Mit dem Sieg der Oktoberrevolution von 1917 gelangte erstmals eine kommunistische Bewegung langfristig an die Macht eines Landes. Damit wurde die Sowjetunion zum Vorbild linker Hoffnungen auf dem gesamten Globus. Doch wurden diese nach und nach enttäuscht. Für Anarchistinnen und Anarchisten, Räte- und Linkskommunistinnen und -kommunisten setzte diese Ernüchterung schon durch die Entwicklungen in der frühen Sowjetunion ein, für die Anhängerinnen und Anhänger Leo Trotzkis nach dem Tode Lenins und für Stalinistinnen und Stalinisten nach dem Ableben Josef Stalins. Die bürokratische Herrschaft im Realsozialismus hatte spätestens seit den 1950er und 1960er Jahren für Linke weltweit kaum noch eine Anziehungskraft. In diese utopische Leerstelle fügte sich das maoistische China ein. Nach dem Sieg im Bürgerkrieg 1949 versuchten die chinesischen Kommunistinnen und Kommunisten erst dem sowjetischen Vorbild zu folgen, doch schon bald kam es zum Bruch mit dem "großen Bruder" und Mao Zedong propagierte einen chinesischen Weg zum Sozialismus. Mit der sogenannten proletarischen Kulturrevolution ab 1966 schien es, den chinesischen Kommunistinnen und Kommunisten gelungen zu sein, einen Weg jenseits von Revisionismus und Bürokratisierung der Revolution zu finden. Sowohl in den nationalen Befreiungsbewegungen der sich entkolonialisierenden sog. "Dritte-Welt-Länder" als auch in den Protestbewegungen um 1968 in den Industriestaaten wurde der Maoismus zum Vorbild. Damit entwickelte er sich zu einem globalen Phänomen.
Diese Weltgeschichte des Maoismus zeichnet die britische Sinologin Julia Lovell in ihrem voluminösen Werk nach. Neben der Entwicklung in China vom Bürgerkrieg bis zur Renaissance des Maoismus unter Xi Jinping, geht sie in ausführlichen Kapiteln auf die maoistischen Einflüsse in Asien von Indonesien über Vietnam bis Kambodscha, aber vor allem auch in Indien und Nepal, ein. Sie untersucht die chinesische Einflussnahme auf die afrikanischen Befreiungsbewegungen und zeichnet den Guerillakrieg des "Leuchtenden Pfads" in Peru ebenso nach, wie die maoistisch inspirierten Jugendrevolten in Westeuropa und den USA.
Dabei sind vor allem die Beschreibungen der maoistischen Guerillabewegungen im damals als "Dritte Welt" bezeichneten globalen Süden aufschlussreich. Sie füllen im deutschsprachigen Raum eine Lücke, da über die von Mao beeinflussten Guerillabewegungen etwa in Indien, Nepal oder Malaysia bislang kaum Veröffentlichungen vorliegen. Die maoistischen Guerilleros konnten zum Teil beeindruckende Erfolge erreichen. So schafften es die nepalesischen Maoistinnen und Maoisten, die dortige Monarchie zu stürzen und anschließend durch demokratische Wahlen die Regierung zu übernehmen. Wegen dieser Abweichung von der doktrinär eigentlich vorgesehenen militärischen Machtübernahme wurden sie dann aus der maoistischen Internationale, dem Revolutionary International Movement (RIM), ausgeschlossen. Andere Gruppen, wie die indischen Naxaliten oder der Leuchtende Pfad in Peru erkämpften große "befreite Gebiete", in denen sie die politische und gesellschaftliche Macht übernahmen. Die maoistischen Gruppierungen der damaligen "Ersten Welt" verkamen dagegen meist sehr schnell zu kuriosen Sekten, wie die westdeutschen K-Gruppen, die keinerlei politischen Einfluss gewinnen konnten. Diese Diskrepanz zwischen den Erfolgen des Maoismus im globalen Süden und dem Scheitern im Norden analysiert die Autorin leider nicht. Ihr Schreibstil ist geprägt von anekdotischen Erzählungen, in dem die Ereignisse durch den Willen der jeweiligen Führer vorangetrieben werden. Diese Führungspersonen, bei denen es sich ausschließlich um Männer handelt, sind meist Intellektuelle, die durch die Lektüre von Maos Schriften inspiriert und oftmals in China ideologisch geschult, die Geschicke ihres Landes in die Hand nehmen. Doch warum der Maoismus gerade in bäuerlich geprägten und durch die globalen ökonomischen Verhältnisse in Unterentwicklung gehaltenen Regionen so erfolgreich werden konnte, erklärt die Autorin nicht. Sie hält zwar fest, dass für Mao Zedong die Bauern die Rolle des revolutionären Subjektes übernahmen. Die Macht solle durch die Einkreisung der Städte vom Land aus erobert werden. Dieses Konzept wurde dann global übertragen: Die revolutionäre "Dritte Welt" sollte die "Erste Welt" einkreisen. Aber es wird nicht weiter erörtert, welche Konsequenzen dieses Konzept für die Ausgestaltung der Revolution sowie des Kommunismus haben und welche Funktionen die bäuerlichen Massen darin spielen würden. Ein Blick in die frühen linken Kritiken an der Entwicklung in der Sowjetunion hätte hier Anregungen geben können: Deren Beschreibungen der bolschewistischen Bewegung gleichen oft auffällig den maoistischen Gruppierungen in den verschiedenen Ländern. So beschreibt Julia Lovell beispielsweise die Strukturen der peruanischen Maoistinnen und Maoisten folgendermaßen: "Der Leuchtende Pfad führte also nie einen egalitären Bauernkrieg. Eher folgte er dem Muster, dass gebildete städtische Intellektuelle in ihren eigenen Befehlsstrukturen und bei der Verteilung der Aufgaben die ethnischen und klassenbasierten Hierarchien reproduzierten, die eigentlich abschaffen wollen. Die Elite an der Spitze war hellhäutig, spanischsprachig und gebildet; die Basis bildeten dunkelhäutigere, verarmte und Quechua sprechende Bauern." (449) Diese Aufspaltung der Bewegung in eine intellektuelle Führung, die die bäuerlichen Massen und in geringerem Masse auch Teile der Arbeiterinnen und Arbeiter zur Revolution leitet, hatten bereits frühe Kritikerinnen und Kritiker der Sowjetunion moniert [1]. Diese Kritik wurde später dann auch auf die Entwicklungen in der Volksrepublik China übertragen [2]. Der chinesische Weg zum Sozialismus war also doch wieder nur dort angekommen, wo bereits die Sowjetunion endete und die Utopie der Gesellschaft der Freien und Gleichen harrt weiter ihrer Umsetzung. Diese Schlussfolgerung wird im Buch nicht gezogen. Der Maoismus erscheint bei Lovell als obskure Gewaltideologie, initiiert von psychisch deformierten Führern. Eine Einordnung in die materiellen und gesellschaftlichen Verhältnisse und eine Analyse des Theorieverfalls, die der Maoismus bedeutet, sucht man vergebens. Eine Weltgeschichte des Maoismus muss also doch erst noch geschrieben werden.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Gruppe Internationaler Kommunisten Hollands, Thesen über den Bolschewismus, in: Anton Pannekoek / Paul Mattick u. a.: Marxistischer Antileninismus, Freiburg 1991, 19-43.
[2] Vgl. Cajo Brendel: Thesen über die chinesische Revolution, in: Cajo Brendel. Die Revolution ist kein Parteisache. Ausgewählte Texte, ausgewählt und herausgegeben von Andreas Hollender / Christian Frings / Claire Merkord, Münster 2008, 206-248.
Julia Lovell: Maoismus. Eine Weltgeschichte, Berlin: Suhrkamp 2023, 768 S., 20 Farb-, 40 s/w-Abb., ISBN 978-3-518-43116-0, EUR 42,00
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