Rezension über:

Daniel Bernsen / Ulf Kerber (Hgg.): Praxishandbuch Historisches Lernen und Medienbildung im digitalen Zeitalter, Leverkusen: Barbara Budrich 2017, 447 S., ISBN 978-3-8474-2033-0, EUR 36,00
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Rezension von:
Christopher Friedburg
Seelze-Velber
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Christopher Friedburg: Rezension von: Daniel Bernsen / Ulf Kerber (Hgg.): Praxishandbuch Historisches Lernen und Medienbildung im digitalen Zeitalter, Leverkusen: Barbara Budrich 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 1 [15.01.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/01/30163.html


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Daniel Bernsen / Ulf Kerber (Hgg.): Praxishandbuch Historisches Lernen und Medienbildung im digitalen Zeitalter

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Welche Folgen hat der digitale Wandel für Geschichtsunterricht, Geschichtsdidaktik und Geschichtswissenschaft? Wie sollen sich Akteure und Institutionen der historischen Bildung mit Blick auf den medialen Umbruch positionieren? Diese Fragen sind bereits seit längerer Zeit Gegenstand vielfältiger Überlegungen. Die Strategie der Kultusministerkonferenz "Bildung in der digitalen Welt" hat diesen Positionierungs-Prozess nun für das Feld der Unterrichtspragmatik weiter vorangetrieben und katalysiert. Das 2016 erschienene Papier fordert, dass "Medienbildung integraler Bestandteil aller Unterrichtsfächer sein" soll und wünscht sich eine systematische Einbindung der "digitalen Welt" in Lehr- und Lernprozesse (13). [1]

Mit Blick auf diese Forderungen haben Daniel Bernsen und Ulf Kerber das "Praxishandbuch Historisches Lernen und historische Medienbildung im digitalen Zeitalter" herausgegeben, das inzwischen auch in die Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung aufgenommen wurde. [2] Es soll exemplarisch aufzeigen, wie eine Integration digitaler Medienbildung in den Geschichtsunterricht gelingen kann. Für einige Beiträge haben die Herausgeber gezielt Medienpädagogen angefragt, um "von außen Anregungen für kreative Medienarbeit" (18) zu ermöglichen und der fächerintegrativen Förderung von Medienbildung gerecht zu werden. Der Sammelband versteht sich dabei als eine "Momentaufnahme" im laufenden Digitalisierungsprozess. Er soll "einen Überblick geben, wie sich unter den Bedingungen der Digitalität die Darstellung von Geschichte, der Zugang zu Quellen und Darstellungen und das Geschichtslernen inner- und außerhalb der Schule verändern" (14).

Die Bündelung dieser vielfältigen und voraussetzungsvollen Stränge erfolgt über vier Hauptteile. Im theoriegeleiteten ersten Kapitel stellen die Herausgeber ihre Überlegungen zu Grundlagen historischen Lernens mit digitalen Medien vor. Nach einer kurzen Einführung in den Stand der Forschung folgen medientheoretische Überlegungen hinsichtlich eines geschichtsdidaktischen Medienbegriffs unter Berücksichtigung des Digitalen, die "in Form eines kommunikativ-kritischen Medienkulturbegriffs" (32) in ein transdisziplinäres (Kompetenz-)Modell historischer Medienbildung münden. Dieses Modell definiert Aufgaben und Inhalte, die in überfachliche "medienpädagogische Handlungsfelder" (Medienwirkungsanalyse, Medienkritik, Narration und Mediendidaktik) und "geschichtsdidaktische Inhaltsbereiche" (Mediengattung und historische Wirklichkeitskonstruktion, Mediengeschichtskultur, Medienhistoriographie) aufgeteilt werden.

Das zweite Kapitel beschreibt den digitalen Wandel in Geschichtswissenschaft, Geschichtskultur und Geschichtslernen anhand ausgewählter Themenfelder wie Archive 2.0, Erinnerungskultur online oder Augmented Reality. Dieser repräsentative Querschnitt bietet eine Orientierung angesichts der aktuellen technischen Möglichkeiten von Geschichtsvermittlung im schulischen und außerschulischen Bereich. Die Beiträge in diesem Teil des Handbuchs sind unterschiedlich stark auf die Schulpraxis bezogen.

Das dritte Kapitel stellt digitale Quellen, Darstellungen und Unterrichtsmaterialien vor, darunter subsumiert der Band unter anderem Digital Storytelling, freie Bildungsmaterialien oder 3D-Modelle und Visualisierungen. Die Ideen sind anregend, aber mitunter recht voraussetzungsreich, was sowohl die technische Ausstattung der Schulen als auch die Kompetenzen der Lehrkräfte anbelangt. Nicht immer ist schlüssig, inwieweit der zu erwartende Aufwand einen Nutzen für das Historische Lernen aufwiegt - die Frage stellt sich beispielsweise im Falle des Einsatzes Geographischer Informationssysteme (GIS) im Beitrag zur digitalen Kartenarbeit von Markus Igel.

Kapitel vier konkretisiert als Abschluss praktische Umsetzungsvorschläge für den Einsatz von Kompetenzen, Methoden und Werkzeugen historischen Lernens mit digitalen Medien. Die hier versammelten Beiträge geben zum Beispiel Anregungen für die Arbeit mit digitalen Quellen, Karten, WebQuests, Präsentationen oder Zeitleisten. Dieser Abschnitt bietet erfahrungsgesättigte Vorschläge für die eigene Unterrichtspraxis.

Mit Blick auf den Gesamt-Band ist die Pionierarbeit der Herausgeber sowie der Autorinnen und Autoren lobend hervorzuheben, die sich der Mammutaufgabe gestellt haben, einen möglichst umfassenden Überblick über die heterogenen und dynamischen Handlungsfelder zu geben, die vom digitalen Wandel betroffen sind. Die 40 Beiträge - das klassische "Handbuch Medien im Geschichtsunterricht" kommt im Vergleich noch mit 22 Beiträgen aus [3] - bieten prägnante Zusammenfassungen, die sich besonders mit Blick auf das schnelle Recherchieren zur Unterrichtsvorbereitung eignen. Diese Leistung ist umso bemerkenswerter, da sich anhand der vielfältigen Möglichkeiten digitaler Medien auch die Anforderungen an eine historisch-politische Bildung im 21. Jahrhundert häufen. Allerdings leidet die Übersichtlichkeit der Systematik stellenweise - trotz hilfreicher Querverweise - an einer fehlenden kategorialen Trennschärfe, sodass es kapitelübergreifend zu inhaltlichen Redundanzen kommt.

Ein größeres Manko des Bandes ist das - von den Herausgebern auch eingeräumte - Fehlen empirisch abgesicherter Grundlagen hinsichtlich der aufgestellten Annahmen. Daraus ergibt sich ein immer wieder aufscheinendes argumentatives Paradoxon. So betont Kerber beispielsweise, dass bestehende geschichtsdidaktische Methoden für Lernanlässe mit und über Medien nicht ausreichten, da ihre Medienanalyseschemata - wie zum Beispiel die Bildanalyse nach Sauer oder Pandel - zu simpel seien und kaum empirisch belegte Medienwirkungs- und Mediensozialisationseffekte miteinbeziehen würden (53). Allerdings kann mit empirischen Befunden bislang auch nicht belegt werden, dass der Einsatz digitaler Methoden und Medien tatsächlich einen größeren Lernerfolg für das Historische Lernen ermöglicht. Dies berührt einen grundlegenden Punkt des aktuellen Diskurses: Inwieweit liefern die beschriebenen Kompetenzen, Methoden und Werkzeuge wesentliche Vorteile, die eine stärkere Öffnung des Fachs für Medienbildung - womöglich auf Kosten eines bestehenden geschichtsdidaktischen Kerns, elementarer Inhalte und etablierter Arbeitsweisen - rechtfertigen? Ohne entsprechende Studien bleibt dies vorerst eine (wissenschafts- und bildungspolitische) Glaubensfrage.

Das Handbuch betont diesbezüglich eine digital gestützte Lehr- und Lernkultur, die vor allem durch Chancen und Potenziale geprägt ist. Probleme der Nutzung (die im Alltag ganz banal bei anfälliger Technik und oft nicht ausreichender schulischer IT-Infrastruktur beginnen) werden zwar thematisiert und reflektiert. Dennoch kommen sie stellenweise etwas kurz oder werden an etablierte Medien externalisiert - zum Beispiel im Beitrag zur Visual History von Nadja Braun, dessen Unterkapitel "Probleme" sich auf eine Schulbuch- und Verlags-Kritik beschränkt (123 f.). Eine konsequentere Einbindung potentieller Fallstricke und die ergänzende Skizzierung alternativer Forschungsperspektiven hätten die Gesamtdarstellung abrunden können, zumal eine messbare Zurückhaltung von Geschichtslehrkräften hinsichtlich des Einsatzes digitaler Medien in Lehrprozessen nicht von der Hand zu weisen ist. [4] Dies deckt sich mit den Ergebnissen einer neuen Studie der Bertelsmann-Stiftung zur digitalen Bildung, nach der nur "weniger als ein Viertel (23 Prozent) der Lehrer" glaube, dass sich durch den Einsatz digitaler Medien die Lernergebnisse der Schüler verbessern. [5]

Wie sich der mediale Umbruch in den nächsten Jahren auf den Geschichtsunterricht auswirken wird, bleibt eine spannende Frage für die Geschichtsdidaktik. Mit ihrem "Praxishandbuch Historisches Lernen und Medienbildung im digitalen Zeitalter" haben Bernsen und Kerber einen anregenden und informativen Band publiziert, der im offenen Prozess der Digitalisierung zu weiterführenden fachdidaktischen Überlegungen und Diskussionen führen wird. Er könnte dabei helfen, das Manko fehlender praxisnaher Konzepte für den digitalen Medieneinsatz im Fach Geschichte zu beheben und bietet sich darüber hinaus als gute Ausgangsbasis für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der "digitalen Welt" an.


Anmerkungen:

[1] Kultusministerkonferenz: Bildung in der digitalen Welt. Strategie der Kultusministerkonferenz. 2016, S. 23f.; online abrufbar unter: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2016/Bildung_digitale_Welt_Webversion.pdf (zuletzt aufgerufen am 23.12.2017).

[2] Daniel Bernsen / Ulf Kerber (Hgg): Praxishandbuch Historisches Lernen und Medienbildung im digitalen Zeitalter, Bonn 2017.

[3] Gerhard Schneider / Hans-Jürgen Pandel (Hgg): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht, 7. Auflage, Schwalbach / Ts. 2017.

[4] So konstatierten Roland Bernhard und Christoph Kühberger auf der Tagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik 2017, dass der Geschichtsunterricht im Großraum Wien größtenteils mit traditionellen Medien wie dem Schulbuch gestaltet werde und der prozentual höchste Anteil der digitalen Mediennutzung durch den Beamer abgedeckt würde. Roland Bernhard und Christoph Kühberger: Die Verwendung traditioneller und digitaler Medien im Geschichtsunterricht. Empirische Befunde. Vortrag vom 29.09.2017 auf der KGD-Tagung "Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert", 28.-30.09.2017 in Berlin. Abstract online abrufbar unter: http://www.kgd2017.de/frontend/converia/media/KGD_2017/Bernhard_Ku__hberger.pdf (zuletzt aufgerufen am 23.12.2017).

Dass Medien im Geschichtsunterricht keine eigenständigen Akteure darstellen, sondern der Lehrkraft und deren inhaltlichen und methodischen Überlegungen untergeordnet sind, legten die von Waltraud Schreiber und Christiane Bertram auf der Berliner KGD-Tagung vorgestellten Studienergebnisse zum Einsatz des mBooks in der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens nahe. Auch Lehrkräfte, die das digitale Schulbuch regelmäßig nutzten, druckten Material mitunter aus oder präsentierten es auf andere Art und Weise jenseits des Tablets. Waltraud Schreiber und Christiane Bertram: Ein multimediales Schulgeschichtsbuch in der Anwendung. Wie Empirie hilft, Geschichtsunterricht besser zu verstehen. Vortrag vom 29.09.2017 auf der KGD-Tagung "Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert", 28.-30.09.2017 in Berlin. Abstract online abrufbar unter: http://www.kgd2017.de/frontend/converia/media/KGD_2017/Schreiber_Bertramm.pdf (zuletzt aufgerufen am 23.12.2017).

[5] ZEIT ONLINE: Lehrer misstrauen Lernerfolg durch digitale Medien, http://www.zeit.de/digital/2017-09/schule-digitalisierung-bildung-bertelsmann-studie, 15.09.2017 (zuletzt aufgerufen am 23.12.2017).

Christopher Friedburg