sehepunkte 25 (2025), Nr. 1

Jan-Otmar Hesse: Exportweltmeister

Die Exportorientierung der deutschen Wirtschaft ist in diesen Monaten in den Medien wieder sehr präsent. Die langanhaltende wirtschaftliche Stagnation ist unmittelbar mit dieser Exportorientierung verbunden, sei es über Nachfrageschwäche in einigen Exportmärkten, sei es über einen verschärften Wettbewerb durch aufstrebende Konkurrenten in Kernbranchen der deutschen Industrie wie im Fall China bei Automobilen und im Maschinenbau. Der Wahlsieg von Donald Trump und die von ihm angekündigten Zölle drohen diese Stagnation noch zu verlängern. Umso erfreulicher ist, dass mit dem neuen Buch von Jan-Otmar Hesse erstmals eine umfassende Bestandsaufnahme der historischen Herausbildung des exportorientierten Wirtschaftsmodells vorliegt.

Nach einer kurzen Einführung in die Theorie internationaler Wirtschaftsbeziehungen und in die Strukturen der deutschen Exportwirtschaft - etwa in Bezug auf die Gütertypen und regionalen Absatzmärkte - ist das Buch chronologisch gegliedert. Ein Kapitel beschäftigt sich mit der Herausbildung der deutschen Exportorientierung im Kaiserreich und diesbezüglichen Kontinuitäten - trotz Autarkiepolitik - im NS-Staat. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit "Deutschlands Rückkehr zum Weltmarkt" nach der Gründung der Bundesrepublik, während ein weiteres zentrales Kapitel auf die späteren Herausforderungen durch die Einführung des Euros und durch die Intensivierung der Globalisierung fokussiert.

Die Vorgehensweise des Buchs ist extrem faktengesättigt, der Tonfall nüchtern und sehr gut verständlich. Hesse trägt eine Unzahl von Informationen zusammen, um die deutsche Exportorientierung zu beschreiben und zu erklären. Das Buch wird damit zur Pflichtlektüre für alle diejenigen, die sich für das deutsche Wirtschaftsmodell interessieren. Das gilt nicht nur für die Wirtschaftsgeschichte (Hesses eigene Disziplin), sondern auch für Sozialwissenschaften wie die Vergleichende Politische Ökonomie und die Wirtschaftssoziologie. Hier hat die Beschäftigung mit dem deutschen Wirtschaftsmodell in den letzten drei Jahrzehnten eine sehr zentrale Rolle eingenommen, beispielsweise im Rahmen der Diskussionen zur kapitalistischen Vielfalt und zu den unterschiedlichen länderbezogenen Wachstumsmodellen. Die dort entwickelten Modelle einer koordinierten Marktökonomie bzw. eines exportorientierten Wachstumsmodells erhalten durch Hesses Buch endlich eine umfassende historische Grundierung. Es reiht sich hier gut ein in eine Beschäftigung mit Wirtschaft, die nicht nach hochabstrakten allgemeinen Gesetzmäßigkeiten strebt, sondern die Besonderheiten nationaler Institutionen reflektiert.

Hesses Buch zur deutschen Obsession ist jedoch nicht nur für das Fachpublikum gut zu lesen, zumal immer wieder interessante historische Anekdoten eingestreut werden, die die Ursachen und Folgen der Exportorientierung anschaulich machen. Als Sozialwissenschaftler wünscht man sich mitunter allerdings eine etwas stärkere Hervorhebung des roten Fadens oder auch einen Bezug zu übergeordneten theoretischen Kontroversen in Gesellschaftswissenschaften und Ökonomie, um den Daten- und Faktenreichtum etwas zu bändigen, auch Zwischenzusammenfassungen wären hilfreich gewesen (nur zwei Kapitel enthalten solche Resümees).

Sehr erfreulich ist allerdings, dass Hesse die Diskussion der deutschen Exportorientierung nicht nur eng fokussiert auf die Exportförderung im engeren Sinne - also beispielsweise Exportkredite oder die deutsche Positionierung in der Europäischen Gemeinschaft (EG) und im General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) - sondern das Exportmodell etwas weiter in einen politischen und ökonomischen Kontext einbettet. Wichtig ist hier beispielsweise die enge Wechselwirkung zwischen dem Exportmodell und Währungsfragen (Kapitel 5), die in einer konventionellen Perspektive, die beispielsweise stark auf die Qualität der deutschen Exportprodukte abstellt, häufig ignoriert wird. Arbeiten aus der Vergleichenden Politischen Ökonomie, beispielsweise von Martin Höpner, haben gezeigt, dass die deutsche Exportwirtschaft sich durchgehend für eine Unterbewertung der Deutschen Mark eingesetzt hat, zunächst im System von Bretton Woods und später im Europäischen Währungssystem, bis die Einführung des Euros das Problem nachhaltig milderte. Diese Debatte wird hier historisch ergänzt, beispielsweise durch eine Diskussion des "Währungsdumpings" (127) in der Inflationsphase der Weimarer Republik.

Das Buch rezipiert allerdings die Diskussion der Vergleichenden Politischen Ökonomie nur selektiv. Während Höpners Befunde zur deutschen Unterbewertungspolitik gespiegelt werden, fehlt über lange Strecken die - zur Einordnung des deutschen Exportmodells wohl noch wichtigere - Diskussion des Zusammenhangs zwischen der Exportwirtschaft und der Kompression von Löhnen und Investitionen in der Binnenwirtschaft, wie sie etwa Lucio Baccaro und Jonas Pontusson in ihren Studien über europäischen Wachstumsmodelle hervorgehoben haben, auch wenn dies immer wieder am Rande anklingt und im Schlusskapitel als "verteilungspolitische Schieflage" auch explizit thematisiert wird. In den Hauptkapiteln hätte Hesse allerdings noch viel deutlicher darauf hinweisen können, dass der Erfolg der kostensensitiven Exporte nicht nur auf einer niedrig bewerteten Währung beruht, sondern auch auf einer Kompression der deutschen Binnennachfrage. Damit entfällt dann zumeist auch eine Diskussion von wirtschaftspolitischen Alternativen zum Exportmodell, und es entsteht der etwas fatalistische Eindruck, dass jenes kaum vermeidbar gewesen sei, zumal angesichts der langfristigen historischen Prägung.

Verbunden mit dieser Auslassung ist noch eine weitere, nämlich jene zu den gesellschaftlichen Gruppen, die die negativen Folgen des Exportmodells tragen mussten. Der Fokus des Buchs ist eindeutig auf jenen Kräften, die das Exportmodell stützen (eine im historischen Maßstab erstaunlich stabile Koalition von Exportunternehmern und Ministerialbürokratie), während die Abwesenheit von Opposition zu diesem einseitigen Wirtschaftsmodell nur am Rande thematisiert wird. Es ist ja eigentlich ein Rätsel, warum sich die gesellschaftlichen Gruppen, deren materielle Position unter dem Exportmodell litt, sich nicht gegen dieses Modell auflehnten, zumal ja nicht einmal ein Viertel der deutschen Beschäftigten im Exportsektor tätig waren und sind. So leben wir als Volkswirtschaft seit Jahrzehnten unter unseren Verhältnissen, während die Erträge der deutschen Leistungsbilanzüberschüsse einer vergleichsweise kleinen Gruppe von Unternehmenseignern und hochbezahlten Arbeitskräften in der Exportwirtschaft zugutekommen.

Diese kleineren Monita sollen aber nicht davon ablenken, dass mit "Exportweltmeister" erstmals eine umfassende und faktengesättigte Darstellung der "deutschen Obsession" und ihrer historischen Entstehung vorliegt. Der Kernbotschaft des Bandes, dass bei aller Faszination für den unglaublichen Aufstieg der deutschen Exportwirtschaft das einseitig obsessive Wirtschaftsmodell trotzdem zu negativen Folgen führt, ist jedenfalls ein sehr breites Publikum zu wünschen.

Rezension über:

Jan-Otmar Hesse: Exportweltmeister. Geschichte einer deutschen Obsession, Berlin: Suhrkamp 2023, 447 S., ISBN 978-3-518-43134-4, EUR 28,00

Rezension von:
Andreas Nölke
Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Nölke: Rezension von: Jan-Otmar Hesse: Exportweltmeister. Geschichte einer deutschen Obsession, Berlin: Suhrkamp 2023, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 1 [15.01.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/01/39145.html


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