Rezension über:

Jerzy Pysiak: The King and the Crown of Thorns. Kingship and the Cult of Relics in Capetian France, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2021, 566 S., ISBN 978-3-631-83264-6, EUR 84,40
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Rezension von:
Ralf Lützelschwab
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Lützelschwab: Rezension von: Jerzy Pysiak: The King and the Crown of Thorns. Kingship and the Cult of Relics in Capetian France, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2021, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 7/8 [15.07.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/07/38041.html


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Jerzy Pysiak: The King and the Crown of Thorns

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Nicht immer zählte sie zu den bedeutendsten Passionsreliquien. Die Dornenkrone Christi gewann jedoch spätestens zu dem Zeitpunkt an internationalem Format, als es Ludwig IX. von Frankreich gelang, sich dieses Prunkstück aus der Kapelle des lateinischen Kaisers von Konstantinopel zu sichern. 1239 wurde sie aus dem Bukoleonenpalast (mit einem kleineren Umweg über Venedig) nach Paris überführt - in den Jahren 1241 und 1242 sollten sich zwei weitere Reliquientranslationen anschließen. Weitere exquisite Christusreliquien gelangten so in den Westen. Die Kaiserkapelle am Bosporus war nun ihrer besten Stücke beraubt. Die hohen Summen, die im Rahmen dieser Verschiebepolitik flossen, konnten den Zusammenbruch des Kaiserreichs jedoch nur hinauszögern, nicht verhindern. Für den nun in Paris konzentrierten Reliquienhort, den kostbarsten der gesamten Christenheit, wurde die Sainte-Chapelle errichtet und 1248 geweiht. In seiner ursprünglich auf Polnisch verfassten Dissertation holt Jerzy Pysiak weit aus. Die komplexe Vorgeschichte des spektakulären Reliquienerwerbs durch Ludwig IX. interessiert ihn mindestens ebenso sehr wie der Erwerb selbst - wobei der Begriff "Vorgeschichte" chronologisch denkbar weit gefasst wird und bis in die Karolingerzeit hinein zurückreicht. So führt die Arbeit zwei unterschiedliche Probleme innerhalb der Geschichte des kapetingischen Königtums zusammen: zum einen die apokryphe Legende des 11. Jahrhunderts über eine vermeintlich bereits unter Karl dem Großen im 9. Jahrhundert vollzogene Translation der Dornenkrone samt der Rekonstruktion der sich um diese in der Abtei von Saint-Denis verehrten Reliquie herum entwickelnden Kultpraxis, zum anderen der Erwerb und die Instrumentalisierung der Dornenkrone unter Ludwig IX.

Die Arbeit gliedert sich in drei umfangreiche Teile. Während sich der erste Teil mit der Translation der Dornenkrone in die Abtei Saint-Denis unter den Karolingern befasst (I. Prehistory of the Translation of the Crown of Thorns to France: Saint-Denis Abbey and the Carolingian Legend of the Translation of the Holy Crown of Thorns), richtet sich der Blick im zweiten Teil auf den Umgang mit und die (politisch-legitimatorische) Instrumentalisierung der Passionsreliquien im Zeitraum vom 11.-13. Jahrhundert (II. Capetian Politics towards the Relics, Eleventh-Thirteenth Centuries). Der dritte Teil ist ausschließlich den Ereignissen um den Erwerb der Dornenkrone unter Ludwig IX. vorbehalten (III. Saint Louis and the Cult of Relics).

Von besonderer Bedeutung im ersten Teil ist die Descriptio qualiter, eine legendarische Beschreibung der Expedition Karls des Großen ins Heilige Land und der Überführung von Dornenkrone und Kreuzesnagel zunächst nach Aachen, danach in die Abtei von Saint-Denis, deren Bedeutung eben nicht allein daher rührte, dass in ihren Mauern der Leib des Heiligen Dionysius, sondern eben auch zwei bedeutende Christusreliquien verehrt wurden. Pysiak charakterisiert dieses Heiltum zu Recht als eines der "main assets of the Abbey that drew to it popular devotion" (207), verfolgt die Erwähnungen der Dornenkronenreliquie in der karolingischen Chronistik und zeigt, dass es vor allem benediktinische, in enger Beziehung zu den Karolingern stehende Autoren waren, die die von Karl dem Großen initiierte Reliquientranslation zum Gegenstand ihrer Ausführungen machten. Wahrscheinlich ist eine Verarbeitung von aus der Descriptio stammenden Informationen in einigen kapetingischen Urkunden (vgl. 73), genauso wie in (verlorenen) Bleiglasfenstern aus Saint-Denis (vgl. 120-127; hier auch der wertvolle Hinweis auf das "Karlsfenster" in der Kathedrale von Chartres).

Pysiak spürt weiteren Spuren der Translation in der volkssprachlichen Literatur, den Chansons de geste (v.a. der Pèlerinage de Charlemagne und der Chanson de Fierabras) und der Historiographie des 12. Jahrhunderts nach (Gesta episcoporum Mettensium; Hélinand de Froidmont). Zu den wichtigsten Privilegien, die Ludwig VI. Saint-Denis verlieh, gehörten Bann und Immunität der sogenannten Lendit-Messe, die von der Abtei jährlich zwischen dem 11. und 24. Juni (Indictum) organisiert wurde. Dadurch gerieten die Reliquien in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit. Dies geschah immer auch dann, wenn sie die Mauern der Abtei verließen und nach Paris überführt wurden, um dort, wie 1192 geschehen, an der Lagerstatt des todkranken Thronerben Heilungswunder zu bewirken. Auch als im Dezember 1206 ein Hochwasser große Teile von Paris bedrohte, verrichteten die Reliquien am Ufer der Seine erfolgreich ihren Dienst. Ganz offensichtlich fühlte man sich in Saint-Denis für das zuständig, was in der Hauptstadt geschah.

Mit Blick auf Ludwig IX. wird nahezu das gesamte Quellenspektrum ausgeschöpft, wobei der Fokus freilich klar auf den beiden Hauptgewährszeugen der Translation(en) liegt: Gautier Cornut (De susceptione Corone Domini) und Gérard de Saint-Quentin (Translatio Sancte Corone Domini Ihesu Christi). Auch die wichtigste ausländische Chronik, Matthew Paris' Chronica majora, ist Gegenstand einer breit kontextualisierenden Analyse. Gefragt wird danach, ob die Texte, in denen die Translationen beschrieben werden, ein einigermaßen kohärentes ideologisches Programm entwerfen. Hier gelingt es Pysiak auf Grundlage der reichen Forschungsliteratur zum Thema viele bisher nur lose miteinander verbundene Mosaiksteinchen zu einem kohärenten Bild zusammenzufügen - ein Bild, das vom Bemühen Ludwigs IX. und seiner Berater zeugt, mit dem Pfund der Passionsreliquien zu wuchern, sie nicht nur zum Gegenstand privater (seltener auch öffentlicher) Verehrung zu machen, sondern sie auch in Hinblick auf die ideologische Unterfütterung des französischen Königtums selbst zu instrumentalisieren. Welcher Monarch konnte schon von sich behaupten, von Christus durch die Dornenkrone selbst gekrönt worden zu sein? Kein Geringerer als Innocenz IV. bestätigte diesen Aspekt in einer Privilegienverleihung an die Sainte-Chapelle.

Von einem zusätzlichen Korrekturgang hätte die Arbeit ohne Zweifel profitiert. Viele der Druck- und Flüchtigkeitsfehler wären so vermeidbar gewesen. Für die Übersetzung mag der Rezensent, selbst kein native speaker, nicht in allen Fällen die Hand ins Feuer legen: Vieles liest sich ebenso umständlich wie ungeschlacht. Allerdings kann eine Übersetzung immer nur so gut wie die Vorlage sein. Grundsätzlich ist es jedoch als großer Pluspunkt zu werten, dass die Arbeit überhaupt aus dem Polnischen ins Englische übersetzt worden ist. So ausufernd in den Fußnoten aus leicht zugänglichen Editionen zitiert wird, so ungefähr sind mitunter die bibliographischen Verweise. Wird im Haupttext etwa über die Chronik des Benedikt von Monte Soratte gehandelt (41), erfolgt der Verweis auf dieses Werk in Fußnote 82 summarisch unter "Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter". Etwas genauer wäre es schon gegangen. Ein Verweis auf die Itinera, dona et hernesia Ludovici IX (359, Anm. 153) läuft gänzlich ins Leere. Und so detailverliebt in vielen Passagen aus den unterschiedlichsten historiographischen Werken nacherzählt wird, so blass bleiben einige Details wie etwa die tatsächlichen, mit dem Reliquienerwerb verbundenen Kosten. Nicht nur in diesem Fall ist die Forschung bereits deutlich weiter.

Die Stärke der Arbeit liegt ohne jeden Zweifel darin, die Translation der Dornenkrone und weiterer Passionsreliquien durch Ludwig IX. an Traditionen rückzubinden, die in Frankreich und Paris, vor allem aber in der Königsabtei Saint-Denis zwar bereits seit längerem bestanden, jedoch niemals das Maß an Strahlkraft entfalten konnten, das der in der Sainte-Chapelle geborgenen Dornenkrone zu eigen war.

Ralf Lützelschwab