Pál Engel: The Realm of St Stephen. A History of Medieval Hungary, 895-1526, London / New York: I.B.Tauris 2001, XIX + 452 S., ISBN 978-1-86064-061-2, GBP 39,50
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Diese Besprechung muss, traurigerweise, gleichzeitig ein Nekrolog für den Verfasser sein, denn nach einer langen Krankheit starb Professor Pál Engel im August des vergangenen Jahres in seinem 63. Lebensjahr. Geboren in einer "gutbürgerlichen" Familie, auf deren Kultur und Werte er sein Leben lang stolz war (sodass er unlängst einen schönen Artikel über das ungarische Bildungsbürgertum schrieb), studierte Engel an der Universität Budapest Byzantinistik, doch bald wechselte er zur ungarischen Geschichte über. Jahrelang konnte er (wohl nicht unabhängig von seiner Herkunft) keine andere Stelle als die eines Bibliothekars, am Ende bei der Ungarischen Post (!), bekommen und erst in den 1980er-Jahren kam er ins Historische Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, wo er dann (nach dem Tod seines Freundes Jenõ Szücs) der mediävistischen Abteilung vorstand. Er wurde zum führenden Fachmann des ungarischen Hochmittelalters, vor allem des 14. und frühen 15. Jahrhunderts. Da er ungern auf Tagungen fuhr und kaum etwas in fremden Sprachen publizierte, sind seine Verdienste im Ausland nicht gut genug bekannt, doch in Ungarn genoss er hohes Ansehen. Außer vielen wichtigen Aufsätzen - vor allem über Königtum und Aristokratie - schrieb er die erste "unzensierte" Geschichte des ungarischen Mittelalters (gleich nach der Wende) und legte dann das grundlegende Werk über die Archontologie des mittelalterlichen Königreichs vor. Bereits in den Jahren seiner Krankheit, die er mit stoischer Würde durchstand, vollendete er sein groß angelegtes historisches Ortverzeichnis des 14.-15. Jahrhunderts. "The Realm of St Stephen" wurde zu seinem Vermächtnis. In der Zwischenzeit ist das Buch auch auf ungarisch erschienen.
Bereits in seinem früheren Buch bekannte sich Engel zu dem Prinzip, das von Szücs formuliert worden war: Geschichte darf man nur so schreiben, "daß deren Kategorien in Budapest, Prag und Bukarest das gleiche bedeuten sollen". Keine leichte Aufgabe! Das vorliegende Buch, für ausländische Leser abgefasst, beginnt mit einem noch radikaleren Bekenntnis gegen jegliche Vorurteile: "Ich hoffe", heißt es über das Buch auf Seite XI, "daß niemand, der in der Region [des Karpatenbeckens] lebt und starke Nationalgefühle hat, sein Wohlgefallen daran finden wird. Jede Nation hat hier ihre eigene Vision von der Vergangenheit, die mit der der anderen unvereinbar ist. Es war mein fester Entschluß, in diesem Buch keine von ihnen zu vertreten."
Ich glaube, dies ist ihm auch gelungen. Viele Ungarn werden ihm zunächst übel nehmen, dass er - ungeachtet des möglichen Anachronismus - Ortsnamen in der Sprache der heutigen "Nachfolgestaaten" des historischen Königreichs benutzt. Zwar lässt er die Nachricht des Anonymus (um 1200) über die Walachen im 9. Jahrhundert gelten, aber er unterstützt eine dako-rumänische Kontinuität in keiner Weise. Die Rolle der im Karpatenbecken ansässigen Slawen bei der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung der frühen Ungarn - im Sprachschatz eindeutig nachweisbar - wird hervorgehoben, aber damit noch keine jahrtausendlange Existenz etwa von "Slowaken" anerkannt. Und so weiter.
Obwohl Engels Stärke die Verfassungs- und Personengeschichte ist, bietet das Buch über den Zeitraum der behandelten fünf Jahrhunderte eine ausgewogene Darstellung von Wirtschaft und Gesellschaft, etwas weniger von Kunst und Kultur. Neueste Forschungen werden durchweg rezipiert, aber dem Zweck der Darstellung entsprechend geht der Verfasser nicht auf die wissenschaftlichen Diskussionen in Bezug auf Einzelfragen ein, sondern bietet ein dem allgemeinen Konsens entsprechendes Gesamtbild an - Fachleute werden freilich erkennen, wo er ein Votum für die eine oder andere Seite der Debatte abgibt. Wichtig ist auch, dass jegliche romantisch-nationalistische Verherrlichung, etwa des ungarischen Adels, vermieden und die Bewohner des mittelalterlichen Königreichs in Kategorien ihrer eigenen Zeit dargestellt wurden. Dabei greift der Verfasser regelmäßig auf die - leider recht spärlichen - Beispiele der Besitzverhältnisse oder Rechtsgeschäfte einzelner Komitate (über die er selbst wichtiges zu Tage gefördert hatte) zurück. Auf Grund der Literatur der letzten Jahrzehnte werden hier Karl Robert von Anjou und Sigismund von Luxemburg "rehabilitiert" und als Herrscherpersönlichkeiten dargestellt, die Ludwig I. und Matthias Corvinus gleichkamen. Die Rolle der Aristokratie im 14. und 15. Jahrhundert, ebenfalls ein altes Forschungsgebiet Engels, wird gleichfalls sehr treffend herausgestellt.
Alles in allem möchte man hoffen, dass die des Magyarischen nicht kundigen Historiker von nun an ihre Grundinformation nicht mehr aus dem veralteten Valentin Hóman (Geschichte des ungarischen Mittelalters, Berlin 1938), sondern aus Engels "Realm" schöpfen werden. Ob man dazu auch eine deutsche Übersetzung braucht? Die wäre keineswegs unnütz.
János Bak