Sabine Bamberger-Stemmann: Der Europäische Nationalitätenkongress 1925-1938. Nationale Minderheiten zwischen Lobbyistentum und Grossmachtinteressen (= Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung; Bd. 7), Marburg: Herder-Institut 2001, 619 S., 18 Tab., 1 Graph., ISBN 978-3-87969-290-3, EUR 57,00
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Der politische Einfluss des 1925 begründeten Europäischen Nationalitätenkongresses war gering, dennoch hat er im Laufe der Jahrzehnte höchst unterschiedliche Bewertungen und Kommentare evoziert. Von Beteiligten wie Paul Schiemann, aber auch von Rudolf Michaelsen, dem eine ausführliche Darstellung der ersten Jahre des Nationalitätenkongresses zu verdanken ist, wurde der Beitrag zu Friedenspolitik und Völkerverständigung gewürdigt, während die sozialistische Historiographie im Nationalitätenkongress ein "Instrument der imperialistischen deutschen Revanchepolitik" sah. Das Anliegen der bei Hans Lemberg entstandenen Marburger Dissertation ist demgegenüber die historisierende Analyse der europäischen Minderheitenpolitik "in ihrer Nähe und ihren Differenzen zu den Regierungssystemen und intellektuellen Strömungen jener Zeit" (9). Damit steht weniger die interne Kongressgeschichte im Vordergrund, sondern vielmehr die Verflechtung des Nationalitätenkongresses vor allem mit den deutschen Minderheitenorganisationen und der deutschen Außenpolitik. Hierzu stützt sich die Verfasserin auf eine bemerkenswert breite Quellenbasis aus deutschen, britischen, estnischen, lettischen, polnischen, ungarischen, österreichischen und schweizerischen Archiven und eine Literaturliste von weit über 2000 Titeln.
Die Geschichte des Nationalitätenkongresses hat Sabine Bamberger-Stemmann in drei Phasen unterteilt: die Jahre der Unabhängigkeit 1925/26, die Zeit der Konsolidierung 1927-32 und die Zeit des Scheiterns 1933-37/38. Ursprüngliches Ziel des auf eine Initiative des Deutschbalten Ewald Ammende hin gegründeten Kongresses war es, die europäischen Minderheiten als eigenständig handelnde politische Akteure zu profilieren. Zu den wichtigsten Forderungen gehörten direkte Verhandlungen mit den europäischen Regierungen, die Reform des Petitionsverfahrens vor dem Völkerbund und die Übertragung des estnischen Kulturautonomiegesetzes von 1925 auf andere europäische Staaten. Dies lief in mehrfacher Hinsicht der offiziellen Politik des Deutschen Reichs zuwider: zum einen bedeutete es einen Emanzipationsversuch von der "karitativen" Versorgung der deutschen Minderheit durch das Reich, zum zweiten rückte die Eigenschaft Deutschlands als Staat mit nationaler Minderheitenbevölkerung ins Rampenlicht, und schließlich konnte die Aufnahme der deutschen Minderheit in Polen als faktische Anerkennung der polnischen Grenzen interpretiert werden. Seine prekäre finanzielle Lage brachte den Kongress jedoch in zunehmende Abhängigkeit vom deutschen Auswärtigen Amt, das nachweislich seit 1927 als Geldgeber auftrat. Dessen Förderinteresse war es, die "sekundäre Außenpolitik" des Kongresses einzudämmen und die Kräfte für eine Revision des Versailler Vertrags zu bündeln. Besonderes Augenmerk richtet die Verfasserin auf den Generations- und Elitenwechsel von demokratischen zu dezidiert antidemokratischen, rechtskonservativen und nationalsozialistischen Kräften zu Beginn der 1930er-Jahre. Damit wurde der Europäische Nationalitätenkongress nach dem Urteil der Verfasserin "zu einem undemokratischen Instrument des Reiches, noch bevor die Nationalsozialisten an die Macht kamen" (201). Die 1933 begonnene internationale Campagne gegen die Hungersnöte in der Ukraine wertet Bamberger-Stemman als Einbindung in die Antikominternpolitik des NS-Regimes. Mit der Besetzung wichtiger Stellen innerhalb des Kongresses durch die Sudetendeutsche Partei Konrad Henleins sei 1935 die Wende zu einem "Mittel der nationalsozialistischen Außenpolitik vollendet" (272) gewesen.
Die Neuinterpretation des europäischen Nationalitätenkongresses überzeugt durch gut begründete und ausgewogene Urteile. Dies ist ein begrüßenswerter und bedeutender Fortschritt für die Forschung. Insbesondere das im Untertitel der Arbeit aufgezeigte Dilemma der nationalen Minderheiten "zwischen Lobbyistentum und Großmachtinteressen" ist eindrucksvoll herausgearbeitet worden. Zurückhaltender fällt die Skizzierung des ideologischen Kontextes aus. Die Brücke zu schlagen zur aktuellen Diskussion um die deutsche "Volkstumsforschung" vor dem Zweiten Weltkrieg (vergleiche die einschlägigen Arbeiten von W. Oberkrome, M. Fahlbusch, I. Haar) überlässt Bamberger-Stemman ebenso künftigen Forschungen wie die spannende Frage nach Kontinuitäten in der Politik der Vertriebenenverbände nach 1945.
Der Darstellung ist leider nicht immer einfach zu folgen. Die Verfasserin neigt beim Erzählen zu häufigen Vor- und Rückgriffen; Fußnoten dienen oft dem Querverweis auf andere Kapitel. Unter diesen Umständen wäre ein Personenregister sehr hilfreich gewesen, aber auch kurze biografische Anmerkungen zu den Akteuren, die oft recht unvermittelt eingeführt werden.
Diese Bemerkungen sollten jedoch die anerkennenswerte Forschungsleistung nicht in den Hintergrund rücken. Hier liegt endlich eine sine ira et studio geschriebene Geschichte der europäischen Minderheitenpolitik in der Zwischenkriegszeit vor, die durch ihre Materialfülle zudem Anreiz und Fundgrube für weitere Forschungen sein kann. Das Werk wird durch einen reichhaltigen Anhang mit Verzeichnissen der Teilnehmer, Referate und Resolutionen des Kongresses abgerundet.
Stephanie Zloch