Rezension über:

Thomas Grünewald (Hg.): Germania inferior. Besiedlung, Gesellschaft und Wirtschaft an der Grenze der römisch-germanischen Welt. In Verbindung mit Hans J. Schalles (= Reallexikon der Germanischen Altertumskunde; 28), Berlin: De Gruyter 2001, IX + 572 S., 89 Abb., ISBN 978-3-11-016969-0, EUR 148,00
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Rezension von:
Ingemar König
Fachbereich III, Universität Trier
Redaktionelle Betreuung:
Christian Witschel
Empfohlene Zitierweise:
Ingemar König: Rezension von: Thomas Grünewald (Hg.): Germania inferior. Besiedlung, Gesellschaft und Wirtschaft an der Grenze der römisch-germanischen Welt. In Verbindung mit Hans J. Schalles, Berlin: De Gruyter 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 3 [15.03.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/03/2946.html


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Thomas Grünewald (Hg.): Germania inferior

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Der vorliegende Ergebnisband eines 1999 in Xanten abgehaltenen Kolloquiums zeigt, dass vor allem archäologische Detailuntersuchungen unsere Kenntnisse zur politischen und ökonomischen Struktur der Germania inferior erheblich vertiefen können. In insgesamt 20 Beiträgen sowie in einer "Zusammenfassung und Ausblick" von Thomas Grünewald und Hans J. Schalles wird der heutige Forschungsstand geboten, wobei jeder Beitrag mit einem guten Literaturüberblick und vorzüglichem Kartenmaterial versehen ist: T. Bechert, Wirtschaft und Gesellschaft in der Provinz Germania inferior: Zum Stand der Forschung; H. Galsterer, Romanisation am Niederrhein in der frühen Kaiserzeit; J. Klostermann, Klima und Landschaft am römischen Niederrhein; J. Heinrichs, Römische Perfidie und germanischer Edelmut? Zur Umsiedlung protocugernischer Gruppen in den Raum Xanten 8 vor Christus; N. Roymans, The Lower Rhine Triquetrum Coinages and the Ethnogenesis of the Batavi; R. Wolters, Germanische Mobilität und römische Ansiedlungspolitik: Voraussetzungen und Strukturen germanischer Siedlungsbewegungen im römischen Grenzland; H. van Londen, Landscape and water management: Midden Delfland, a region south of the Limes; C. Bridger, Zur römischen Besiedlung im Umland der Colonia Ulpia Traiana/Tricensimae; W. Spickermann, Kultorganisation und Kultfunktionäre im Gebiet der Colonia Ulpia Traiana; A. R. Birley, The Names of the Batavians and Tungrians in the Tabulae Vindolandenses; W. Schmitz, Spätantike und frühmittelalterliche Grabinschriften als Zeugnisse der Besiedlungs- und Sprachkontinuität in den germanischen und gallischen Provinzen; M. Erdrich, Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Germania inferior und dem germanischen Vorland - ein Wunschbild; H. van Enckevort, Bemerkungen zum Besiedlungssystem in den südöstlichen Niederlanden während der späten vorrömischen Eisenzeit und der römischen Kaiserzeit; J. P. A. van der Vin, Monetarisierung und Handel am Niederrhein in der augusteischen Zeit; L. Wierschowski, Cugerner, Baetasier, Traianenser und Bataver im überregionalen Handel der Kaiserzeit nach den epigraphischen Zeugnissen; H.-J. Schalles, Die Wirtschaftskraft städtischer Siedlungen am Niederrhein: Zur Frage der wirtschaftlichen Beziehungen des römischen Xanten mit seinem Umland; J. K Haalebos, Die wirtschaftliche Bedeutung des Nijmegener Legionslagers und seiner canabae; C. Reichmann, Gelduba (Krefeld-Gellep) als Fernhandelsplatz; M. Gechter, Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Römischen Reich und dem Bergischen Land; T. Fischer, Neuere Forschungen zum römischen Flottenlager Köln-Alteburg.

Allen Vorträgen ist gemeinsam, dass die Germania inferior als Militärprovinz zu sehen ist, dass Siedlungsstrukturen, ökonomische und sozio-politische Veränderungen eines zuvor auf Selbstbedarf angelegten Gebietes mit relativ dünner Besiedlung unter dem Gesichtspunkt der Anlage von zunächst castella, danach von römischen Municipien und schließlich Colonien zu bewerten sind. Erst die Bedürfnisse der Militärlager schufen eine gewisse Überproduktion und damit Arbeitsteilung, verlangten nach Märkten und Transportwegen, führten zumindest in den Zentralorten zu einem Wandel der Bevölkerungsstruktur [T. Bechert]. Dieser ist nicht zuletzt der Herausbildung neuer Stämme (Cugerner, Bataver) und der Umsiedlung der Ubier zu verdanken, aber auch der Zuwanderung aus mittelgallischen Gebieten und dem Verbleib von Veteranen in Orten, die als Verwaltungszentren neu angelegt werden mussten, da die gallische "Oppidums-Struktur" hier weitgehend fehlte [Galsterer, Klostermann]. Wichtig ist auch die Beachtung der geografischen Gegebenheiten, da dort, wo Lössboden vorherrschte und der Getreideanbau lohnte, sich sogar eine Villenlandschaft entwickelte [Enckevort], hingegen im feuchten Tiefland Viehzucht und die Nutzung von Wohnstallhäusern vorherrschte [Van Londen, Bridger]. Die Untersuchung von Münzmaterial erweist die Zuwanderung von chattischen Gruppen aus dem Mittelrheingebiet und damit die Herausbildung der Bataver [Roymans], wobei sich die Frage erhebt, ob der in nachcaesarischer Zeit beginnende Wechsel germanischer Gruppen auf linksrheinisches Gebiet eher durch stammesinterne Auseinandersetzungen, Abenteurertum oder Zwangsumsiedlung verursacht war [Wolters]. Interessant ist auch die Tatsache, dass die Soldaten der julisch-claudischen Zeit zunächst ihre Lebens- und Ernährungsgewohnheiten beibehielten, das heißt, dass der Fernhandel mit Gebrauchsgütern (Öl, Datteln, Garum, Wein et cetera) in der Hand von Händlern aus südlicheren Gebieten blieb (Treverer, Mediomatriker), während der einheimische Warenaustausch sich eher im Bereich der "Niedrigpreise" bewegte [Van der Vin, Wierschowski, Schalles]. Obwohl sich also Fernhandel nach Britannien und Innergallien (La Graufesenque) in erheblichem Umfang nachweisen lässt [Haalebos], ist eine Monetarisierung des Umlandes nur schleppend erfolgt [Van der Vin, Schalles]. Dies verweist auf ein erhebliches ökonomisches und kulturelles Gefälle zwischen den Städten, deren engerem Umland und den entfernteren ländlichen Gebieten, vor allem hinsichtlich der Kultur und Kulte [Enckevort, Spieckermann].

Eine weitere Fragestellung gilt der Beziehung zu den Freien Germanen, gemessen am beiderseitigen Warenaustausch. Dieser hat sich offensichtlich nur langsam und schubweise entwickelt, parallel zu innerrömischen Entwicklungen und Krisen [Erdrich]. Interesse hingegen erweckt Gelduba, das einmal durch seine Lage am Rhein, dann auch als Endpunkt eines alten innergermanischen Fernweges begünstigt war und daher eine ungebrochene Kontinuität bis zu seiner Zerstörung im Jahre 260 zeigt [Reichmann]. Auffallend ist der Rückgang bedeutender vorrömischer Besiedlung im Bergischen Land, in das nunmehr germanische Kleingruppen einsickerten. Diese lebten von Handelsgeschäften mit den Militärlagern am Rhein, vor allem durch Lieferung von Holzkohle. Die Ausbeutung der Blei-, Silber-, Kupferminen und Erzgruben erfolgte vermutlich durch Römer selbst [Gechter].

Während sich Birley mit der Belegung und dem Namensmaterial des Lagers von Vindolanda beschäftigt, kann Fischer auf Grund neuer Forschungsergebnisse zu Köln-Alteburg das bislang dort vermutete Doppellegionslager mit guten Gründen ablehnen. Vermutlich bestand ein periodisch belegtes, hochwasserfreies (Winter-) Vexillationslager (Phase 1) neben einem zweiten, noch zu entdeckenden, die beide bei der Truppenverlegung nach Bonn bzw. Neuß (Jahr 30 und 40 nach Christus) aufgegeben worden waren. Erst in Claudischer Zeit (Periode 2) wurde ein festes, von der Classis Germanica bezogenes Standlager eingerichtet, das offenbar ökonomisch weitgehend autark blieb. Das Gefälle Stadt - Land zeigt sich schließlich auch im Weiterleben des Lateins in der Spätantike [Schmitz]. Der Vergleich mit anderen, durch germanische Landnahme gekennzeichneten Sprachlandschaften (Westschweiz, Rhônetal) zeigt, dass sich zwischen den Siedlungsräumen zweisprachige Sprachgürtel entwickelten und bereits im 4. Jahrhundert eine gallo-römisch/fränkische Mischkultur entstand.

Es ist unmöglich, in diesem knappen Rahmen die oft ins Detail gehenden Untersuchungen genau zu würdigen. Viele der Beiträge verstehen sich als Anstöße für weitere Untersuchungen, ihre Methodik öffnet den Weg für neue Forschungsrichtungen und Fragen. Natürlich ist manches Ergebnis nicht völlig überraschend, da bereits frühere Forschungen (Gamillscheg, Grenier, Wenskus, um wenigstens drei "Klassiker" zu nennen) dieses vorgezeichnet hatten, doch wurde es hier durch Spezialuntersuchung besser abgesichert.

Insgesamt ist der Band ungemein interessant und wichtig, obwohl mancher Titel mehr ankündigt, als der Beitrag zeigt, und manche Untersuchung trotz der Betonung, dass sie sehr wohl Modellcharakter besitze, sehr speziell angelegt ist.

Ingemar König