sehepunkte 25 (2025), Nr. 5

Rüdiger Wenzke: Vom Straflager zum NVA-Knast

Der Militärstrafvollzug war bis 1989/90 ein Tabuthema und gehörte auch noch zwei Jahrzehnte nach der deutschen Einheit zu den weitgehend unerforschten Kapiteln der Geschichte der DDR. So konnte vor allem das zwischen 1968 und 1990 in der uckermärkischen Kleinstadt Schwedt untergebrachte Strafvollzugskommando einen geradezu legendären Ruf erlangen. Hier wurden zu Strafarrest von bis maximal sechs Monaten sowie Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren verurteilte Angehörige der Nationalen Volksarmee (NVA) und anderer bewaffneter Organe inhaftiert. Ab 1982 kamen außerdem Disziplinararrestanten hinzu, die von Kommandeuren ab Regimentsebene aufwärts - ohne Gerichtsverfahren - mit bis zu drei Monaten "Dienst in der Disziplinareinheit" bestraft worden waren.

Zwar war Schwedt praktisch jedem Soldaten in der DDR ein Begriff. Über Lebensbedingungen und Alltag der Inhaftierten war hingegen kaum etwas bekannt. Wer von dort in die Truppe zurückkam, erzählte in der Regel nichts über seine Haftzeit. Umso wilder waren daher die Gerüchte, die über die Bedingungen im Militärstrafvollzug kursierten. Der so entstandene Mythos von der "Hölle Schwedt" wurde schon bald durch die militärischen Vorgesetzten bewusst gepflegt und gezielt zur Disziplinierung der Truppe genutzt.

Erst in den 2010er Jahren wurde der 1954 bis 1968 im Haftarbeitslager Berndshof bei Ueckermünde und dann bis 1990 in Schwedt an der Oder untergebrachte Militärstrafvollzug der DDR zum Gegenstand systematischer historischer Forschung. Nun erschienen in rascher Folge mehrere Arbeiten zum Lager Berndshof, zur Baugeschichte des Militärgefängnisses in Schwedt sowie zur Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) im militärischen Strafvollzug.

Grundlegend war jedoch vor allem die 2011 von Rüdiger Wenzke vorgelegte erste Gesamtdarstellung zum Komplex DDR-Militärstrafvollzug [1]. Wenzke hat seine Pionierstudie nun um einen handlichen Dokumentenband ergänzt, der "sich vor allem an historisch Interessierte [richtet], die sich mit der 'bürokratischen' Geschichte von Disziplinierung und Repression in der SED-Diktatur und speziell in der NVA befassen" (33).

Der Band gliedert sich in zwei Hauptteile. In einer übersichtlich gehaltenen Einleitung gibt Wenzke zunächst einen allgemeinen Abriss der Geschichte der NVA und geht dann auf den Repressionsapparat in den Streitkräften ein, bevor er den Militärstrafvollzug selbst näher thematisiert. Am Ende dieses ersten Teils steht eine Zeittafel, welche die Entwicklung des Militärstrafvollzuges in der DDR von den ersten Vorbereitungen 1950 bis zu seiner Auflösung 1990 veranschaulicht.

Der Dokumententeil umfasst 75 Dokumente des Ministeriums für Nationale Verteidigung (MfNV), des Ministeriums des Innern (MdI) sowie des MfS der DDR aus den Beständen des Bundesarchivs Berlin-Lichterfelde, des Stasi-Unterlagen-Archivs im Bundesarchiv Berlin-Lichtenberg, des Bundesarchiv-Militärarchivs Freiburg im Breisgau sowie des Brandenburgischen Landeshauptarchivs in Potsdam, nebst Dokumentenverzeichnis und editorischen Hinweisen.

Rüdiger Wenzke hebt explizit hervor, dass es sich bei dem Band um eine "wissenschaftliche Dokumentensammlung" und nicht um eine "Quellenedition" handelt. Dementsprechend ist der editorische Apparat knapp gehalten und das Erscheinungsbild des jeweiligen Dokuments wird nicht in allen Einzelheiten wiedergegeben. So entfielen Anreden, Grußformeln und Betreffzeilen ebenso wie handschriftliche Kommentierungen. Etwaige Kürzungen wurden in eckige Klammern gesetzt. Dafür haben alle Dokumente ein einheitlich gestaltetes Kopfregest bestehend aus einem fettgedruckten schlagwortartigen Hinweis auf den Dokumenteninhalt, zweitens einer redaktionellen Überschrift mit Angaben zu Art, Verfasser, Inhalt, vormaligem Geheimhaltungsgrad und Datum des jeweiligen Schriftstücks sowie drittens den Angaben zum aufbewahrenden Archiv und der dortigen Signatur.

Bei den Dokumenten handelt es sich um Vorschriften, Befehle und Arbeitspläne, Protokolle und Berichte sowie die Korrespondenz der beteiligten Institutionen. Die Dokumente geben somit in erster Linie Einblick in den institutionellen Umgang mit delinquentem oder auch nur deviantem Verhalten in den Streitkräften der DDR sowie die damit verbundenen interinstitutionellen Friktionen und Konflikte.

Letztere sind besonders interessant. So beklagte sich einerseits die Verwaltung Strafvollzug des MdI darüber, dass die für die Erziehung der Gefangenen neben schwerer körperlicher Arbeit vorgesehene militärische Ausbildung und politische Schulung nicht in der vereinbarten Weise durch die Streitkräfte unterstützt würden, während diese andererseits wiederkehrend die Qualität der Ausbildung bemängelten.

Bezeichnend ist, dass MdI und MfNV die Zuständigkeit für den Militärstrafvollzug dem jeweils anderen Ministerium zuschieben wollten, was 1963 zu einem denkwürdigen Konflikt zwischen Innenminister Karl Maron und Verteidigungsminister Heinz Hoffmann führte. Nach Anrufung des zuständigen Sekretärs für Sicherheitsfragen im Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Erich Honecker, wurde sie dem Verantwortungsbereich des MdI zugeordnet. Erst 1982 wechselte der Militärstrafvollzug "auf ausdrücklichen Wunsch der NVA-Führung" (1) in die Zuständigkeit des MfNV. Die dahinterstehenden Motive bleiben jedoch im Dunkeln. Hier wäre ein erläuternder Kommentar des Herausgebers hilfreich gewesen.

Bemerkenswert sind schließlich die Zeugnisse widerständigen Verhaltens der Militärstrafgefangenen. Hier zeigen sich etwa am Beispiel der 1965 wegen Wehrdienstverweigerung inhaftierten Zeugen Jehovas sehr deutlich die Grenzen des verfolgten Umerziehungskonzeptes, während der Streik der Gefangenen Anfang Dezember 1989 das Ende des militärischen Strafvollzuges in der DDR einleitete, das mit dem Befehl Nr. 80/90 zur Auflösung der Disziplinareinheit 2 vom 31. Mai 1990 dann auch formal besiegelt wurde.

Insgesamt bildet die vorliegende Dokumentensammlung mit zahlreichen Detailinformationen und authentischem Sprachduktus eine sinnvolle Ergänzung der bisherigen Forschungsliteratur. Grundlegend neue Erkenntnisse zum Themenkomplex Militärstrafvollzug in der DDR sollte man indes nicht erwarten.


Anmerkung:

[1] Rüdiger Wenzke: Ab nach Schwedt! Die Geschichte des DDR-Militärstrafvollzugs, Berlin 2011 - sehepunkte-Rezension: https://www.sehepunkte.de/2011/12/20105.html

Rezension über:

Rüdiger Wenzke: Vom Straflager zum NVA-Knast. Dokumente zur Geschichte des DDR-Militärstrafvollzugs (= Militärgeschichte der DDR; Bd. 29), Berlin: Ch. Links Verlag 2024, VI + 247 S., ISBN 978-3-96289-219-7, EUR 35,00

Rezension von:
Christian Th. Müller
Universität Potsdam
Empfohlene Zitierweise:
Christian Th. Müller: Rezension von: Rüdiger Wenzke: Vom Straflager zum NVA-Knast. Dokumente zur Geschichte des DDR-Militärstrafvollzugs, Berlin: Ch. Links Verlag 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 5 [15.05.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/05/39683.html


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