Juliane Glüer: Meßrelationen um 1600 - ein neues Medium zwischen aktueller Presse und Geschichtsschreibung. Eine textsortengeschichtliche Untersuchung (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik; Nr. 676), Göppingen: Kümmerle 2000, 305 S., ISBN 978-3-87452-923-5, EUR 39,00
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Nach Felix Stieves biografisch-bibliographischer Arbeit zu den Messrelationen und ihrem "Erfinder" Michael von Aitzing von 1883 war dieses frühneuzeitliche Medium, das erste echte Druck-Periodikum der Weltgeschichte, kaum mehr beachtet worden. Messrelationen sind halbjährlich zu den Oster- und Herbstmessen in Leipzig und Frankfurt/Main erscheinende, meist 100-150, nicht selten aber auch nur 30-70 Seiten starke Drucke in Quarto, in denen die Ereignisse des jeweils vergangenen Halbjahrs unter Rückgriff auf verschiedene Quellmedien (Flugschriften, Flugblätter, handschriftliche Zeitungen) zusammengefasst werden. Stieves Arbeit war zum 300-jährigen Jahrestag des ersten Erscheinens von Aitzings Messrelation herausgekommen, wenngleich Aitzing erst ab 1588 die messenabhängige Periodizität einrichtete.
Klaus Bender unternahm dann die hoch verdienstvolle Arbeit, Stieves Bibliografie durch eine wesentlich komplettere und chronologisch weiter reichende Bibliografie der "Relationes historicae" zu ersetzen (1994). Im Zuge von Benders Recherchen wurde am Bremer Institut für deutsche Presseforschung eine Mikrofilmsammlung aufgebaut, in der die allermeisten frühen Messrelationen (bis etwa 1610) vertreten sind. Mit diesem Material arbeitend, kann Glüer für ihre Gießener historisch-linguistische Dissertation daher mit Fug behaupten, dass sie seit Stieve die erste neuere Monografie zu den Messrelationen vorlegt.
Der Forschungsstand über die benutzten Quellen, den Grad der redaktionellen Eingriffe der frühen "Journalisten", Handel, Vertrieb und erst recht über alle, etwa aus der Flugschriftendiskussion bekannten, Fragen der Leser- und Lektüregeschichte ist nicht sehr dicht. Wenn also der Allgemeinhistoriker mit Interesse das Buch einer Sprachwissenschaftlerin zur Kenntnis nimmt, liegt das in der Hoffnung begründet, hier in Bezug auf diesen allgemein miserablen Forschungsstand zu profitieren, wenngleich Missverständnisse zwischen den Disziplinen vielleicht nahe liegen.
Glüers Arbeit für die Messrelationen von 1583/88 bis um 1600 will keine der angerissenen allgemeineren mediengeschichtlichen Fragen klären, sondern beschränkt sich auf eine textsortengeschichtliche Studie, die angesichts des Forschungsstandes selbstverständlich auch auf dieser Ebene schon eine Pionierarbeit darstellt. Als Kernkorpus wählt sie die überschaubare Gruppe von 6 Messrelationen von 5 verschiedenen "Journalisten" von 1590-1600 mit zusammen 500 Seiten Text. Als erweitertes Vergleichs- und Kontrollkorpus zieht sie 53 exzerpierte Messrelationen heran, 43 davon aus der Zeit bis 1600 (Bender weist 136 Relationen bis zu diesem Zeitpunkt nach, wobei allerdings etliche textgleiche Nachdrucke enthalten sind).
Glüer unterscheidet zunächst fünf Typen, die die Bandbreite des Mediums umfassen: 1) die annalistische Relation, die sich durch besonders kurze, sachlich-neutrale Faktenmeldungen auszeichnet; 2) Historia-Relationen, bei der die Ereignisse vom Redaktor tendenziell in einen Gesamtrahmen (sozusagen einen meta-narrativen) eingespannt werden; 3) die sich durch Parteilichkeit auszeichnende Flugschriftenrelation; 4) den Wochenzeitungstyp, der durch den praktisch gar nicht redaktionell bearbeiteten Abdruck der "brieflichen Berichterstattung" (Seite 16 - Glüer meint aber die handschriftlichen Zeitungen) charakterisiert ist; 5) die episodische Messrelation, die ein buntes Erscheinungsbild mit Wechsel zwischen unterhaltenden und faktenorientierten Partien und ein Zurücktreten des Ordnungsmusters der Chronologie aufweist.
Als Gesamtfunktionen der Messrelationen - Glüer meint damit immer "kommunikative Funktionen", die sich aus der reinen Textinterpretation ergeben, wobei ihr implizierter Kommunikationsbegriff ein enger ist, der im Wesentlichen Schreiben/Lesen umfasst - führt sie (24-37) zum einen die aus den Relationstexten selbst ermittelbaren Zielaussagen der Autoren an: Wissensvermittlung oder informative Funktion, Tradierung von Wissen an die Nachwelt, didaktische Ziele, "erbawliche" Ziele im Sinne religiös-moralischer Erziehung, das Ziel, zu unterhalten und im Falle von Aitzings das Ziel, vertieftes Verständnis der Ereignisse ermöglichen zu wollen (24). Hinzu fügt sie in eigener Analyse der Texte das nicht explizierte Ziel der Vermittlung einer spezifischen Sicht, der Einflussnahme und Ermutigung, der Panegyrik und der Belustigung.
Nach dieser Typologie und Funktions- beziehungsweise Zielanalyse der Messrelationen im Ganzen besteht die Arbeit hauptsächlich (40-234) aus dem Auffinden, argumentativen Abgrenzen und der linguistischen Analyse von Textsorten und deren typologisch feinverästelten Klassifizierung: Textsorten werden mit der Textsortenforschung "als Lösungsmuster für rekurrente kommunikative Aufgaben und Probleme" aufgefasst (5). Die linguistische Analyse bedient sich vor allem der Mittel deskriptiver Linguistik mit Anleihen bei Grices Implikaturenlehre und an wenigen Stellen einer Form von Sprechhandlungsmodell. Es wird in elementare Meldung, komplexe Berichte (Untertypen zum Beispiel: reihende Formen, ausführender Bericht, geschlossene und strukturierte Erzählung, Verlaufsprotokoll, vertiefender Bericht, anschaulicher Festbericht, Beschreibungen, Berichte über "vnerhörte" Ereignisse) und Textsorten unterschieden, die Teilaufgaben der Wissensvermittlung übernehmen. Sie untersucht weiter wertende Beitragstypen (zum Beispiel Urteil und Lob) sowie die Dokumentenwiedergabe und schließlich die Vorrede. Alle diese Textsorten kann man in den Messrelationen finden. Die Forschungsdiskussion bei dieser Klassifizierungsarbeit wird im Wesentlichen mit anderen textsortentypologischen Arbeiten aus dem Umfeld germanistischer Linguistik geführt, die manchem Allgemeinhistoriker aus den Feldern der Öffentlichkeits- und Kommunikationsgeschichte vertraut sind (Schwitalla, Th. Schröder, G. Fritz, Straßner, Th. Gloning).
Für den Kommunikations- und Allgemeinhistoriker scheint mir am ehesten die allgemeine Messrelationstypologie aufgreifenswert zu sein als quellenkundlicher Klassifikationsbeitrag, wobei die Bezeichnung "Flugschriftentyp" durch "Pamphlettyp" ersetzt werden sollte angesichts der seit langem, spätestens seit Köhlers großen Mikrofilmeditionsunternehmungen üblichen Verwendung von "Flugschrift" als inhaltsneutralem, materialbestimmten Medienoberbegriff (Glüer versteht wohl "propagandistisches Pamphlet" und "Flugschrift" als Synonyme, vergleiche zum Beispiel Seite 237 Anmerkung 345). Auch ist ein erster kleiner Schritt zur Quellenforschung (235-249) mit Identifizierung einiger Flugschriften als Quelltexte für zwei Messrelationen von 1590 gemacht (nicht überzeugend hingegen die Ausführungen zu Stegers Relation). Nach Glüers eigenem Ansatz ist diese Ermittlungsarbeit eigentlich inkonsequent, denn sie hat kaum etwas mit Textsortengeschichte zu tun, beziehungsweise wird sie - ans Ende der Arbeit gestellt - auch nicht bei der Analyse der Textsorten im Hauptteil benutzt. Aus dem reichen Fundus von Klassifikationen, Unter- und Unterunterklassifikationen, aus vielen klugen Beobachtungen aus dem Hauptteil wird man hie und da Anleihe nehmen können. Die im Haupttext und im Anhang abgetippten Textausschnitte sind lesenswert.
Im Übrigen wird der allgemeiner interessierte Historiker, auch wenn er gerne von linguistischer Seite lernt, an der vielleicht ein wenig zur Scholastik tendierenden Textsortentypologie wohl weniger Interesse finden: Aus der im Lay-out durch Überdifferenzierung etwas unübersichtlichen Arbeit auftauchend, drängt sich zuweilen leise die Frage auf, was man denn außer vielen Bezeichnungen von der Textsortentypologie hat: Wo ist jemandem hiermit geholfen, dessen Erkenntnisinteresse nicht nur auf die Klassifizierung von Textabschnitten gerichtet ist? Auch die Vergleiche mit den Ergebnissen Schröders zu den ersten gedruckten Wochenzeitschriften, etwa seine Auszählungen zu Anteilen bestimmter Textsortentypen am Gesamttext, sind schlecht abzugreifen, denn Glüer vertritt immer wieder andere Typologien und hat sich nicht die Mühe der Quantifizierung gemacht. Damit sperrt sich die Arbeit auch ein wenig der entwicklungsgeschichtlichen Verwendung. Quellenkundliche Fragestellungen Schröders wie die Themen- und Nachrichtenortverteilungen, sind für Glüer nicht Gegenstand.
Auf den Seiten 119-124 wendet Glüer einen (Sprech)handlungsbegriff an: Glüer untersucht dort "Bewertungs- und Kommentarhandlungen" und meint damit Textbausteine (Synonymität erschließt sich auf Seite 124). Andererseits tauchen "Handlungen" (schon auf Seite 124 und öfter, etwa Seite 185) meist dem Alltagssprachgebrauch entsprechend als Realitätselemente, also als Gegenstand von Referenzialisierung auf. Diese Unstimmigkeit hätte zumindest eines klärenden Wortes bedurft. Es soll hier nicht die allgemeine Diskussion aufgerollt werden, ob es Sinn macht, kommunikative Welt und Texte und Sprechhandlungen implizit oder explizit mit einem Gleichheitszeichen zu versehen - eine Tendenz seit der Versteifung der Sprechhandlungsbegrifflichkeit im Gefolge von Austin und Searle, die zuweilen die angenehme Suggestion produziert, dass man über Textanalyse Weltanalyse betreibe, ohne das (voraussetzungsvolle, aber andererseits alltägliche) Wagnis einzugehen, textexterne Horizonte aufzuspannen und in Korrelation zum Text zu analysieren.
Mit Erstaunen und ein wenig Neid wird mancher Leser aus anderen Disziplinen auch feststellen, wie fern von Internationalität und relativ fern von Interdisziplinarität die germanistische Linguistik hier noch zu arbeiten vermag (zwei englischsprachige Aufsätze in der Bibliografie, ein falsch zitierter französischer [Mousnier]). Anschlüsse an vergleichbare Unternehmungen in der französischsprachigen Literatur- und Sprachwissenschaft (die Gruppe um Jean Sgard, Pierre Rétat, Henri Duranton und andere, die seit den 1970ern pausenlos zur Pressegeschichte und "textologie" des Ancien Régime publizieren, wenngleich für etwas spätere Epochen) oder an die allgemeinere Kommunikationsgeschichte seit den 1990ern oder an disziplinübergreifende Fragestellungen (Öffentlichkeitsgeschichte, Buch- und Leser-/Lektüregeschichte) werden nicht gesucht. Aber diese Verwunderung mag, wie gesagt, auf Missverständnissen seitens des Rezensenten beruhen.
Cornel Zwierlein