Katrin Keller: Kleinstädte in Kursachsen. Wandlungen einer Städtelandschaft zwischen Dreissigjährigem Krieg und Industrialisierung (= Städteforschung. Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster. Reihe A: Darstellungen; Bd. 55), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2001, 477 S., ISBN 978-3-412-11300-1, EUR 50,00
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Wer nicht allzu sehr mit Geschichte und Topografie Sachsens vertraut ist, dem dürften Ortsnamen wie Schildau, Berggießhübel oder Geyer auf den ersten Blick wenig sagen. Diese Kleinstädte stehen neben 92 weiteren kursächsischen Kommunen im Zentrum der zu besprechenden gewichtigen Arbeit, mit der die Verfasserin an der Universität Leipzig habilitiert wurde. Dass Kursachsen in der Frühen Neuzeit über eine blühende Städtelandschaft verfügte, ist hinlänglich bekannt. Weniger bekannt ist die Rolle, die kleine Städte spielten - Städte, die anhand ihrer Einwohnerzahl manchmal kaum als solche erkennbar wären, und deren Größe die eines gewöhnlichen Dorfes unter Umständen nicht oder nur geringfügig überschritt. Ihrer Funktion in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht, im Hinblick auf Beharrung und Wandel in Demografie, Gewerbestruktur, Handel und Kommunikation im 17. und 18. Jahrhundert, in ihrer Beziehung zwischen ländlicher und urbaner Welt widmet sich die vorliegende Studie. Damit wird Neuland betreten - nicht nur im Rahmen der sächsischen, sondern der allgemeinen Geschichte der Frühen Neuzeit.
Im Vordergrund der Untersuchung stehen Fragen nach der Brauchbarkeit des Urbanisierungsbegriffs in der Frühen Neuzeit (im Sinne einer 'Protourbanisierung') und nach der Anwendbarkeit dieses Konzeptes auf kursächsische Kleinstädte. Unter Kleinstädten versteht die Autorin dabei Städte, deren Einwohnerzahl idealtypisch unter 1400 Personen lag - da sich Kursachsen durch ein starkes Gefälle zwischen Groß- und Mittelstädten auszeichnete, wird hier eine etwas andere Einteilung als in der bisherigen Stadtgeschichtsforschung verfolgt (32, 41). Als qualitative Kriterien - etwa in der Abgrenzung zur Kategorie Dorf oder im Hinblick auf die Zentralität eines Ortes - kommen dann Privilegierungen, Ausprägung 'städtischer' Wirtschaftsformen, Verkehrsanbindung sowie "kulturelle" Elemente wie Kirche und Schule ins Spiel. Somit ergibt sich ein relativ 'weiches' Sample von Kleinstädten, das allerdings gerade dadurch Platz für die Analyse von Wandlungen innerhalb der Städtelandschaft lässt. Anders wäre der Untersuchungsgegenstand auf Grund der heterogenen, disparaten bis lückenhaften Quellen- und Forschungslage auch kaum eingrenzbar gewesen.
Während der zweite, ausführlichere Teil der Studie explizit vier Kleinstädte herausgreift (Delitzsch, Frohburg, Schildau und Aue), um anhand der städtischen Überlieferung vergleichend die demografischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen herauszuarbeiten, behandelt der erste Teil des Buches in drei zeitlichen Querschnitten die Städtelandschaft Kursachsens in den Grenzen vor 1815, wobei aus quellentechnischen Gründen ritterschaftliche Städte ebenso wenig berücksichtigt werden wie die Städte der Sekundogenituren oder der Oberlausitz. Die Autorin zieht für das Jahr 1699 eine "General-Tabelle" heran, die zur Einführung der Generalkonsumptionsakzise angelegt wurde, ferner für die 20er-Jahre des 18. Jahrhunderts die so genannten Trenkmannschen Handregister, die Adam Friedrich Zürner als Vorlage zur Erstellung seines Atlas Augustaeus Saxonicus dienten, sowie eine Städteübersicht der Landesökonomie-, Manufaktur- und Kommerziendeputation von 1811. Auf dieser Basis kann die Autorin erste Ergebnisse bezüglich demographischer Wandlungen und ökonomischer Orientierungen sächsischer (Klein-)Städte gewinnen, die dann an den Beispielstädten vertieft werden. Die mitunter problematische Beschaffenheit des protostatistischen Materials wird immer mitthematisiert und gegebenenfalls die Datenbasis vorsichtig korrigiert (zum Beispiel 37) - so betont die Autorin denn auch mehrmals, es handele sich bei den Daten, die den zahlreichen Statistiken und Diagrammen zu Grunde liegen, eher um "Relationen" als um 'harte' Fakten.
Zunächst wird eine Einteilung der behandelten Städte in Ackerbürger-, Exportgewerbe- und Bergstädte vorgenommen. Die Analyse verdeutlicht, wie sich erstens die jeweiligen Stadttypen in bestimmten Regionen konzentrierten (Ackerbürgerstädte im Norden, Exportgewerbestädte in der Mitte und Bergstädte - logischerweise, auf Grund der Fundstätten - im Süden Kursachsens). Zweitens veränderten sich die Größenverhältnisse innerhalb des städtischen Gefüges das 18. Jahrhundert hindurch nicht wesentlich ('Kleinstadt bleibt Kleinstadt'), wenngleich von einem generellen Städtewachstum in Sachsen, auch bei Kleinstädten, sehr wohl ausgegangen werden kann. Drittens lässt sich beobachten, dass sich durch Aufgabenverlagerung und produktiven Austausch zwischen Stadt und Territorialherr die Verwaltung ausdifferenzierte, professionalisierte und 'verschlankte' (64f, 269 folgende, 303). Viertens schließlich orientierten sich einige Städte wirtschaftlich zunehmend auf das Exportgewerbe hin. Nach Ansicht der Autorin sollte also gerade im Hinblick auf Urbanisierung und Protoindustrialisierung der Dynamik kleiner Städte in Zukunft eine größere Bedeutung beigemessen werden.
Bezogen auf die Gruppe der Bergstädte überzeugt die Einteilung vor allem für den Beginn des 19. Jahrhunderts nicht mehr so recht, da jene inzwischen die meisten ihrer Kohärenzmerkmale vermissen ließen, die die Kategorie "Bergstadt" anfangs ausgemacht hatten (in Marienberg etwa wurde in den Quellen kein einziger Bergmann mehr angegeben, 88). Viele Bergstädte waren inzwischen zu Exportgewerbestädten geworden - man scheint dort den Bergbau auch zuvor mitunter nur noch aus Prestigegründen beibehalten zu haben, wie die Autorin selbst an anderer Stelle einräumt (54). Positiv gewendet ließe sich natürlich festhalten, gerade die vormaligen Bergstädte zeichneten sich oft durch eine starke "wirtschaftliche Flexibilität" (249) aus.
Im Unterschied zu den drei anderen Beispielstädten Schildau, Frohburg und Aue lässt sich Delitzsch keinem der drei Stadttypen klar zuordnen. Delitzsch stellte eine Mischung aus handwerklicher und agrarischer Prägung dar, vereinigte zudem diverse zentralörtliche Funktionen (Amtssitz, Gericht und so weiter, 101 folgende) in sich und verfügte über einen großen wirtschaftlichen Einzugsbereich (190, 212). Hier scheint der Übergang von zünftiger zu unzünftiger bzw. fabrikorientierter Produktion relativ reibungslos vor sich gegangen zu sein, was letztlich die Rolle kleiner Städte in der Protoindustrialisierung unterstreicht.
Die Arbeit ist übersichtlich gegliedert und gut lesbar - trotz des beeindruckenden Datenmaterials und der zahlreichen Tabellen und Diagramme, bei denen nicht immer ganz klar wird, warum die meisten im Anhang, einige aber im Text platziert sind. Dennoch handelt es sich hier nicht um ein Lesebuch, sondern um ein Analysebuch im besten Sinne: Der Leser nimmt teil am Erkenntnisprozess, er erlebt gewissermaßen hautnah die 'Bauabschnitte' der Arbeit und die Schwierigkeiten, die das Quellenmaterial in sich birgt, mit. Manchmal würde man sich vielleicht wünschen, dass zwischen all den großen Strukturen die dahinter stehenden Menschen stärker zu Wort kommen könnten - das mit "Städtische Kultur" überschriebene Kapitel (305) wirkt in dieser Hinsicht etwas beliebig. Auf diese Weise hätten Selbst- und Fremdwahrnehmungen von Kleinstadtbewohnern möglicherweise so etwas wie 'kleinstädtisches Lebensgefühl' oder 'Kleinstadtidentität' andeuten können, und dies hätte sich vielleicht - durchaus im Sinne der Fragestellung - zum Begriff der "Behavioural Urbanization" (Jan de Vries) in Beziehung setzen lassen. Doch scheint dieses Problem in vorliegender Studie vor allem einem Mangel geeigneter Quellen geschuldet zu sein.
Inhaltlich lässt sich festhalten: Kleinstädte und kleinstädtische Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse stellten sich in der Zeit vor den großen Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozessen des 19. Jahrhunderts im Untersuchungsgebiet weniger als Makel oder als Ausdruck von Beharrung und Statik dar denn als Chance, als dynamisches Moment. Und somit schließt die Autorin mit den Worten: "Die Epoche zwischen Dreißigjährigem Krieg und Industrialisierung [...] war in Kursachsen ein Zeitalter der Kleinstadt." (349) Kursachsen brauchte also seine Kleinstädte, und die Forschung dieses Buch.
Alexander Schunka