Seit den 1970er Jahren setzt die Geschichtsdidaktik im Bereich historischer Urteilsbildung auf eine Unterscheidung von Sach- und Werturteilen. Indessen belegen empirische Studien zu Schülerurteilen, dass diese von den normativen Ansprüchen der Urteilstypologie weit entfernt sind. Ausgehend vor allem von den Defizitbefunden bei Abiturklausuren wird seit mehr als einer Dekade für den gesamten Bereich der Urteilsbildung ein bewussteres Vorgehen und die Einübung der beiden Urteilstypen gefordert. [1]
Lisa Genthner problematisiert mit ihrer Studie eindrücklich, dass Unsicherheiten jedoch nicht nur Schüler:innen betreffen, sondern auch die Lehrpersonen. Sie sollen Urteilsbildungsprozesse anleiten, haben aber selbst Schwierigkeiten, Sach- und Werturteile nachvollziehbar auseinanderzuhalten. Mit Blick auf die Lehrerbildung und Unterrichtspraxis stellt die Verfasserin drei Forschungsfragen: Welche Bedeutung hat Urteilsbildung aus Sicht der Lehrpersonen für den Geschichtsunterricht? Was verstehen Geschichtslehrkräfte unter Urteilsbildung und was erscheint ihnen in der unterrichtspraktischen Umsetzung besonders wichtig?
Die Aufarbeitung des Forschungsstandes zur Urteilsbildung besticht zunächst durch eine systematische Zusammenschau der unterschiedlichen geschichtsdidaktischen Ansätze in der Theoriebildung, die eine wesentliche Grundlage für die spätere Auswertung des Datenmaterials darstellt. Eine gezielte Verankerung der Studie im Forschungsstrang zu Überzeugungen von Lehrkräften (Beliefs-Forschung) machen das triangulative Forschungsdesign sowie die Auswertungsmethode der qualitativen Inhaltsanalyse nach Udo Kuckartz nachvollziehbar. Befragt wurden 19 Gymnasial- und Gesamtschullehrkräfte aus Niedersachsen. Dabei wurden leitfadengestützte Interviews mit zwei weiteren, praxisorientierten Erhebungsmethoden kombiniert. Um Erkenntnisse zu Unterrichtspraktiken zu gewinnen, wurden alle Lehrkräfte auch um die Beschreibung einer eigenen Unterrichtsplanung gebeten, die Aufschluss darüber gibt, wie sie Urteilsprozesse vorbereiten, im Unterricht anbahnen und gestalten. Außerdem wurde eine Planungsvignette eingesetzt, die von den teilnehmenden Lehrkräften kommentiert wurde. Bei der Konzeption der Vignette zum Thema "Frauen in der DDR" stößt auf, dass über diese die Problematik einer wissenschaftlich überholten Frauengeschichte [2] unerkannt bleibt. Vorrang vor komplexen Geschlechterkonstruktionen und Irritationsmomenten, die historische Urteile herausfordern, hat für die Verfasserin, dass die Unterrichtsstunde "aus fachlicher Sicht offenbar schnell erfassbar sein sollte" (369).
Mit ihrer deskriptiven Bestandsaufnahme hat Lisa Genthner gleichwohl wichtige Befunde zur derzeit intensivierten fachdidaktischen Forschung über Urteilsbildung beigetragen.
Auch ihre Studie konstatiert, dass Lehrkräfte inhaltsorientiert denken und daher historische Urteilsbildung nicht primär verfolgt werde. Explizit auf diese angesprochen werde ihre Wahrnehmung davon geleitet, dass "die tatsächliche Umsetzung von der Idealvorstellung abweiche und es zu Einschränkungen in der Praxis" (354) komme. Zudem schätzten Lehrkräfte die Bedeutung von Urteilsbildung für die Klassenstufen unterschiedlich ein und weisen diese vor allem der Oberstufe zu.
Besonders aufschlussreich sind die Befunde zum Verständnis der Urteilstypen, deren Inkonsistenzen Lehrkräften - ebenso wie Pluralität in der Theoriebildung - nicht bewusst ist. Dass in der Geschichtsdidaktik mit den Konzepten von Ernst Weymar und Karl-Ernst Jeismann sowie dem aus der Politikdidaktik adaptierten Modell von Jörg Kayser und Ulrich Hagemann unterschiedliche kategoriale und zeitliche Verständnisse der Urteilsebenen existieren, erschwere den Transfer methodischer Herangehensweisen in die Praxis. Dabei unterstellten die Lehrpersonen einen klaren Ablauf des Urteilsprozesses im Unterricht, bei dem das Sachurteil immer vor dem Werturteil gefällt werden müsse. Vor-Urteile der Schüler:innen seien für die Lehrkräfte dementsprechend nicht essentiell, die ihre Stunden ausgehend von historischen Inhalten planen. Nahezu alle Befragten gingen davon aus, dass Urteilsbildung am Ende der Geschichtsstunde stattfinden solle. Aus Zeitgründen erfolgt diese dann allerdings oft nur mündlich oder gar nicht mehr.
Eine starke Fokussierung auf die zeitliche Trennung der Urteilsebenen und die Abkehr von Deutungs- und Wertungskategorien wie sie noch bei Weymar und Jeismann konzipiert sind, scheint zudem zu einer gelenkten Urteilsbildung bzw. erwarteten Urteilsübernahme beizutragen. So werde die Sachurteilsbildung häufig eher als Vermittlung von eindeutigem historischem Wissen angesehen. Im Gegensatz dazu fällt der Verfasserin eine Offenheit in der Urteilsbildung "vor allem dann auf, wenn die Trennung von Sach- und Werturteil für die Lehrkraft nicht zentral ist" (357).
In ihrem Fazit zu den theoretischen und pragmatischen Entwicklungsaufgaben der Geschichtsdidaktik plädiert die Verfasserin für mehr unterrichtspraktische Vorschläge und erneut dafür "die Differenzierung von Sach- und Werturteil weiter zu diskutieren und auszuschärfen" (371). Ob dies zum Ziel führt, erscheint jedoch fraglich, da die inzwischen erkannten Leerstellen der Sach- und Werturteilstypologie in Bezug auf die pädagogischen, inhaltlichen, affektiv-emotionalen und ästhetischen Aspekte historischer Urteilsprozesse kaum noch zu ignorieren sind. In der Geschichtsdidaktik werden neuerdings auch andere Urteilstypologien für die Unterrichtsentwicklung zur Debatte gestellt. Diese greifen beispielsweise Vor-Urteile und Deutungsbedürfnisse der Lernenden auf [3] oder nehmen die spezifischen Anforderungen der Bewertung von Geschichtskultur ernst, die immer als Werturteil zu verstehen ist. [4] Die Erkenntnisse der Studie Lisa Genthners haben gleichwohl auch für diese Öffnung der Urteilstypologien enormen Wert.
Anmerkungen:
[1] Bernd Schönemann / Holger Thünemann / Meik Zülsdorf-Kersting (Hgg.): Was können Abiturientinnen? Zugleich ein Beitrag über Kompetenzen und Standards im Fach Geschichte, Münster 2010, hier: 124.
[2] Nadja Bennewitz / Hannes Burkhardt (Hgg.): Gender in Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht. Neue Beiträge zu Theorie und Praxis, Münster 2016.
[3] Peter Starke / Johannes Schmitz: Urteilen ohne Geländer? Eine Typologie historischer Urteilsstrategien ausgehend von den Deutungsbedürfnissen der Lernenden, in: Geschichtsbewusstsein - Geschichtskultur - Public History. Ein spannendes Verhältnis, hgg. von Michele Barricelli / Lale Yildirim, Göttingen 2024, 383-400.
[4] Charlotte Bühl-Gramer: Entscheidungs-Spielräume, Urteile oder Bewertungen? Überlegungen zur Urteilsbildung im Lernbereich Geschichtskultur, in: Geschichtsbewusstsein - Geschichtskultur - Public History. Ein spannendes Verhältnis, hgg. von Michele Barricelli / Lale Yildirim, Göttingen 2024, 353-369, hier: 361.
Lisa Genthner: Urteilsbildung im Geschichtsunterricht. Eine qualitativ-empirische Studie zu Überzeugungen und Praktiken von Lehrkräften (= Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik; Bd. 31), Göttingen: V&R unipress 2023, 391 S., ISBN 978-3-8471-1559-5, EUR 55,00
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