Rezension über:

Chris Wickham: The Donkey and the Boat. Reinterpreting the Mediterranean Economy, 950-1180, Oxford: Oxford University Press 2023, XL + 795 S., ISBN 978-0-1988-5648-1, EUR 40,00
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Rezension von:
Tobias Daniels
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Daniels: Rezension von: Chris Wickham: The Donkey and the Boat. Reinterpreting the Mediterranean Economy, 950-1180, Oxford: Oxford University Press 2023, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 7/8 [15.07.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/07/38153.html


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Chris Wickham: The Donkey and the Boat

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Zu den Meistererzählungen der mediävistischen Geschichtswissenschaften gehört jene von der "kommerziellen Revolution" des Hochmittelalters, ein Begriff, den der Wirtschaftshistoriker Raymond de Roover geprägt hat, wohl nicht zufällig in Zeiten des so genannten Wirtschaftswunders. Gemeint ist damit der einschneidende Wandel, der Europa in Form von Bevölkerungsanstieg, Urbanisierung, Entstehung von Fernhandel und Etablierung von Geldwirtschaft erfasste. Eine Schlüsselrolle kommt in diesem Narrativ den italienischen Seerepubliken - Amalfi, Genua und Pisa, Venedig - zu, ihr Aufschwung wird insbesondere mit dem maritimen Fernhandel in Verbindung gebracht.

Zu den Dekonstrukteuren solcher Meistererzählungen gehört Chris Wickham, bekannt in den Bereichen der Wirtschaftsgeschichte und des Feudalismus des frühen Mittelalters sowie der Entstehung der italienischen Stadtkommunen, die er als nicht zielgerichteten, sondern graduellen Prozess beschrieben hat. [1] In seiner vorliegenden neuen Monographie nimmt er sich die "commercial revolution" vor, beziehungsweise ihre Voraussetzungen in einem von ihm so genannten "langen 11. Jahrhundert". Dabei schreibt er erstens gegen die Entwürfe von Wilhelm Heyd (1879), Adolf Schaube (1906) und Roberto S. Lopez 1971, The Commercial Revolution of the Middle Ages, an und möchte, in Anknüpfung an die Arbeiten von Shelomo Goitein, A Mediterranean society (1967ff.), Janet Abu-Lughod, Before European Hegemony. The World System, A.D. 1250-1350 (1989) und Jessica Goldberg, Trade and institutions (2012), auch an jene von Christophe Picard, Sea of the Caliphs: The Mediterranean in the Medieval Islamic World (2018), die kommerzielle Revolution in einer größeren als der eurozentristischen Perspektive darstellen. Zweitens will er in einer marxistischen Grundierung und mit deutlichem Rückbezug auf sein Werk Framing the Early Middle Ages zeigen, dass nicht der Fernhandel mit Luxusgütern zur See, sondern der Landhandel mit Massenware in regionalen Ökonomien aufgrund des lokalen Bedarfs der konsumierenden bäuerlichen Landbevölkerung die entscheidende Basis für den wirtschaftlichen Aufschwung gebracht habe.

Die schriftliche Dokumentation, deren Überlieferungszufälle Wickham jeweils klug gewichtet, ist für den bearbeiteten Zeitraum bekanntlich recht spärlich und disparat. Wickham erweitert das Korpus vor allem um archäologische Befunde (d.h. insbesondere Keramik) und die spektakulären, zuerst von Goitein studierten Geniza-Dokumente (Briefe von Handelsherren aus der Ben-Esra-Synagoge in Fustāt, also Alt-Kairo, ca. 150.000 Dokumente betreffen den Gegenstand des Buches), aber etwa auch um muslimische Quellen (wie fatimidische Fatwas) und konzentriert sich auf den Aspekt von Produktion und Warenaustausch.

In bewährter, etwa aus Sleepwalking into a New World bekannter Manier präsentiert Wickham nach der theoretisch grundierten Einführung fünf ausgewählte Detailstudien nacheinander. Sie betreffen die folgenden Wirtschaftsräume: Ägypten (1), Ifrīqiyā (hauptsächlich das Gebiet des heutigen Tunesiens) und Sizilien (2), Ostrom / Byzanz (v.a. die Ägäis) (3), das islamische Spanien und Portugal (al-Andalus) (4) sowie Nord- und Zentralitalien (5). Auf dieser Basis kommt Wickham zu einer systematischen Gesamtanalyse der mediterranen Wirtschaft vom 10. bis zum 12. Jahrhundert, gefolgt von Gedanken zu internen Prozessen und feudalen Ökonomien.

Wickham verhandelt vor allem Phänomene der De-Kolonisierung, Verdichtung, Zentralisierung, des Bevölkerungswachstums, der bäuerlichen Autonomie und Kaufkraft, des Landbesitzes und des tax-raising state; letzteren sieht er als nicht entscheidend an. Dabei erweist sich, dass alle betrachteten Regionen ein Wachstum erfuhren und komplexer wurden, allerdings nicht aus gemeinsamen Gründen. Ägypten erscheint als die größte und komplexeste Wirtschaft der Zeit, als Hauptanzugspunkt bzw. Drehscheibe für den Seehandel; die angebliche wirtschaftliche Krise von Ifrīqiyā sieht er als negierbar an; al-Andalus und Byzanz als weniger verbunden im Mediterraneum: als die sich am meisten entwickelnden internen Ökonomien seien sie selbstgenügsam gewesen.

Wickhams größtes Anliegen ist es zu zeigen, dass die im 12. Jahrhundert im normannischen Sizilien auftauchenden und dann bedeutender werdenden Norditaliener (Genuesen und Pisaner, später erst Venezianer und Toskaner) - also die Hauptprotagonisten des Narrativs von der 'commercial revolution' - in diesem größeren Kontext eher "latecomers" gewesen sind. Oftmals drängten sie sich gewaltsam als "armed traders" (612) seit dem 10. Jahrhundert in eine schon lange bestehende komplexe maritime Ökonomie hinein. Ihre Leistung sei nicht die Erfindung des Seehandels und seiner Praktiken, sondern die Verbindung von Regionen gewesen, die in jener Zeit als Einzelökonomien wichtiger gewesen seien als im Gesamtkontext des Mediterraneums. Italiens wirklicher ökonomischer Take-off sei erst Ende des 12. bzw. Anfang des 13. Jahrhunderts auszumachen. Auch sei von stark regional ausdifferenzierten Ökonomien mit unterschiedlicher Integration in das Hinterland auszugehen. Das Beispiel Mailand zeige etwa, dass große Prosperität auch ohne eine maritime Dimension entstehen konnte. Insgesamt sei das Handelsvolumen aller italienischen Städte im 12./13. Jahrhundert jedoch kaum mit dem des ägyptischen Handels ein Jahrhundert zuvor vergleichbar gewesen.

Die hier nicht in Gänze darstellbare Fülle der Einzelbeobachtungen wird in Kapitel 7 (A Brief History of the Mediterranean Economy in the Tenth to Twelth Centuries) pointiert zusammengeführt. Bei grundsätzlicher Skepsis gegenüber dem Terminus der "Mediterranean economy" im langen 11. Jahrhundert sieht Wickham einen graduellen Komplexitätszuwachs und zwei Hauptaustauschsysteme: Erstens Byzanz und seine Anrainer sowie zweitens die islamisch geprägten Territorien; diese Systeme hätten die Italiener integriert, wobei das Ausmaß einer angeblichen italienischen Dominanz fraglich bleibe und Ägypten noch lange das Zentrum des mediterranen Handels geblieben sei. "This is all the 'commercial revolution' was, in the end: the greater linkage between regional economies, which were each growing along their own lines and for their own reasons." (661). Kapitel 8 stellt dann eine Auseinandersetzung mit den Feudalökonomien vom Früh- zum Hochmittelalter dar und plädiert nochmals eindringlich für die Bedeutung und Kaufkraft der bäuerlichen Welt, auch im Hinblick auf die mediterrane Dimension des Handels.

Das dicke Buch ist als nichts weniger denn beeindruckend zu bezeichnen; Wickham spielt hier seine analytischen Stärken und seinen Scharfsinn voll aus, ebenso seine Fähigkeit zur Synthese und fundierten intellektuellen Provokation. Ist mit seinen Erwägungen und Ergebnissen die Meistererzählung von der 'commercial revolution' endgültig passé? Abschaffen müssen wir sie nicht, allerdings neu verorten und dimensionieren, wie Wickham zeigt. Wirtschaftshistoriker*innen werden im vorstatistischen Zeitalter und angesichts der dünnen Dokumentation gewisse Vorbehalte angesichts der Abwägungen von Handelsvolumina haben.

Völlig neu sind die vorgebrachten Dinge nicht; sie inserieren sich in Diskussionen, die international, auch in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft der letzten Jahrzehnte, prominent geführt werden. [2] Zur Ehrenrettung von Lopez sei übrigens gesagt, dass nach seinem Buch von 1971 eine Dokumentensammlung von 2001 unter seiner Beteiligung einen deutlich weiteren Fokus hatte. [3] Eine gewisse Leerstelle scheint mir zudem, dass in dem Buch immer wieder sporadisch erwähnte Asien darzustellen. [4] Derartige desiderata sind natürlich leichter in einer Rezension angeführt als wissenschaftlich bearbeitet. Wickhams neues Buch ist aus meiner Sicht ein must read.


Anmerkungen:

[1] Chris Wickham: Framing the Early Middle Ages: Europe and the Mediterranean, 400-800, Oxford u.a. 2005; Chris Wickham: Sleepwalking into a New World: The Emergence of Italian City Communes in the Twelfth Century, Princeton, NJ 2015.

[2] Vgl. z.B.: Michael Borgolte: Die Welten des Mittelalters. Globalgeschichte eines Jahrtausends, München 2022, 593-812; ferner die Reihe: Globalgeschichte - Die Welt 1000-2000, Bd. 1: Die Welt 1000-1250, hg. von Angela Schottenhammer und Peter Feldbauer, Wien 2011; Bd. 2: Die Welt 1250-1500, hg. von Thomas Ertl, Wien 2009 (hier v.a.: Nikolas Japsert: Austausch-, Transfer- und Abgrenzungsprozesse: Der Mittelmeerraum, 138-174); Thomas Ertl: Bauern und Banker: Wirtschaft im Mittelalter, Darmstadt 2021; Hans-Jörg Gilomen: Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters, 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage, München 2023 (1. Aufl. 2014).

[3] Roberto Sabatino Lopez / Irving Woodworth Raymond / Olivia Remie Constable (Hgg.): Medieval Trade in the Mediterranean World: Illustrative Documents, New York 2001.

[4] Valerie Hansen: The Year 1000: When Explorers connected the World - and Globalization began, London 2020.

Tobias Daniels