Rezension über:

Peter J. Burgard (Hg.): Barock. Neue Sichtweisen einer Epoche. Aus dem Englischen von Georgia Illetschko, Wien: Böhlau 2000, 377 S., 94 s/w-Abb., ISBN 978-3-205-98866-3, EUR 69,40
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Rezension von:
Jan-Friedrich Missfelder
Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Ute Lotz-Heumann
Empfohlene Zitierweise:
Jan-Friedrich Missfelder: Rezension von: Peter J. Burgard (Hg.): Barock. Neue Sichtweisen einer Epoche. Aus dem Englischen von Georgia Illetschko, Wien: Böhlau 2000, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 6 [15.06.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/06/2914.html


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Diese Rezension erscheint auch in PERFORM.

Peter J. Burgard (Hg.): Barock

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Georg Friedrich Händel besetzte für die Titelpartie seiner 1711 in London uraufgeführten Oper "Rinaldo" den berühmtesten Sänger seiner Zeit: den Altkastraten Senesino. Auch wenn sich das der Oper zu Grunde liegende Libretto nur sehr frei an die literarische Vorlage des "Gerusalemme liberata" Torquato Tassos anlehnte, so bildete diese doch einen Teil des künstlerischen Diskurses, der Tassos Kreuzfahrer-Epos für die Kultur des Barock reklamierte. Giovanni Careri zeichnet in einem der anregendsten Essays des anzuzeigenden Sammelbandes diese Rezeption der (beinahe) tragischen Liebesgeschichte zwischen dem Kreuzfahrer Rinaldo und der muslimischen Zauberin Armida anhand der bildenden Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts nach und legt dabei einen besonderen Akzent auf die Darstellung der wachsenden Effeminierung Rinaldos, die sich als Spiegelung der geliebten Armida vollzieht. Die Geschlechtsidentität des Ritters wird hier gradualisiert, wird unsicher und problematisch, was durch die Präsenz des Kastraten Senesino auf der Londoner Opernbühne unterstrichen wurde. Oper und bildende Kunst tragen daher zum einen zu jener "Diskursivierung des Sexes" bei, die Michel Foucault für das 17. Jahrhundert diagnostiziert hat, belegen aber zum anderen auch grundsätzlich am Beispiel der Geschlechtergrenzen, "daß die Kultur des Barock das Parodoxon der Grenze inszeniert" (12), wie Peter J. Burgard einleitend konstatiert.

Was also ist das Barock? Die 18 Beiträge, die im Oktober 1996 im Stift Melk und in Wien vorgetragen wurden und die der Band nun gesammelt präsentiert, versuchen nicht nur, sich dem Begriff, der Epoche, der Kultur und der Wissenschaft des Barock zu nähern, sondern problematisieren zugleich das Anliegen einer Begriffsdefinition selbst. Dies führt in der Gesamtschau auf den Band zu der nicht unerheblichen Schwierigkeit, dass manche Beiträge eine recht feste, gleichwohl oftmals implizite Vorstellung des "Barock" an ihren Gegenstand herantragen, andere hingegen gerade diese Vorstellung einer kohärenten Kultur des Barock in Zweifel ziehen. Einigkeit scheint nur darüber zu bestehen, dass gerade das Barock sich durch Ambivalenz, Widersprüchlichkeit und Heterogenität auszeichnet, wodurch für manche Autoren das ganze Unterfangen einer Definition obsolet wird. Insgesamt versammelt der Band Beiträge aus Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte, Musikwissenschaft, Wissenschaftsgeschichte, Philosophie und - eher am Rande - Geschichtswissenschaft, sodass schon Fülle und verwirrende Vielfalt der Ansätze sein geradezu neo-barockes Programm bestimmen. Überdies wird "Barock" zum Teil nicht nur als Epochenbegriff verstanden, sondern vielmehr als Stilbegriff für die diachron vergleichende Analyse von Kultur fruchtbar gemacht.

So identifizieren Mieke Bal und Giancarlo Maiorino ein spezifisch barockes Moment in zeitgenössischer bildender Kunst, der Literatur eines Jorge Luis Borges oder der Architektur Aldo Rossis oder Peter Eisenmanns. Vor allem Maiorinos Text verdeutlicht die Parallelen zwischen einer barock-manieristischen "Poetik der Erschöpfung" - vor allem bei Cervantes - (353) und einer postmodernen Tendenz zum stetig permutierenden "re-writing" der kulturellen Bestände. Diese virtuose Kombinatorik der Postmoderne verortet Christine Buci-Glucksmann schon in der barocken Figur der Allegorie. Die Allegorie versinnbildlicht für sie eine Struktur der Komplexität, die sich rein auf der Oberfläche der Zeichen abspielt, indem "dieses und jenes Bild mit dieser und jener Bedeutung verbindet, wie beim Weben eines Netzes" (208). Das Barock wird so vor allem als "korrelativ" (Gilles Deleuze) bestimmt, in dessen ästhetischem Zentrum eben nicht ein mimetisches Anliegen steht, sondern eine "Ästhetik des Virtuellen" (211), in der die Scheinhaftigkeit der Welt vor allem als deren Zeichenhaftigkeit begriffen wird. Dass in diesem Zusammenhang gerade die barocke Rhetorik keiner wirklichen Neubewertung unterzogen wird, verwundert ein wenig angesichts der vielfachen Ansätze einer poststrukturalistischen Rhetoriktheorie (Paul de Man, Anselm Haverkamp). Zwar betont Emery Snyder in der Analyse von Claudio Monteverdis "Incoronazione di Poppea" den Primat des Affekts vor dem Gefühl und damit die genuin rhetorische, auf Überredung und Überzeugung des Publikums hin angelegte Struktur, doch ist dies weder wirklich neu, noch sonderlich barock-spezifisch, handelt es sich bei einer solchen "pragmatisch orientierten Einstellung gegenüber künstlerischen Artefakten" (73) doch um ein Kennzeichen vormoderner Kultur generell. Dies gibt Snyder dann auch selbst zu.

In einem solchen universellen Verweisungszusammenhang Orientierung zu finden, scheint nicht einfach zu sein. Elisabeth Samsonow präsentiert daher mit ihrer Parallelanalyse barocker Architektur und Enzyklopädik den Versuch einer gemeinsamen Verortung der Welt im Wortsinne. Während sie bei barocker Architektur den Akzent auf illusionäre Räume wie Trompe-l'œils legt, findet sie deren Entsprechung in der barocken Enzyklopädik, deren Topik sich eines Modells imaginierten Raumes, eines "Raumes in Latenz" (81), bedient, um die Ordnung der Dinge darzustellen.

Die beständig wechselnde Perspektivik scheint als gemeinsames Kennzeichen einer spezifisch barocken Kultur ausgemacht werden zu können, bei der nie sicher ist, wie Autoritäten und Machtverhältnisse nun eigentlich verteilt sind. Charles Ingrao liefert einen knappen Abriss der Geschichte der habsburgischen Monarchie zwischen 1600 und zirka 1740 mit der schwachen Pointe, dass sich das habsburgische Barock durch finanzielle Nöte und mangelnde Verteidigungsfähigkeit selbst aufgelöst habe. Peter J. Burgard beschreibt dagegen die künstlerische Subversion monarchischer Autorität am Beispiel von Gryphius' "Leo Armenius" ebenso wie Franz M. Eybl die Verflüchtigung und stete Neukonstitution der Autor-Autorität Grimmelshausens in der Druckgeschichte seiner Werke. Wenn Autoritäten thematisiert werden, werden sie fragwürdig. Paul Francis Panadero diskutiert anhand der Dramen Shakespeares und Calderóns, wie gerade die affirmative Dramatik des Barock durch karnevalistische Motive subvertiert wird und so eine Verunsicherung der herrschenden Strukturen inszeniert werden kann.

Parallel zu dieser Problematisierung von Autoritäten schien aber im 17. Jahrhundert jene Erfolgsgeschichte des neuzeitlichen Rationalismus und der wissenschaftlichen Revolution zu verlaufen, wie sie Peter Machamer noch einmal nacherzählt. Während Maurizio Mamiani diese Heldensaga nur leicht modifiziert, indem er aufzeigt, wie Newton auf dem Wege der Analyse von Traumdeutungsbüchern die Analogie als "alternative Methode zu erklären, warum ein Apfel fällt" (185), neben der Induktion als wissenschaftliche Methode etabliert, gehen nach Christopher Braider Blaise Pascal und Cyrano de Bergerac erheblich weiter. Diese unterzögen die Descartesche Philosophie einer dekonstruktiven Lektüre avant la lettre und lösten das Selbst des "Cogito ergo sum" auf in ein Spiel von Erscheinungen, Zeichen und Täuschungen.

Was also bleibt vom Barock? Giancarlo Maiorino deutet die Kultur des Barock als ein Lehrstück über die Schwierigkeiten nach dem Ende der "großen Erzählungen". Die drängende Frage nach der Renaissance, die sich an Parametern der Vollendung und der Idealität orientiert hatte: "Konnte es eine Alternative zur oder eine Zukunft nach der Vollendung geben?" (345), findet ihr Echo im fröhlichen Skeptizismus nach der Teleologie der Moderne. Gerade in dieser Hinsicht inszenieren sie das Paradoxon der (Epochen-)Grenze. Barock wie Postmoderne brauchen dabei nicht unbedingt als Verfallsepochen zu gelten. Vielmehr zeigen sie, wie man sich vom Druck des Fortschritts und der Neuschöpfung befreit. Maiorino zitiert Jorge Luis Borges: "Laßt andere sich der Seiten rühmen, die sie schrieben, mein Stolz sind jene, die ich las" (343).


Jan-Friedrich Missfelder