zu eigen, ein beklemmendes Vokabular, von dessen Bedeutung gerade die "Meister des Wortes", die Schriftsteller, mehr wissen mussten als andere.
Im Band sind Protokolle interner Sitzungen und Diskussionen der Schriftsteller, Stellungnahmen und Briefe im Wortlaut abgedruckt, die dieses äußerst komplexe Innenleben in aller Deutlichkeit und Schärfe abbilden. Ästhetische Diskussionen vermischten sich mit erbitterten ideologischen Streitereien, sodass tatsächliche ästhetische Meinungsverschiedenheiten hinter agitatorischen Klischees und aktuellen Parolen verschwanden. Auf fatale Weise kreuzten sich Fanatismus und Orthodoxie. Eine Hauptkomponente dieser extrem heterogenen Entwicklungen bildete dabei ein zwischen diesen Intellektuellen allmählich entstehendes Geflecht von Misstrauen, Verdächtigungen, Unterstellungen, Hass, Vermutungen und auch Neid. Nicht zuletzt spielten auch Existenzprobleme eine große Rolle (Honorare, Publikationsmöglichkeiten, Wohnungsschwierigkeiten, Passfragen). Angst und Überlebenswille lagen miteinander in einem existentiellen Clinch. Daneben finden sich Ergebenheitsadressen an das Gastgeberland, die sich in ihrem Vokabular der gesamtgesellschaftlichen, sowjetischen Hysterie anpassten. Der Schauprozess gegen das sogenannte trotzkistisch-sinowjewistische terroristische Zentrum (1936) und die damit verknüpften, angeblich verschwörerischen Verbindungen zu Trotzki sowie zu "Agenten des kapitalistischen Auslands" bildeten quasi das Epizentrum eines gesamtgesellschaftlichen Erdbebens. Auch nach dem Ende des Terrors hielten etliche Kontroversen an, bis sie durch den Krieg entschärft wurden, weil Interessen und Ambitionen nun auf die aktive Verteidigung der Sowjetunion und auf den direkten Kampf gegen den Aggressor umgeleitet werden mussten.
Ein charakteristisches Beispiel dieses Amalgams von Politik und Ästhetik, von Strategie und Taktik, von individueller Ranküne und Besserwisserei, von Überzeugung und Ehrbarkeit entzündete sich um den Roman von Willi Bredel "Dein unbekannter Bruder" (1937). Bredel hatte die Geschichte eines in Hamburg agierenden antifaschistischen Widerstandskämpfers geschrieben, der Angst bekommt vor der Gestapo und von ihm in den eigenen Reihen vermuteten Verräter. Obwohl Bredel sich auf Hamburg konzentrierte, verstand man seine Geschichte als ein Panorama antifaschistischen Widerstands. Bredel hatte seinen Roman auch so verortet: Im Untertitel schrieb er "Roman aus dem III. Reich". Allerdings lebte Bredel seit 1934 im Exil, hatte also von der tatsächlichen Lage der Arbeiter in Hamburg um 1937 und vom dortigen Widerstand keine für einen Roman seines Anspruchs brauchbaren Kenntnisse, sodass auch Wunschträume in seine Geschichte eingeflossen waren. Andor Gabor hatte eine vernichtende Kritik geschrieben, die jedoch nicht veröffentlicht wurde, deren herbe Einwände jedoch unter der Hand kursierten. Man vermisste einen positiven Helden [1]. Als solchen konnte man Bredels Protagonisten Arnold nur schwer erkennen. In der Diskussion am 31. Oktober 1940 in der deutschen Sektion um den Roman, Gabors Rezension und den Umgang mit diesen beiden Texten verschränkten sich kontroverse Konzepte strategischer, ästhetischer und politischer Natur, die deren Vertreter lautstark und mit Eifer vortrugen. ("Protokoll der Sitzung des Sowjetischen Schriftstellerverbands" Dokument Nr. 32, 374 f.) Georg Lukács spitzte zu: Er beobachte den "Versuch, literarische Diskussionen in Parteidiskussionen zu verwandeln" (384) und: "Solange eine solche Atmosphäre bei uns vorhanden ist, solange man diese Verdrehungen in der Maske der 'Wachsamkeit' unbestraft vortragen kann, ist keine Kritik möglich." (381).
In den Einführungen, die Anne Hartmann ihren Kapiteln voranstellt, beschreibt sie einfühlsam, wenn auch nicht ohne deutliche Vorbehalte, diese Vorgänge und die inneren Verbindungen der Protagonisten. Die strikte Trennung von Dokument und Interpretation zahlt sich aus. Manchmal sind die Verästelungen von Argumenten, Unterstellungen, Zurückweisungen und auch oft nur Beschimpfungen im Einzelnen nicht exakt zu verfolgen. Gelegentlich ist auch nicht auszumachen: Wo endet die Sachauskunft und wo beginnt die Intrige? Genau hier liegen auch die natürlichen Grenzen solcher Dokumenten-Publikationen. Und so erweisen die Einführungen Hartmanns ihren Wert. Prinzipiell finde ich es richtig, dass die Herausgeber sich - meistens - der Beurteilung der künstlerischen Qualität enthalten, weil solche Urteile schnellfüßig von politischen Koordinaten abgeleitet wurden und weniger von ästhetischen. Man kann dankenswerterweise einige der erwähnten Texte in einer Publikation nachlesen, die noch auf Hans-Albert Walter zurückgeht [2].
Das schwierige Exilgepäck nahmen die Protagonisten mit in ihr Wirken nach dem Exil. Später nachwirkende - gelinde gesagt - Verhärtungen haben ihre Wurzeln gerade dort. Merkwürdig, diese Exilerfahrungen und -erlebnisse nach Jahrzehnten nun nachzulesen. Und merkwürdig auch, wie sehr Intellektuelle in derart schlimme Abgründe hinabsteigen konnten oder mussten. Dies alles nun wortgetreu nachlesen zu können, stellt eine Herausforderung dar, der der Historiker (und jeder Interessierte) nicht ausweichen kann. Das Buch schließt eine sehr schmale, aber bedeutsame Lücke.
Anmerkungen:
[1] Es ist nicht ohne historischen Witz, dass über 40 Jahre danach eine DDR-DEFA-Verfilmung des Buches (Regie Ulrich Weiß), wenngleich mit Veränderungen gegenüber der Originalstory, mit ähnlichen Einwänden malträtiert wurde, vgl. Ralf Schenk: Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg. DEFA-Spielfilme 1946-1992, hg. Filmmuseum Potsdam, Berlin 1994, 286 f.
[2] Ulrich Faure / Peter Graf (Hgg.): Exil! Literarische Wortmeldungen aus deutschsprachigen Zeitschriften 1933-1950, Darmstadt 2022. Darin sind Exiltexte von Berta Lask, Adam Scharrer, Willi Bredel, Theodor Plivier und Ernst Ottwald abgedruckt, die im Moskauer Exil entstanden und die im hier besprochenen Band mindestens erwähnt werden.
Anne Hartmann / Reinhard Müller (Hgg.): Tribunale als Trauma. Die Deutsche Sektion des Sowjetischen Schriftstellerverbands. Protokolle, Resolutionen und Briefe (1935-1941) (= akte exil. neue folge; Bd. 3), Göttingen: Wallstein 2022, 469 S., ISBN 978-3-8353-5225-4, EUR 39,00
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