sehepunkte 24 (2024), Nr. 10

Kilian Baur / Robert Trautmannsberger (Hg.): Klio hat jetzt Internet

Ausgehend von der durchaus erfreulichen Tatsache, dass Klio jetzt Internet habe, beschäftigen sich die acht Beiträge des Bandes damit, welchen Geschichtsdeutungen Klio auf Youtube begegnen könnte, wie jene Deutungen entstehen und welche Potentiale sie für den schulischen Geschichtsunterricht bergen. In ihrer Einleitung umreißen die Herausgeber Kilian Bauer und Robert Trautmannsberger die Fragestellungen und stimmen dem Befund von Cord Arendes und Angela Siebold aus dem Jahr 2015 zu, dass Historiker*innen auf Youtube "sowohl im geschichtskulturellen als auch im erinnerungskulturellen Diskurs eine Kontroll- und Förderfunktion zukommen" (8) könne, die jedoch bislang nur rudimentär wahrgenommen werde. Inwiefern dieser Befund acht Jahre später noch Bestand hat, ist angesichts der voranschreitenden digitalen Transformationen von Forschung und Lehre fraglich, denn zahlreiche geschichtswissenschaftliche und geschichtskulturelle Akteur*innen sind auf Youtube aktiv. Sie als Korrektiv zu verstehen, verlagert die Argumente auf eine Debatte um Teilhabe und Partizipation in digitalen Medien, wobei jene (eigentlich) Potentiale bieten, um Diskurse zugänglich zu machen.

Die interdisziplinären Beiträge des Bandes präsentieren "verschiedene methodische Möglichkeiten zur Nutzbarmachung von Youtube für die Erforschung von Geschichts- und Erinnerungskultur" (8), um sich der Präsentation und der Rezeption geschichtsbezogener Inhalte auf Youtube "rein analytisch" (9) zu nähern. Dazu lassen sich die Beiträge drei Schwerpunkten zuordnen: Erstens zu Untersuchungen der Repräsentation historischer Themen auf Youtube (wie der DDR oder dem Mittelalter) oder spezifischen Videoformaten (z.B. Let's Play- oder Erklärvideos), zweitens zur Reflexion des Einsatzes von Youtube im Geschichtsunterricht und drittens zur Perspektive der content creators auf Youtube.

Zur ersten Kategorie zählt der Beitrag von Lea Frese-Renner. Sie zeigt am Beispiel der Geschichte der DDR, inwiefern Youtube als Quelle für zeithistorische Fragestellungen dienen kann. Dazu untersucht sie, welche Videos über die DDR in der Anfangszeit des Portals auf Youtube zu sehen waren und reflektiert das archivalische Potential der Videoplattform. Aus "erinnerungskulturwissenschaftlicher Perspektive" (141) betrachtet Josefine Honke Youtube-Videos von Zeitzeug*innen. Anschaulich arbeitet sie die Opferzentrierung in deutschen Vergangenheitsnarrativen und der Darstellungsästhetik der Videos heraus. Indem Honke die Produktion und die Inszenierung der Zeitzeug*innen-Videos methodisch als Doing Memory versteht, können sie gewinnbringend in verschiedenen erinnerungskulturellen Diskursen verortet werden. Wie sich jene Diskurse in anderen Videoformaten niederschlagen, zeigt Tobias Winnerling in seinem Beitrag: Winnerling skizziert die Geschichte von Let's Play-Videos, mit dem sich geschichtswissenschaftliche Analysen nur in geringem Umfang beschäftigt haben. Er arbeitet "zentrale geschichtskulturelle Praktiken" (109) heraus, um Wissen im Digitalen zu erzeugen und zu verhandeln. Dies geschehe (auch) durch die Kommentare unter den Videos, die er für die Let's Play-Videos zur Spielereihe "Anno" exemplarisch betrachtet und damit einen methodischen Zugang für weitere Untersuchungen entwickelt.

Neben spezifischen Videoformaten rücken andere Beiträge die Lernpotentiale von Youtube in den Mittelpunkt. Ulf Kerber und Franziska Wittau beschäftigen sich aus geschichtsdidaktischer Sicht mit der Plattform. Sie betonen die Bedeutung der Einbindung digitaler Medien in den Geschichtsunterricht und verdeutlichen exemplarisch anhand der Dokumentation "Ukrainian Agony - Der verschwiegene Krieg" verschiedene Kontextualisierungen und Deutungen auf Youtube. Damit liefern die Autor*innen einen sowohl theoretisch anspruchsvollen als auch pragmatisch anschaulichen Impuls zur Reflexion der Bedingungen von Digitalität im Geschichtsunterricht, der sich nicht nur auf verschiedene analytische Zugänge zum Video, sondern auch auf die Rezipient*innen bezieht.

Mit Lernpotentialen von Erklärvideos beschäftigt sich auch der Beitrag von Marie Föllen. Darin untersucht sie die Darstellung der römischen Expansion im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr., indem sie zunächst eine Bestandsaufnahme zur römischen Geschichte auf Youtube vornimmt, um anschließend die Ergebnisse mit der Komplexität fachwissenschaftlicher Forschung zu vergleichen und die Arten der Darstellung in Bezug auf Lernpotentiale zu beurteilen: Youtube biete für die Alte Geschichte "ein vergleichsweise spärliches" Angebot und reproduziere "implizit oder explizit eine 'Meistererzählung'" (129). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Daniel Münchs Analyse eines Erklärvideos von "thesimpleclub" im Hinblick auf dessen empirische Triftigkeit, heuristische Methode und narrative Gestaltung. Die Darstellung der europäischen Expansion durch Christoph Kolumbus erfolge im Erklärvideo personalisiert und weise eine "Oberflächlichkeit in Text und Bild" (170) auf. Koloniale Erzählmuster würden nicht aufgebrochen; stattdessen kennzeichne "ein massives Desinteresse an darstellerischer Tiefe oder (vermeintlichen) Details" (170) das Video. 

Der Frage, welches Geschichtswissen und welche Deutungen auf Youtube dominieren, geht auch Sebastian Kubon nach: Der Autor dokumentiert in seinem Beitrag das Vorgehen des Youtube-Algorithmus', indem sich Kubon "mittels Autoplay durch Youtube treiben" (65) lässt. Die Untersuchung des "Youtube-Mittelalter[s]" (69) bringt zwar keine radikalen Mittelalterbilder, aber interessante Beobachtungen zur Deutung der Epoche in verschiedenen Formaten zutage. Youtube sei dabei "eher 'The Great Verfestiger' von Wikipedia- bzw. Schulbuchwissen" (75), so Kubon, was für weitere Themen zu prüfen sei.

Sandro Andreatta und Roman Schönenberger erläutern anschaulich aus Sicht der Videoproduzierenden des Kanals "SandRhoman Geschichte", wie sie dort seit 2018 "Youtube-Geschichte" (82) produzieren. "[...] eine gut erzählte Story, eine ansprechende Darstellung und moderater Tiefgang" (86) werden als Kriterien für die inhaltliche Gestaltung der Videos benannt, da "Unterhaltung und Wissenschaftlichkeit Hand in Hand" (91) gehen. Diese Verbindung sollte den Autoren zufolge auch bei der kritischen Analyse Beachtung finden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine einleitende Systematisierung der Beiträge wünschenswert gewesen wäre, um die roten Fäden des Bandes herauszuarbeiten und das Potential von Sammelbänden herauszuheben: Ihr Mehrwert liegt in der Vielfalt der Beiträge, durch die - wie in diesem Beispiel geschichtswissenschaftliche und geschichtsdidaktische - Diskurse ausdifferenziert werden. Eine thematische Untergliederung des Bandes hätte Diskursstränge markiert und damit die Impulse stärker betont, die von den Einzelarbeiten ausgehen. Jene sind nämlich lobend hervorzuheben, da die Interdisziplinarität des Bandes nicht nur aus der Disziplinzugehörigkeit der Autor*innen resultiert, sondern auch in den jeweiligen Beiträgen eingelöst wurde: So werden neben den heuristischen Werkzeugen der Geschichtswissenschaft gewinnbringend Impulse aus der Sozioinformatik mit medienwissenschaftlichen Überlegungen zu Merkmalen der Digitalität verknüpft.

Rezension über:

Kilian Baur / Robert Trautmannsberger (Hg.): Klio hat jetzt Internet. Historische Narrative auf Youtube - Darstellung, Inszenierung, Aushandlung (= Medien der Geschichte; Bd. 6), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023, VIII + 180 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-079254-6, EUR 89,95

Rezension von:
Sabrina Schmitz-Zerres
Institut für Didaktik der Geschichte, Universität Münster
Empfohlene Zitierweise:
Sabrina Schmitz-Zerres: Rezension von: Kilian Baur / Robert Trautmannsberger (Hg.): Klio hat jetzt Internet. Historische Narrative auf Youtube - Darstellung, Inszenierung, Aushandlung, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 10 [15.10.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/10/38878.html


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