Christoph Pallaske (Hg.): Die Migration von Polen nach Deutschland. Zu Geschichte und Gegenwart eines europäischen Migrationssystems (= Schriftenreihe des Instituts für Europäische Regionalforschungen; Bd. 7), Baden-Baden: NOMOS 2001, 232 S., zahlr. Tab., ISBN 978-3-7890-7065-5, EUR 31,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Im Umgang mit der Beichte entzündete sich jüngst in einer der katholischen Gemeinden Bremens eine Auseinandersetzung. Während der Pfarrer den Kindern die Pflichtbeichte vor der Kommunion erlassen wollte, bestanden Mütter polnischer Herkunft auf der Beibehaltung dieses Sakraments. Daraufhin warf ihnen der Pfarrer vor, durch ihre Haltung würden die Frauen die Integration verhindern, welche seiner Meinung nach in der Übernahme deutscher Gepflogenheiten auch in der Kirche beinhaltet. Die Reaktion einer aus Polen stammenden Aussiedlerin auf diesen Vorwurf lautete: Wenn sich jemand zu integrieren habe, dann sei es der Pfarrer. Schließlich hätten Polen diese Kirche gegründet. Sie spielte damit auf den Bau der Kirche im Jahre 1898 an, welcher auf Grund des massiven Zuzugs katholischer Arbeiter aus Böhmen, dem Eichsfeld und den polnischen Provinzen Preußens notwendig geworden war (91).
Der Vorfall ist gleich in mehrfacher Hinsicht bezeichnend für den Band, der die Ergebnisse einer (erst) im letzten Jahr in Siegen stattgefundenen Tagung mit Beteiligung junger deutscher und polnischer Historiker, Politologen, Soziologen und Kulturwissenschaftler enthält. Erstens macht er schlagartig die weit zurückreichende historische Dimension und den beträchtlichen Umfang der Migration von Polen nach Deutschland deutlich und die bestehenden Verbindungen zwischen der bisher besser erforschten älteren und der jüngeren Phase dieses Wanderungsprozesses. Dem Rechnung tragend greift die Hälfte der zehn Beiträge historische Themen auf. Sie umfassen den Zeitraum von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er-Jahre. Dabei verdeutlicht insbesondere der Beitrag von Angelika Eder zu Aspekten polnischen Lebens in Hamburg die Fruchtbarkeit eines diachronen Ansatzes. Die andere Hälfte der Beiträge behandelt Aspekte dieses Zuwanderungsprozesses, die bis in die Gegenwart reichen. Dem epochenübergreifenden Zugang entsprechend fragt Norbert Cyrus, wenn er die aktuelle Arbeitsmigration aus Polen in die Bundesrepublik behandelt: "Wie vor hundert Jahren?"
Damit verbunden wirft der Vorfall zweitens ein Licht auf die Vielfalt der Wanderungsformen und -verläufe im Laufe der Zeit, von denen der Band eine breite Palette beleuchtet. Sie reicht von der polnischen Arbeitsmigration ins Berlin des Kaiserreichs im Beitrag von Oliver Steinert über Zwangsverschleppte/Displaced Persons oder die polnische politische Emigration nach Deutschland in den Jahren 1945 bis 1980 im Beitrag von Krzysztof Ruchniewicz bis hin zu Saisonarbeitern und der vielfältigen Zuwanderung einschließlich der Aussiedler in den 1980er und 1990er-Jahren.
Drittens führt der Band - wie die Auseinandersetzung in der Bremer Kirchengemeinde - auch die Komplexität von Wanderungsvorgängen und ihr Verwobensein am Beispiel der Migrationsprozesse von Polen nach Deutschland vor Augen. Die Autoren betrachten die Migration aus Polen, dabei aber nur polnische Migranten (11). Es ist von Polen, von polnischsprachigen Reichsbürgern, von Deutschen polnischer Herkunft und von "einheimischen" Polen in der Bundesrepublik die Rede. Gerade der diachrone Ansatz macht die zeitliche und von der Betrachtungsperspektive abhängige Bedingtheit von Begriffen deutlich, die dadurch fragwürdig werden. Das Aufbrechen von vermeintlichen Gewissheiten setzt sich bei der Untersuchung von Einlebensvorgängen in unterschiedlichen Milieus, unter unterschiedlichen politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und individuellen Rahmenbedingungen fort. Der Band insgesamt unterstreicht damit die Notwendigkeit der Differenzierung und gleichgewichtigen Berücksichtigung der einzelnen, auch individuellen Faktoren im Eingliederungsprozess. Erst dadurch wird, und dies ist ein zentrales Anliegen der überwiegenden Mehrheit der Beiträge, das Zusammen- und Widerspiel von Beharren und Einfügen bei Einlebensprozessen, die immer auch Identitätsprobleme aufwerfen, deutlich.
Der lange Betrachtungszeitraum, die Vielfalt der Migrationsformen und die Komplexität der damit verbundenen Eingliederungsvorgänge, zu welchen die Beiträge unterschiedliche methodische Zugänge wählen, werden in der aus der Feder des Herausgebers stammenden Einführung mithilfe des "Migrationssystem-Ansatzes" zusammengefügt. So ist ein Band entstanden, welcher nicht nur Einblick in eine Reihe abgeschlossener oder in Arbeit befindlicher Studien gibt, sondern auch wichtige Einzelbeiträge für eine Gesamtdarstellung der Migration aus Polen nach Deutschland liefert, welche nach wie vor ein Desiderat der Forschung darstellt.
Mathias Beer