Im Mittelpunkt dieses konzisen Sammelbandes stehe, so Daniela Münkel im einleitenden Problemaufriss, die zentrale Aufgabe von geheimen Nachrichtendiensten: die politische Beratung ihrer Regierungen. Das verspricht einen hohen Informationsgehalt, weil damit die Existenzgrundlage der Dienste in den Mittelpunkt gerückt wird; warum sonst, wenn nicht zur Erlangung eines Mehrwerts an Wissen im Vergleich zu allen anderen Quellen, die einer Staatsführung zur Verfügung stehen, bedürfte es solcher Apparate? Freilich fällt der intelligence history die Beantwortung dieser Frage oft nicht leicht, da die konkrete Bedeutung nachrichtendienstlichen Handelns für politische Entscheidungen häufig genug kaum zu rekonstruieren und deshalb in ihrem Wirkgehalt nur schwer zu bemessen ist.
Der Band nähert sich seinem Gegenstand auf den Ebenen der Verarbeitung gewonnener Informationen innerhalb der Dienste, der Übermittlung nachrichtendienstlicher Produkte in die Politik und dem Spannungsverhältnis zwischen neutraler Unterrichtung und institutioneller Agenda. Relevant dafür sind auch die Überlieferung und Zugänglichkeit der Unterlagen von Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und Bundesnachrichtendienst (BND) in den Archiven. Die beiden deutschen Dienste stehen mit Ausnahme von zwei Beiträgen über den US-amerikanischen Auslandsgeheimdienst in der Ersten Berlin-Krise und den sowjetischen Militärgeheimdienst zwischen (Zweiter) Berlin- und Kuba-Krise im Mittelpunkt des Buches.
Gleich vier der Beiträge nehmen die Stasi in den Fokus. Stephan Wolf berichtet über die nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 eingeführten Formate des MfS zur Information der Parteiführung auf zentraler und auf Bezirksebene - eine Quellengattung, der heute aufgrund ihres Abnehmers und der gemeldeten Sachverhalte sowohl für die Politik - als auch für die Gesellschaftsgeschichte der DDR einige Bedeutung zukommt. Nachdem die Unterlagen der für Auslandsspionage zuständigen Hauptverwaltung A (HV A) des MfS noch vor der deutschen Einheit weitgehend vernichtet wurden, ließen sich dennoch Kenntnisse über diese DDR-Spionage gewinnen, und zwar mittels der sogenannten Rosenholz-Dateien und dank der Rekonstruktion der SIRA-Datenbank. Einen weiteren Weg beschreibt Sebastian Nagel: nämlich den Zugriff auf Dokumente der HV A, die in den Archiven der früheren polnischen, tschechoslowakischen und bulgarischen Geheimdienste abgelegt wurden. Den mehrfachen Wert dieser neu entdeckten Quellen sieht Nagel in der weiteren Erforschung der Tätigkeit der HV A selbst wie der Zusammenarbeit der Ostblock-Dienste, für die deutsch-deutschen Beziehungen, für den Kalten Krieg und als Ersatz für nicht zugängliche Materialien der früheren Sowjetunion. Der Tätigkeit der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS (ZAIG) und ihrer Vorläufer wendet sich Martin Stief zu und bestimmt deren Rolle im Verhältnis zu anderen Diensteinheiten sowie in der Informationspolitik an die SED-Führung. Indem die Aufgaben der ZAIG beständig erweitert wurden, entwickelte sie sich zum "Funktionalorgan" von Minister Erich Mielke (86), also zum koordinierenden Knotenpunkt der Stasi. Stief liefert einen tiefen Blick in dessen Arbeitsweise, der flankiert wird von Roger Engelmann und Ronny Heidenreich. Beiden Autoren zufolge bestand in der ZAIG "erstmals ein umfassender Überblick, welche Probleme mit welchen Argumenten innerhalb der SED-Führung besprochen wurden". (123) Folgerichtig beantragte die ZAIG, über einen systematischen Rücklauf die Relevanz ihrer Berichte für die politische Ebene feststellen zu können. Dazu ist es nicht gekommen, und es lässt sich bislang auch nicht feststellen, ob und wie diese Informationen für die Entscheidungen der Staats- und Parteiführung von Bedeutung waren. "Handlungsleitend" jedenfalls "wurden MfS-Berichte nur in Ausnahmefällen". (124)
Auch 35 Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR und ihres Geheimdienstes gibt es also noch Neues über die Aktenlage des MfS zu berichten. Umso mehr gilt das für die Archivalien von BND und Bundesamt für Verfassungsschutz. Michael Weins zeichnet deren Überlieferungsbildung nach: die Entwicklung hin zur Übergabe dieser Dokumente aus den Ablagen der Dienste an das Bundesarchiv; die Besonderheiten der Akten hinsichtlich Quellen-, Methoden- und Mitarbeiterschutz sowie schützenswerter Belange von Unterlagen ausländischer Partnerdienste; schließlich rechtliche Grundlagen und Herausforderungen. Zentral ist dabei der Spagat von Regel und Ausnahme bei Anbietepflicht und Abgabepraxis.
Inhaltlich wenden sich der 2024 verstorbene Andreas Hilger und Jost Dülffer dem BND zu: Hilger der Osteuropa-Aufklärung Pullachs (ohne DDR und Sowjetunion in den 1950er Jahren), Dülffer der Einflussnahme des ersten BND-Chefs in Bonn: Das Wirken Reinhard Gehlens war Politikberatung pur, wenngleich nicht gestützt auf seriöse Erkenntnisse der Ostaufklärung, sondern aufgrund vorgeprägter antikommunistischer Ressentiments, die in der westdeutschen Hauptstadt zumindest bis zu Beginn der 1960er Jahre Gehör fanden. Die objektive Feindlage trat hinter das subjektive Feindbild zurück. Beide Texte fassen einige Forschungen der Unabhängigen Historikerkommission zur BND-Geschichte zusammen und belegen, wie wichtig es wäre, die in den 15 Bänden ausgebreiteten Ergebnissein einer im Umfang überschaubaren Monografie zusammenzufassen.
Schließlich nimmt der Sammelband Krisensituationen des Kalten Kriegs in den Blick. Über Reaktionen der Bundesregierung auf den 17. Juni 1953 informiert Michael Hollmann; das hat allerdings bestenfalls dann ganz am Rande mit dem Thema zu tun, wenn in den Worten der Herausgeberin Münkel darauf verwiesen wird, dass sich Bonn in den Tagen des Juni-Aufstandes auf andere Quellen als Geheimdienste stützte. Andreas Etges prüft in seinem Beitrag über die Central Intelligence Agency (CIA) in der Ersten Berlin-Krise ein Urteil ihres ehemaligen Chefhistorikers, dass die Überraschung in Washington über den Mauerbau 1961 wie den Fall des Bauwerks 1989 ein Beleg für die angebliche Taubheit, Blindheit und Sprachlosigkeit seines Dienstes gewesen sei. Für die Abriegelung West-Berlins 1948/49 lässt Etges dieses harsche Urteil nicht gelten. Die noch junge CIA lag mit ihrer Bewertung richtig, dass Moskau auf die Einrichtung einer westalliierten Luftbrücke nicht mit militärischer Gewalt reagieren würde. Gleichzeitig sagte sie die desaströsen Folgen amerikanischer Sanktionen für die ostdeutsche Stahl- und Lebensmittelproduktion zutreffend voraus und konnte über Streitigkeiten in der sowjetischen Militärverwaltung und mit der Ost-Berliner Führung berichten. Dank dieser Informationen erkannte Washington, dass alle Maßnahmen unterhalb des Einsatzes eigener militärischer Mittel nicht zu einem Krieg führen würden; ein früher Erfolg des Dienstes.
In ähnlicher Weise kann Matthias Uhl am Beispiel der Hauptverwaltung Aufklärung des sowjetischen Generalstabes zeigen, dass Moskaus Militärgeheimdienst mit einem umfangreichen Netz von Agenten den Kreml ausführlich über das Nuklearpotenzial der Amerikaner unterrichtete. Das so gewonnene Lagebild aus zum Teil streng geheimen NATO-Dokumenten mündete in der Einsicht von Staats- und Parteichef Chruschtschow, dass eine militärstrategische Auseinandersetzung mit den USA zu diesem Zeitpunkt nur zu verlieren war, und bremste seine weitgehenden Ambitionen sowohl in der Zweiten Berlin-Krise als auch in der Kuba-Krise ein.
Aufschlussreich an den Darlegungen von Etges wie Uhl ist der immanente Hinweis auf die kriseneindämmende, ja friedenserhaltende Rezeption nachrichtendienstlicher Tätigkeit in Washington und Moskau. Anders stellt sich die Problematik in einem der stärksten Beiträge des Bandes dar: Jens Schöne zeigt in seiner Erkundung nachrichtendienstlichen Wissens und Handelns im ländlichen Raum der DDR vergleichend auf, wie sich die Rolle des MfS 1953 und nach 1982 vollkommen gewandelt hat: Anfang der 1950er Jahre gelang es dem Staatssicherheitsdienst nicht, seiner Kontrollfunktion in der Landwirtschaft nachzukommen. Insofern war er ein "Totalausfall" und konnte nichts zur Stabilisierung der SED-Herrschaft vor Ort tun (207). Dreißig Jahre später berichtete das MfS über die inzwischen katastrophale Lage der DDR-Landwirtschaft fachkundig und nah an der Realität. Der Einzug einer Schattenwirtschaft wurde politisch jedoch schon deshalb akzeptiert, weil die Nahrungsmittelversorgung der DDR davon abhängig war. Warnungen des MfS wurden von der SED-Führung auch deshalb nicht aufgegriffen. "Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Wissen und Kommunikation allein für einen Geheimdienst nicht ausreichen, um seine Aufgaben zu erfüllen. Mehr noch: Nicht-Wissen und Wissen können durchaus zu einem ähnlichen Ergebnis führen - dann nämlich, wenn die Politik auf die Beratung nicht reagiert, Empfehlungen nicht mehr umsetzen kann oder will". (211)
Mit Schönes Erkenntnis - die ein Kernproblem in der Tätigkeit aller geheimen Dienste anspricht - schließt der Sammelband an die Frage nach den Wirkmechanismen und Wahrnehmungen nachrichtendienstlicher Tätigkeit für "die große Politik" an, die weiter relevant bleibt.
Daniela Münkel / Ronny Heidenreich / Martin Stief (Hgg.): Geheimdienste, Politik und Krisen im Kalten Krieg (= Analysen und Dokumente; Bd. 61), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2025, 219 S., 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-30280-4, EUR 20,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.