Friso Ross / Achim Landwehr (Hgg.): Denunziation und Justiz. Historische Dimensionen eines sozialen Phänomens, Tübingen: edition diskord 2000, 283 S., ISBN 978-3-89295-689-1, EUR 18,00
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Achim Landwehr: Die Erschaffung Venedigs. Raum, Bevölkerung, Mythos 1570-1750, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2007
Achim Landwehr (Hg.): Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens, Augsburg: Wißner 2002
Achim Landwehr / Stefanie Stockhorst: Einführung in die Europäische Kulturgeschichte, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2004
Der Band beruht auf einer von dem Frankfurter Graduiertenkolleg "Europäische antike und mittelalterliche Rechtsgeschichte und juristische Zeitgeschichte" 1998 veranstalteten Tagung. Die (chronologisch geordneten) Beiträge beziehen sich auf Europa und Südamerika und umfassen die gesamte Neuzeit. Allerdings werden Anzeige und Anzeigeverhalten vor allem in Bezug auf vormoderne Gesellschaften und moderne Diktaturen untersucht. Die Normalität der Kooperation bleibt somit für moderne Gesellschaften weitgehend ausgeblendet. Die Herausgeber betonen in der Einleitung zu Recht, dass der Akt der Denunziation nicht immer ein Zeichen für politische Identifikation ist und nicht nur als auslösender Akt für staatliche Verfolgungshandlungen gesehen werden sollte. Es werden vier Kristallisationspunkte der Denunziationsforschung definiert: Wechselwirkung zwischen Denunziationen und Verfolgungspraxis; Normdifferenz zwischen Obrigkeit und Bevölkerung; private Instrumentalisierung des staatlichen Interesses; Stabilisierung von Herrschaft. Ausgeblendet bleibt zumeist (außer bei Landwehr, Zöttlein und Ross) die soziale Kommunikation über Konformität/Devianz und ihre Beziehung zum Anzeigeverhalten.
Achim Landwehr beschreibt Verfolgungsinstanzen und Anzeigeverhalten im frühneuzeitlichen Württemberg im Kontext des Beziehungsnetzes zwischen Obrigkeit, Denunziant, Denunziertem und lokaler Gemeinschaft. Mit dem Institut der Rüge wird eine Verpflichtung der Untertanen begründet, Kapitalverbrechen und Vergehen gegen die Policeyordnung anzuzeigen. Es wird von Bevölkerung und Eliten unterschiedlich gehandhabt: während Bürger fast nur Vergehen anzeigten, von denen sie persönlich betroffen waren, rügten Angehörige der Stadtobrigkeit auch Vergehen gegen die öffentliche Ordnung. Sie nutzten Anzeigen, um ihre Machtposition innerhalb der Stadt zu festigen.
Diana L. Ceballos Gómez präzisiert für die spanischen Kolonien im Amerika der frühen Neuzeit eine soziale Praxis von Denunziation, die, angesiedelt zwischen lokaler Autoregulation und zentralisierter Herrschaft, in ähnlicher Form auch für Europa beschrieben worden ist. Denunziation bildet einen wichtigen Berührungspunkt zwischen Zentralgewalt und lokaler Selbstverwaltung. Es sind die informellen Regeln der Gesellschaft, nach denen bestimmte Personen "ins Gerede kommen" und als deviant markiert werden. Durch Gerüchte und Tratsch wird diese Wertung publik. In der Öffentlichkeit schlägt sie sich als Rufschädigung nieder, und durch eine (instrumentalisierende) Anzeige wird das öffentliche Verdikt durch Vermittlung des Staates in Strafen umgesetzt.
Der Beitrag von Christiane Kohser-Spohn leuchtet in Anlehnung an A. de Baecque am Beispiel Straßburgs das Spannungsfeld zwischen der revolutionären Theorie verantwortlicher und öffentlicher Anzeige (délation) und der Praxis geheimer Informationsgewinnung (dénonciation) während der französischen Revolution aus. Gegenüber der Sichtweise der Revolution hielt sich in der Bevölkerung eine Mentalität, in der eine politische Anzeige als verwerflich galt, wenn persönliche Loyalitäten betroffen waren. Um der Anzeigepflicht dennoch nachkommen zu können, inszenierten Zeugen eine halböffentliche Kommunikation, die zur Anzeige führte: Ein Drittel der Denunziationen wurde 1791 von Personen angebracht, die nicht selbst Zeuge waren. Häufig finden sich in Denunziationen Äußerungen, dass der Zeuge selbst nicht anzeigen mochte, aber den Denunzianten informiert habe. Der Beitrag von Helga Zöttlein diskutiert gemeindliche Kirchenzucht in Kurhessen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei abweichendem Sozialverhalten. Sie zeichnet, ohne jedoch die Anzeigepraxis in das Zentrum der Untersuchung zu stellen, die Konfliktstrategien der Akteure nach, die zwischen den Anforderungen von Staat, Kirchengemeinde und sozialem Umfeld lavieren müssen.
Peter Becker beschreibt das Dilemma polizeilicher Informationsgewinnung durch Spitzel an deutschen Beispielen aus dem 19.Jahrhundert. Der Einsatz von Polizeispitzeln setzt die Annahme voraus, dass Kriminalität in abgeschlossenen Milieus organisiert wird. Erst in der Vorstellung einer ebenso geordneten wie abgeschlossenen Gegenwelt organisierten Verbrechens werden Spitzel sinnvoll und notwendig. Deren Interesse wiederum liegt entweder in der Bezahlung oder in der Begünstigung bei der Beurteilung eigener Straftaten (Kronzeugenregelung). In dieser Konstellation systematisch angelegt ist die Gefahr, dass Spitzel den polizeilichen Schutz nutzen, um weitere Verbrechen zu begehen. Für die Polizei ergab sich daraus die Notwendigkeit, ihre Spitzel einer möglichst weitgehenden Kontrolle zu unterwerfen.
Ein konzeptionell sehr anregender Beitrag ist der von Friso Ross über Richterkontrolle und Denunziation in der ersten spanischen Diktatur (1923-1931). Dort wurden Eingaben und Denunziationen zur Kontrolle der Justiz eingesetzt, die als mit den lokalen Eliten verfilzt galt. Diese Beobachtung fügt sich in ein bekanntes Szenario der Kooperation im Rahmen autoritärer Herrschaft. Ross kritisiert jedoch, dass häufig nur die Beziehung zwischen Staat und Individuen untersucht wurde und nicht das gesamte soziale Handlungsfeld, in dem die Bedingungen für Denunziationen definiert werden. Demgegenüber versucht er in seiner Untersuchung die verschiedenen Akteure auf der Seite des Staates und das soziale Umfeld der Denunzianten zu berücksichtigen. Im Gegensatz der Beobachtung zu Osteuropa und zum NS-Regime, dass im Kontext autoritärer Herrschaft Denunziationen und denunzierende Eingaben vor allem von Angehörigen der unteren Schichten lanciert werden, nutzten in Spanien vor allem Angehörige der ländlichen Eliten dieses Instrument, um ihre Interessen zu wahren. Die zentralen Behörden nahmen nur Eingaben als relevant wahr, in denen Informationen sozial adäquat formuliert worden waren. Dadurch wurde der Kreis der legitimen Beschwerdeführer auf die Gebildeten eingeengt. Es waren also gerade jene Notabeln die Verfasser der Eingaben, deren Einfluss auf die Justiz zurückgedrängt werden sollte. Die Denunziationen führten nicht dazu, den Zentralbehörden ein effizientes Vorgehen gegen die denunzierten Gerichtsbeamten und deren Verflechtung zu ermöglichen. Sie gingen meistens von einer Gruppe innerhalb der lokalen Eliten aus, die damit Druck ausüben wollten, um schließlich den Machtkonflikt unabhängig von den Zentralbehörden vor Ort zu lösen. Letztlich stimmten sich in diesem Verfahren zentrale und lokale Eliten über inhaltliche und formale Kriterien der Herrschaftsausübung ab.
Jörg Baberowski gibt einen Überblick zu Formen der Denunziation in der Sowjetunion im Zeitraum 1928-1941. Auf der Basis der bisher publizierten Arbeiten, vor allem von Sheila Fitzpatrick, und eigener Forschungen stellt er unterschiedliche Funktionsweisen von Denunziation dar. Dabei greift er stärker als notwendig auf Stereotype über den Stalinismus zurück, wenn er beispielsweise von der "denunziatorischen Leidenschaft unpolitischer Untertanen" spricht (167), wo diese auf eines der letzten Mittel politischer Einflussnahme zurückgriffen, das ihnen geblieben war: Eingaben und Denunziationen. Mit dieser Argumentationsfigur ignoriert er die in den Arbeiten von Fitzpatrick herausgearbeiteten Formen politischer Partizipation und reziproker Herrschaftsstrukturen, die offenbar nicht seinem Bild von Herrschaft im Stalinismus entsprechen.
H. Hirsch beschreibt den Ermittlungsgang bei hessischen Heimtückefällen vor dem Sondergericht Darmstadt im Jahr 1935, die zu einem großen Teil durch Denunziationen ausgelöst wurden. Seine Ergebnisse passen sich im Wesentlichen ein in die Forschungen zur Gestapo und zur politischen Justiz im NS-Regime, indem er auf die Konsequenzen einer Denunziation, die soziale Verortung und die Motive der Denunzianten eingeht. In den Verfahren aufscheinende persönliche Motive der Denunzianten werteten die Richter häufig als den Gehalt der Zeugenaussage relativierend, wenn gegen den Angeklagten in politischer Hinsicht weiter nichts vorlag oder dieser einer gehobenen sozialen Schicht angehörte.
Karol Sauerland bietet einen Überblick zum komplexen Phänomen der Denunziation in Polen zwischen 1939 und 1989 im Kontext wechselnder politischer Systeme. Er betont, dass auf Grund von aktuellen Interessen die juristische Verfolgung von Denunziation im jeweils vorangegangenen Regime entweder unterblieb oder für die Stabilisierung der neuen Herrschaft instrumentalisiert wurde. Gleichzeitig griff auch die gerade an der Macht befindliche Führung auf die Zuträgerschaft aus der Bevölkerung zurück. Die Aufarbeitung der Spitzeltätigkeit bis 1989 hat in Polen noch kaum wirklich begonnen. Clemens Vollnhals erläutert Aufbau, Aufgabenstellung und Techniken des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Dessen Vision umfassender Kontrolle aller gesellschaftlichen Bereiche ließ sich trotz erheblichen personellen Aufwandes nicht realisieren. Der tatsächlich erreichte Standard an staatlicher Kontrolle gesellschaftlichen - und das bedeutet auch immer: privaten - Lebens durch das MfS beruhte, neben seinen eigentlichen Mitarbeitern, auf der Zuarbeit (unregelmäßig) bezahlter und zu regelmäßiger Kooperation verpflichteter Spitzel. Deren Anreiz war, dass sie durch erwiesene Loyalität in den Genuss von vielerlei Vergünstigungen kamen. Zuletzt wurde eine Spitzeldichte von 1:120 im Verhältnis zur Bevölkerung erreicht. Das Spitzelsystem war übergreifend organisiert, um die Zuverlässigkeit und Verwertbarkeit der Informationen zu gewährleisten. Es bildet, und das wird häufig übersehen, ein Element im weitaus umfassenderen System der Überwachung und Informationssammlung über Personen im Herrschaftsbereich der SED.
Gerhard Sälter