Barbara Sher Tinsley: Pierre Bayle's Reformation. Conscience and Criticism on the Eve of the Enlightenment, Selinsgrove / London: Susquehanna University Press 2001, 476 S., ISBN 978-1-57591-043-7, EUR 76,59
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Pierre Bayle - der Name des französischen Philosophen und Historikers, der als Hugenotte vor den Repressionen Ludwigs XIV. in die Niederlande flüchtete, markiert einen wichtigen Punkt in der Inkubationsphase der europäischen Aufklärung. Schon die 'philosophes' des 18. Jahrhunderts hatten die Bedeutung des von ihnen als Schrittmacher gewürdigten Bayle erkannt, dessen 1697 erstmals erschienenes Dictionnaire Historique et Critique Epoche machte. Mit der Trennung von Vernunft und Religion und der Forderung, auch Atheisten (negative) Glaubensfreiheit einzuräumen, leistete der gegenüber der menschlichen Erkenntnisfähigkeit skeptische Calvinist einen maßgeblichen Beitrag zur Säkularisierung des frühneuzeitlichen Europa und steht somit auch an der Wiege der Moderne. Inwieweit Bayle, der bis zu seinem Tode am reformierten Bekenntnis festhielt, selbst "gläubig" im christlichen Sinne war, blieb in der wissenschaftlichen Welt umstritten und wird sich wohl kaum schlüssig klären lassen.
Die Forschung der letzten Jahrzehnte widmete sich vor allem Bayles philosophischem Werk, seiner persönlichen Religiosität und der historischen Methode. Die Studie der amerikanischen Wissenschaftlerin Barbara Sher Tinsley geht im Fahrwasser der "intellectual history" einer anderen Frage nach. Den Fokus der Untersuchung bildet eine religionsgeschichtliche Thematik, die Darstellung der bedeutendsten Reformatoren in den entsprechenden Artikeln von Bayles Dictionnaire. Intention des Werkes ist es, "trying to capture Bayle's view of the Reformation and its consequences or effect on European culture down to his own time" (23). Die Autorin, visiting scholar am History department der Stanford University, ist bisher vor allem mit Publikationen zur Reformations- und Bildungsgeschichte des 16. Jahrhunderts hervorgetreten und somit eine Kennerin der Materie.
Im Anschluss an eine Einleitung, die das Erkenntnisinteresse der Arbeit formuliert, werden vierzehn Persönlichkeiten der Reformationszeit vorgestellt. Berücksichtigung fanden nicht nur Protestanten, sondern auch zwei Katholiken - Erasmus von Rotterdam und Ignatius von Loyola. Tinsley strebte keine Vollständigkeit an. So fehlen Farel, Knox und Oekolampad, da die entsprechenden Artikel nur wenig signifikantes Material boten, während Zwingli und Thomas Müntzer von Bayle selbst nicht in das Dictionnaire aufgenommen wurden. Die einzelnen Artikel Tinsleys bestehen im Wesentlichen aus einer die wichtigsten Ergebnisse vorwegnehmenden, kurzen "Einleitung" und der kommentierten Inhaltswiedergabe der Bayle'schen Abhandlungen, die um die Ergebnisse der neueren Forschung bereichert sind. An manchen Stellen führt der angelsächsische Wissenschaftsjargon mitunter zu recht plastischen Formulierungen: "Bucer was embarrassed to find himself sandwiched between Luther's ideas on the Eucharist and Zwingli's" (136).
Bayles Sympathie galt nach Tinsley irenischen Persönlichkeiten wie Erasmus von Rotterdam, dessen literarische Meisterschaft, ethische Haltung und menschliche Würde er besonders schätzte. Dies verband beide Gelehrte, was Bayle allerdings nicht hinderte, das Festhalten des Erasmus an der alten Kirche zu kritisieren, bedeutete das doch den Verzicht auf die geistige Freiheit, die wichtigste Frucht der Reformation. Auch Philipp Melanchthon, der die Schärfe Luthers auszugleichen suchte, erfuhr eine positive Würdigung - Bayle bezeichnete den Praeceptor Germaniae als einen der weisesten und klügsten Männer des Jahrhunderts und brachte ihm von allen Reformatoren den meisten Respekt entgegen. Ein wesentlicher Grund hierfür lag in Melanchthons humanen Umgangsformen, so etwa seiner Geduld mit Theologen, die ihn wegen seiner Kompromissbereitschaft in Glaubensfragen angriffen - eine Erfahrung, die auch Bayle gemacht hatte. Überhaupt stellte ethisch korrektes Verhalten wohl ein zentrales Beurteilungskriterium Bayles dar.
Dies bedeutete freilich nicht, dass eine kompromissbereite Persönlichkeit wie Martin Bucer, der alles dem Ziel der Einheit des Protestantismus unterordnete und auch vor fragwürdigen Mitteln nicht zurückschreckte, eine positive Würdigung durch Bayle erfahren hätte - Bucers fehlendes persönliches Profil forderte Bayles Tadel heraus.
An manchen Stellen stößt der Leser auf Überraschendes. So blieb auch Sebastian Franck, der Gewissensfreiheit einforderte und eigentlich von Bayle mit spürbarer Sympathie hätte gezeichnet werden müssen, nicht von Kritik verschont: Bayle interpretierte Francks Gedankengut als Vorläufer des Pantheismus Baruch Spinozas, den er als potentiell dogmatisch (und deswegen gefährlich) empfand. Bayle hingegen vertrat in Anlehnung an Descartes eine dualistische Sicht der Welt, die Körper und Geist voneinander trennte und auf diese Weise die orthodoxe Auffassung von der Unveränderlichkeit Gottes stützte.
Bayles Abneigung gegen den Aberglauben zeigte sich besonders im Artikel über Ignatius von Loyola, dessen Marienverehrung besondere Erwähnung fand. Freilich galt Bayles Interesse mehr dem Jesuitenorden, dessen Vertreter aus Bayles Perspektive eine Bedrohung der staatlichen Ordnung darstellten - die ebenso staatsgefährdende calvinistische Widerstandslehre erwähnte Bayle allerdings nicht. Auch Martin Luther entging Bayles Kritik nicht. Besonders die Luthersche Auffassung von der Eucharistie und der Teufelsglaube des Reformators weckten die Skepsis Bayles, der Luthers uneingeschränktem Selbstvertrauen und dessen Gewissheit, die Wahrheit in Form einer göttlichen Offenbarung erfahren zu haben, eher kühl gegenüberstand.
Ähnliche Distanz bestimmte auch den Artikel über Calvin, dem Bayle die Hinrichtung Michael Servets zum Vorwurf machte. Bezeichnenderweise verzichtete Bayle darauf, das von einem Calvinisten erwartete Lob des "Kirchenvaters" selbst zu formulieren, und griff hierfür auf das Elogium Johann Sturms zurück. Da der Calvin-Artikel theologische Probleme weitgehend vernachlässigte, fasste Tinsley auch die Artikel "Baudoin", "Bertelier", "Bolsec" und "Arminius" in einem "Kaleidoscope" betitelten Kapitel zusammen: Es zeigt sich, dass Bayle dem Problem der Prädestination keine vorrangige Bedeutung beimaß, wie er überhaupt auf dogmatische Auslassungen weitestgehend verzichtete. Kritik an Calvins Intoleranz übte Bayle allerdings nur an versteckter Stelle.
Der Dictionnaire-Artikel über Sebastian Castellio, des Autors eines Werkes über die Toleranz, betonte die moralische Integrität des Verteidigers der Gewissensfreiheit, verwies zugleich aber auch auf das Scheitern der Reformation als einer Emanzipationsbewegung. Eine "Rettung" stellt auch der Artikel über Bernardino Ochino dar. Der ehemalige Vizegeneral des Kapuzinerordens und Bischof von Amélia hatte in Basel Zuflucht gefunden, musste aber die Stadt auf Druck von Calvin und Beza wieder verlassen. Ein weiterer "Radikaler", der Antitrinitarier Fausto Sozini, wurde ebenfalls in einem Artikel behandelt. Bayle brachte hier die Notwendigkeit zum Ausdruck, sich von der Autoritätshörigkeit in Gewissensfragen zu lösen - allein Gott könne die Natur des menschlichen Herzens ergründen.
Die Conclusion fasst die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung prägnant zusammen und betont die ambivalente Haltung Bayles gegenüber den Reformatoren, deren maßgebliches Versagen darin bestanden habe, die Gewissensfreiheit zu bewahren: "the vision was dimmed by the inability of the reformed parties to focus on liberty of conscience, and the sad result was a new tyranny over it, a new persecution of those with different doctrine." (322). Am Ende steht ein Ausblick, der begrifflich den Bogen von der Reformationszeit bis in die Gegenwart spannt. Tinsley sieht in den religiösen Umbrüchen des 16. Jahrhunderts Ansatzpunkte für eine multikulturelle Gesellschaft, die Bayle - natürlich ohne den (problematischen) Begriff zu kennen - beschrieben habe: "Bayle exposed the perils and pitfalls of what had come to fruition during his own lifetime, and of what we now call a multicultural or pluralist society. The Reformation had created the impetus for such a society" (331). Hier wäre die Frage zu stellen, ob eine Parallelisierung des 17. mit dem 21. Jahrhundert tatsächlich ohne weiteres möglich ist. Bayle erscheint abschliessend als Mose der gegenwärtigen Trennung von Staat und Kirche in der westlichen Welt: "Bayle's anticipation of what we have come to regard as the modern world, where churches and states are separated and separation guaranteed by constitutions, not magistrates, was understandably great" (332). Ein Appendix enthält Kurzbiogramme herausragender Persönlichkeiten der Reformationszeit, worauf sich der umfangreiche Anmerkungsteil anschließt. Die Bibliographie ermöglicht die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema; ein Namensindex erschließt den Band.
Tinsleys detailreiche Studie bietet dem für das Wesentliche sensibilisierten Leser einen überaus interessanten Einblick in die Baylesche Deutung der Reformationsgeschichte und leistet - modern gesprochen - eine Kommentierung und Vernetzung der einzelnen Artikel des Dictionnaire. Das Studium der Quelle, nämlich der Artikel Bayles, dessen facettenreichen, ironisch-skeptischen Stil die Autorin wortreich lobt, ersetzt sie aber nicht.
Stefan W. Römmelt