sehepunkte 24 (2024), Nr. 4

Philipp Kröger: Das vermessene Volk

Die Wissensgeschichte sieht sich dem Vorwurf beliebiger Themenwahl ausgesetzt. Für viele historisch Forschende erscheint das neue Feld wie das sprichwörtliche "Fass ohne Boden", schließlich ist alles in irgendeiner Weise mit Wissen verbunden. Die Erklärungskraft der Wissensgeschichte droht in der Tat in dieser Beliebigkeit unterzugehen, und der Begriff droht zu verwässern. Umgekehrt führen nicht einmal alle substanziellen Arbeiten im wissenshistorischen Feld die Bezeichnung im Titel; so auch die hier besprochene Studie von Philipp Kröger. Dabei zeigt die Dissertation paradigmatisch, wie die wissensgeschichtliche Perspektive einem stark besetzten Forschungsfeld wie der Nationalismusforschung neue Impulse geben kann.

Kulturgeschichtliche Forschungen zu Nationalismen und Statistik untersuchen bereits seit einigen Jahren die Herstellung von Nation, Volk oder Ethnie zwischen Politik und Wissenschaft. Dabei gerät auch die Wirkmächtigkeit dieser Konstrukte in modernen Ordnungsbestrebungen in den Blick. Dagegen geht der Bezug zu Praktiken und Medien verloren, welche die Produktion und Wirkkraft des Wissens aber erst erklären können. Aus diesem Grund betrachtet Kröger die Nationalitätenstatistik und ihre Vorstellungen von Volk und Nation anhand ihrer Praktiken und Politiken.

Der Autor untersucht den Wandel des Nationalen als wissenschaftliches Objekt und interessiert sich besonders für die Dynamik, welche die Wissenschaftler zum gewaltsamen Gestalten des Nationalen veranlassten. Dabei fragt er nach der Art und Weise, in welcher statistische Techniken beim biopolitischen Zugriff an der östlichen Grenze des Deutschen Reichs wirkten. Der Historiker spannt den Bogen von den ersten wissenschaftlichen Bestrebungen ab den 1860er Jahren bis zur Beteiligung eines etablierten akademischen Fachs in der Bevölkerungs- und Siedlungspolitik zur Zeit des Zweiten Weltkriegs.

Kröger begreift die "Quantifizierung des Nationalen als ein Wissensregime" (19). Bei seinem "Blick hinter die Zahlen" (22) wählt er einerseits einen diskursanalytischen Ansatz und untersucht die Sprech- und Denkbedingungen, unter denen Aussagen von Statistikern, Bevölkerungswissenschaftlern und Politikern als "wahr" angesehen wurden. Angeregt durch eine Arbeit von Wolfgang Göderle bewerkstelligt der Autor mit der soziologischen "Akteur-Netzwerk-Theorie" von Bruno Latour eine Rückkopplung zu nationalitätenstatistischen Praktiken und Repräsentationsmedien. Kröger denkt Volkszählungen als "Materialität-Zeichen-Schnittstelle" (25), so dass die von der historischen Forschung oft naiv übernommenen ethnographischen Daten selbst zum Gegenstand der Untersuchung werden: "Dies ermöglichte, die Wissensproduktion und damit die Wirklichkeitskonstruktion der Nationalitätenstatistik nicht allein als Aussagenformationen und damit entkoppelt von der materiellen Welt zu untersuchen, sondern sie als Übersetzungen zu verstehen, die die materielle Welt schrittweise in Daten beziehungsweise Zeichen transformierte und darüber diskursfähig machte." (297-298) Als Quellen dienen der publizistische Output der Nationalitätenstatistiker und das Schriftgut staatlicher Behörden und anderer Institutionen.

Die fünf Kapitel sind chronologisch angeordnet und werfen unterschiedliche ausgewählte Schlaglichter auf den Untersuchungsgegenstand. Im ersten Kapitel zeigt Kröger für die Phase der "Institutionalisierung der Nationalitätenstatistik im langen 19. Jahrhundert", wie und anhand welcher Kriterien das Nationale hervorgebracht wurde. Anschließend erfolgt die Fokussierung auf die "Ostmark" (175) und die Länder an der östlichen Grenze des Reichs, die "insbesondere im 20. Jahrhundert im Zentrum deutscher Expansions- und Neuordnungsfantasien standen" (16).

Im zweiten Kapitel dekonstruiert der Autor die "Einübung des statistischen Blicks nach Osten um 1900" (84) und begründet die nationalitätenstatistische Aufmerksamkeitsverschiebung gen Ostgrenze mit dem Unvermögen der Forscher, dort klare ethnische Grenzen zu ziehen. Die notwendig gewordene dynamische Betrachtung von Grenzen ermöglichte aber auch, eine "Slawische Flut" (177) als nationale Bedrohung zu konstruieren, und eröffnete bevölkerungspolitische Ordnungs- und Expansionsszenarien. Die entstandenen Karten und Statistiken entfalteten, so zeigt Kröger im dritten Kapitel, in zwei Möglichkeitsräumen ihre Wirkkraft als "Denkzeuge": in der preußischen Ansiedlungskommission und bei den Erfassungsbestrebungen im Besatzungsgebiet "Ober Ost" während des Ersten Weltkriegs.

In Kapitel vier betrachtet Kröger den Übergang von der geographisch klar umgrenzten "Ostmark" (175) hin zum imaginierten "deutschen Osten" (175) in der Zwischenkriegszeit. Der Autor verfolgt dabei unter anderem die Suche der Nationalitätenstatistiker nach geeigneten Kriterien für ethnische Zugehörigkeit, die schließlich in den beiden Komplementen subjektiver und rassifizierter Zuordnung resultierte. Das letzte Kapitel "Nationalsozialistische Volkstumspolitik" zeichnet den Funktionswandel der Nationalitätenstatistik ab dem Jahr 1939 nach: von der Erfassung Deutscher außerhalb des Reichs zur "Planung und Umsetzung eines bevölkerungspolitischen Programms" (248). Für den Zeitraum bis 1941 zeigt Kröger den maßgeblichen Einfluss nationalstatistischen Wissens bei der nationalsozialistischen Umvolkungspolitik am Beispiel Warthegau.

Am Ende der Studie steht die Erkenntnis, "dass das Nationale beziehungsweise ethnopolitische Zugehörigkeit nicht widerspruchsfrei erfassbar war und ist" (299), wenngleich der Versuch im Untersuchungszeitraum nie aufgegeben wurde. Im Gegenteil: Indem die Wissenschaftler sich bemühten, die Dynamik ethnographischer Verhältnisse zu erklären, wurden diese Verhältnisse auch zu etwas Gestaltbaren. Aus diesem Grund gilt die Nationalitätenstatistik für den Autor als "eine Bedingung der Möglichkeit jener hier untersuchten Bevölkerungspolitik", indem sie die "Berechnungsgrundlage der Programme lieferte" (301).

Krögers Studie schlägt durch eine wissenshistorische Perspektive die Brücke zwischen Nationalismusforschung und Wissenschaftsgeschichte. Dabei überzeugt die Arbeit durch eine doppelte Stringenz: Zum einen beschränkt sie sich auf wichtige Aspekte und exemplarische Untersuchungsgegenstände. Zum anderen garantiert sie durch eine stetige, fast omnipräsente Rückkopplung an das wissenshistorische Gerüst hohe Verständlichkeit für die verschiedenen Publikumsgruppen. So ist die Lektüre allen empfohlen, die zu verstehen suchen, wie ethnographische Kategorien im Rahmen bevölkerungsstatistischer Erfassungen erzeugt werden und wirken.

Rezension über:

Philipp Kröger: Das vermessene Volk. Nationalitätenstatistik und Bevölkerungspolitik in Deutschlands östlichen Grenzländern 1860-1945 (= Historische Wissensforschung; Bd. 21), Göttingen: Wallstein 2023, 336 S., 17 z.T. Farb-Abb., ISBN 978-3-8353-5382-4, EUR 34,00

Rezension von:
Lukas Alex
Universität Bayreuth
Empfohlene Zitierweise:
Lukas Alex: Rezension von: Philipp Kröger: Das vermessene Volk. Nationalitätenstatistik und Bevölkerungspolitik in Deutschlands östlichen Grenzländern 1860-1945, Göttingen: Wallstein 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 4 [15.04.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/04/38447.html


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