Bernard Linek / Kai Struve (Hgg.): Nacjonalizm a tożsamość narodowa w Europie Środkowo-Wschodniej w XIX i XX w. [Nationalismus und nationale Identität in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert] (= Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung; Bd. 12), Marburg: Herder-Institut 2001, VII + 380 S., ISBN 978-3-87969-292-7, EUR 33,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer Tagung, die vom 6. bis 8. Oktober 1999 im Haus der deutsch-polnischen Zusammenarbeit in Gleiwitz (Gliwice) veranstaltet wurde. Ausschließlich Historiker und Soziologen der jüngeren Generation aus Deutschland, Frankreich, Litauen, Lettland und der Ukraine äußern sich zu Themen der Konstituierung der modernen Nation in Ostmitteleuropa vornehmlich im Zusammenhang mit eigenen Qualifikationsarbeiten.
In der Einleitung wird der Versuch deutlich, und hier zeigt sich der Band ohne Zweifel auf der Höhe der Zeit, sich dem Begriff der Identität kritisch und jede inflationäre Verwendung vermeidend zu nähern und ihn für den Gebrauch in der historischen Forschung zu konzeptualisieren. Es werden innovative Fragestellungen formuliert, die den Abstand zur traditionellen Nationalismusforschung suchen und sich eben nicht den Trägergruppen, der politischen Geschichte oder der Untersuchung einzelner nationaler Gruppen widmen, sondern der Konstruktion nationaler Identität zuwenden, der Verankerung des Nationalen im Alltagsleben und der Interaktion. Die Beiträge deklinieren diese Fragestellungen durch mit durchaus unterschiedlicher theoretischer Tiefe und verschiedenen Methoden. Wie für viele Veröffentlichungen der letzten zwei Jahrzehnte, die den Ansatz der Identität zur kulturgeschichtlichen Erfassung des Phänomens des Nationalismus suchen, gilt auch hier: Nicht überall wo Identität drauf steht, ist auch Identität drin. Viele Beiträge verbleiben bei konventionellen Sichtweisen, ohne damit gleich wissenschaftlich minderwertig zu sein. Allerdings: Wer sich mit Nation und Identität beschäftigt und damit in die Sphären von Mentalität und Verhaltensweisen eindringt, kommt um die Berücksichtigung sozialpsychologischer Aspekte und Mechanismen nicht herum und sollte sich auch die entsprechende Literatur ansehen - auch wenn es schwer fällt.
Die Schwierigkeit der Gruppierung der einzelnen Beiträge liegt in der Natur des Gegenstandes, und die daraus folgende Inkonsistenz der Einordnung unter fünf Schwerpunkten verweist auf die innere Abhängigkeit der Elemente nationaler Integration und ihrer notwendigen Verwobenheit. Die Prozessualität gegenseitiger Einflussnahme macht gerade die Besonderheit nationaler Konstitutionen aus und ordnet sie ebenso in diesen geschichtsmächtigen europäischen Prozess ein. Allein das zur Verfügung stehende Forschungspotenzial setzt Grenzen, um so höher ist das Ergebnis zu bewerten, das die Herausgeber vorgelegt und mit dem sie einen beachtenswerten und dauerhaften wissenschaftlichen Beitrag geliefert haben.
Der erste Abschnitt über das Verhältnis von nationalen und regionalen Identitäten nimmt wohltuend Abstand von den tradierten Mustern eines Gegensatzes und der alleinigen Sicht auf die Ausschließlichkeit nationaler Identität, die eine regionale Identität als Separatismus wertet. Die regionale Identität wird hier als konstitutives Element nationalen Bewusstseins und von Vorstellungen über ein nationales Territorium gefasst. Die etwas einfallslos wirkende Überschrift "Nationale und andere Identitäten" subsumiert Beiträge, die einzelne neuere forschungsrelevante Felder des Nationalismus erfassen, wenn es etwa um die Rolle der Frauen und die Verwendung und Änderung der Sprache geht. Hervorzuheben ist hier sicherlich der Beitrag von Claudia Kraft über den nationalen Charakter der polnischen Gesetzgebung in den 1930er-Jahren, der für einen Bereich hoher staatlicher Penetranz darlegt, wie der Nationalstaat an einer markanten Stelle das Staatsvolk kraft seiner Macht nationalisiert, und damit einen Einblick gibt in die Auffassung von Staat und Eliten über Nationalisierungsgrad und Nationalisierungsnotwendigkeit.
Der Abschnitt über die nationale Symbolik bietet eine ganze Reihe von Sachinformationen und beschreibt, bei allem Interesse an den einzelnen Beispielen, letztlich die zeitweilige Überschätzung dieses Bereiches für den Gesamtprozess des Nationalismus durch die Forschung.
Die Beiträge des vierten Abschnittes haben die "anderen" und die Konstruktion von Feindbildern und damit eine zentrale Wirkungsform des Nationalismus in seiner konfliktgenerierenden Potenz zum Gegenstand. Leider bleibt diese so wichtige Frage für die Zeit vor 1918 bzw. 1914 unberücksichtigt und damit auch die Rolle individueller Interessenlagen von Gruppen und Personen und ihr vielfach prägender Einfluss auf die gesellschaftliche Gestaltung und den Habitus der Nation in der Hochphase der Nationalisierung und ihrer starken Politisierung um die Jahrhundertwende.
Sicher wirken die Beiträge des letzten Abschnittes allein schon dadurch etwas abgesetzt, weil sie aktuelle politische Prozesse zum Gegenstand haben, die im Zusammenhang stehen mit der "Renaissance des Nationalen" im östlichen Europa nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. Sie sind aber gerade deshalb von großem Interesse, weil sie die Wirkung grundlegender Schemata und Erfahrungen der Nationalisierung in diesen Regionen vor dem Ersten Weltkrieg in den aktuellen nationalen Orientierungen belegen. Besonders deutlich wird dies in dem Beitrag von Jaroslav Hrycak, der für die ukrainische nationale Problematik die viel diskutierte These von "einem Volk und zwei Nationen" anhand des Städtevergleiches Donec'k und Lemberg (L'viv) vorführt. Er wirft nachhaltig allgemein gültige Fragen nach den Bindekräften der modernen Nation und ihrer Stetigkeit auf und baut damit eine Brücke zu der aktuellen Fragestellung nach der Lebensfähigkeit und Existenzberechtigung der Nation im heutigen Europa.
Die Beiträge sind auf Deutsch und auf polnisch abgedruckt und besitzen jeweils Zusammenfassungen in der anderen Sprache.
Ralph Schattkowsky