Rezension über:

Jürg Meyer zur Capellen: Raphael. A Critical Catalogue of His Paintings. Vol. 1: The Beginnings in Umbria and Florence ca. 1500 - 1508, Landshut: Arcos 2001, 328 S., 32 Farbt., 193 Illustr., ISBN 978-3-935339-00-1, EUR 66,00
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Rezension von:
Martin Maentele
Ulmer Museum, Ulm
Redaktionelle Betreuung:
Eva-Bettina Krems
Empfohlene Zitierweise:
Martin Maentele: Rezension von: Jürg Meyer zur Capellen: Raphael. A Critical Catalogue of His Paintings. Vol. 1: The Beginnings in Umbria and Florence ca. 1500 - 1508, Landshut: Arcos 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 6 [15.06.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/06/3185.html


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Jürg Meyer zur Capellen: Raphael

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Zuletzt erschien ein ausführliches kritisches Verzeichnis des malerischen Werks Raffaels im Jahr 1971. Luitpold Dussler legte damals die revidierte und illustrierte, ins Englische übertragene Fassung seines bereits 1966 auf Deutsch veröffentlichten Bandes vor. 1989 kam der sehr handliche Katalog von Sylvia Ferino Pagden und Maria Antonietta Zancan heraus, der das Oeuvre in einem Band zusammenstellte. 1983 zeitigte das Jubiläum zum 500. Geburtstag Raffaels eine Flut wissenschaftlicher Literatur, die eine Vielzahl an Forschungsansätzen, neuen Resultaten und Restaurierungsberichten mit sich brachte und seither kaum abebbte. Um so willkommener heißt man eine umfassende, diese Erkenntnisse bündelnde Darstellung. Jürg Meyer zur Capellen hat nun den ersten Band eines auf drei Bände angelegten Oeuvreverzeichnisses herausgebracht. Behandelt werden die bis 1508 entstandenen Altar- und Tafelgemälde. Raffaels Übersiedlung von Florenz nach Rom in jenem Jahr legt diese Zäsur nahe. Band 2 wird mit den in Rom entstandenen Tafelgemälden fortfahren, Band 3 widmet sich ganz den Wandgemälden und Teppichen. Für alle Bände ist ein identischer Aufbau vorgesehen.

Die Einleitung in Band 1 skizziert die Ergebnisse der jüngsten Literatur. Meyer zur Capellen lässt dabei deutlich erkennen, dass er einen stilkritischen Ansatz favorisiert. Vor den eigentlichen Katalogteil stellt er eine Einführung, die die künstlerische Entwicklung darlegt. Es folgen 47 Katalognummern, die bei mehrteiligen Retabeln nochmals untergliedert sind. Abschließend verzeichnen 22 Einträge die vom Autor abgelehnten Zuschreibungen. Insgesamt werden mehr als 90 Gemälde behandelt.

Der Essay "The Young Raphael" (16-61) umfasst drei Abschnitte: "Umbrian Beginnings" (16), "Raphael in Florence" (33) und "The Portraits" (51). Wie bereits in seinem Buch von 1996 "Raffael in Florenz" gliedert Meyer zur Capellen Raffaels Leben und Werk vor Rom in den Dreischritt: Anfänge in Umbrien, die Zeit in Perugia, Florentiner Aufenthalt. Raffael dürfte noch unter der Anleitung seines Vaters Giovanni Santi in dessen Werkstatt in Urbino tätig gewesen sein, in der er auch nach dem Tod seines Vaters (1494) weiterarbeitete, dann vermutlich unter der Anleitung eines ehemaligen Assistenten, zum Beispiel Evangelista di Pian di Meleto.

Einer regelrechten Lehrzeit Raffaels während der 1490er-Jahre bei Perugino steht der Autor, entgegen der gängigen Meinung, skeptisch gegenüber. Raffael habe sich dessen Idiom erst in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts vollständig angeeignet, als Beispiel nennt er die Kreuzigung von 1502-03 (Kat. 7). Die ersten Aufträge erhält Raffael aus Città di Castello, wo in jenen Jahren Signorelli zu den beliebtesten Künstlern gehörte, eine Auseinandersetzung mit dessen Werk bleibt nicht aus. Nach Urbino wird Città di Castello zum Brennpunkt der frühen Karriere des Künstlers. Erst um 1500 nähere sich Raffael an Perugino an, in dessen Heimatstadt Perugia Raffael an den Erfolg in Città di Castello anknüpfen kann. Ein weiterer Meister, der für Raffael Bedeutung erlangt, ist Pinturicchio, der ihn zur Arbeit an der Piccolomini-Bibliothek in Siena hinzuzieht. Meyer zur Capellen sieht Raffael schon in seiner Zeit in Perugia als unabhängigen Künstler (28).

Im Herbst 1504 zieht Raffael nach Florenz, ein Empfehlungsschreiben vom 1. Oktober 1504 belegt dieses Datum. Gleich zu Beginn seines Aufenthaltes zeigt sich Raffael beeindruckt von der Kunst Leonardos, dessen Kartons zur Schlacht von Anghiari ihren Niederschlag in Zeichnungen von Kampfszenen finden. Fast ebenso intensiv setzt er sich mit Michelangelo auseinander. Am Ende der Zeit in Florenz erlangt Raffael für den Autor jene Freiheit und Sicherheit, die ihn ab 1508 in direkte Konkurrenz zu Leonardo und Michelangelo treten lassen. In seiner Darstellung geht Meyer zur Capellen ausführlich auf das zeichnerische Werk ein. Gerade in den Zeichnungen offenbare sich dessen Beschäftigung mit Vorbildern wie Signorelli, Pinturicchio, Perugino, Leonardo und Michelangelo oft deutlicher als in den Gemälden.

Da sie für ihn in eine eigene Kategorie gehören, diskutiert Meyer zur Capellen die Porträts zusammenhängend im letzten Abschnitt; entsprechend verzeichnet er sie am Ende des Katalogs. Bei den frühen Porträts herrsche in der Diskussion weiterhin Unstimmigkeit über die Eigenhändigkeit, sodass der Autor es für das Vernünftigste hält, nur jene Porträts Raffael zuzuschreiben, die in seine gesamtkünstlerische Entwicklung einzuordnen sind (51). Zum Vergleich zieht er zeitgleich entstandene Zeichnungen heran. Bei den Frauenporträts zeige sich das Interesse an Leonardo. Im Porträt der Maddalena Doni (Kat. 45 B) lehne er sich noch an das Konzept der Mona Lisa an, wenngleich in einer freieren Variation, die der Künstler in der Komposition noch nicht vollkommen beherrsche (57). Erst in La Gravida (Kat. 47) am Ende der Florentiner Periode erreiche er eine Ausgewogenheit in der Komposition, die vor allem darauf ziele, einen würdevollen Eindruck der Dargestellten zu geben.

Es folgt der Katalog, der chronologisch geordnet ist. Die Katalognummern gliedern sich in zwei Teile. Einer Kurzbeschreibung des Gemäldes folgen Angaben zum konservatorischen Status, die - so weit vorhanden - Ergebnisse der jüngsten Restaurierungen miteinbeziehen. In vielen Fällen ergänzen Röntgen- oder Infrarotaufnahmen die Abbildungen, wie erfreulicherweise auch dann eine Schwarzweißphotographie bei der Katalognummer steht, wenn das Werk mit einer (meist gut reproduzierten) Farbtafel dokumentiert ist. Im Anschluss resümiert der Autor die wissenschaftliche Debatte, wobei er auch ikonographische Studien mit berücksichtigt. Die Entstehung des Gemäldes wird im Rahmen des stilistischen Kontexts diskutiert, um so eine Basis für einen Datierungsvorschlag zu schaffen. Schließlich, und hierin ist ein großer Vorteil dieses Bandes zu sehen, bespricht er die Zeichnungen, die mit dem fraglichen Werk in Verbindung gebracht werden können. Der Text schließt mir der Datierung ab. Kleingedruckt folgt dann unter I ein Verzeichnis der Vorstudien, das nur zweifelsfrei zugeschriebene Blätter auflistet (8), unter II die Kopien (Zeichnungen, Gemälde) und unter III die reproduktionsgrafischen Blätter.

Es ist hier nicht der Raum auf Meyer zur Capellens Chronologie einzugehen. Die Eckdaten sind durch die datierten Werke vorgegeben. Die Chronologie bewegt sich, soweit sich das überblicken lässt, im Rahmen des Etablierten, wie Vergleiche mit Dussler oder Ferino Pagden / Zancan erkennen lassen. Die vom Autor zurückgewiesenen Zuschreibungen dürften mehr Anlass zu Kontroversen geben, so zum Beispiel bei der Auferstehung (X-8) in Sao Paulo oder dem Porträt eines jungen Mannes (X-16), das zur Sammlung der englischen Königin gehört.

Meyer zur Capellen weist selbst darauf hin, dass die Vorgehensweise und der Umfang eines Werkverzeichnisses innerhalb der Fachwelt Gegenstände der Diskussion sind. Seinen Katalog bestimmt er für Leser mit einem allgemeinen Hintergrund - sei ihr Interesse an Raffael privat oder beruflich -, denen die wissenschaftliche Diskussion nicht ohne weiteres zugänglich ist (11). Gemessen an diesem Anspruch verwundert die Auslese des Autors. Auf Grund seines stilkritischen Ansatzes nimmt er wichtige kunsthistorische Beiträge der letzten Jahre (Locher, Hiller von Gaertringen, Wagner) zwar zur Kenntnis, wirft ihnen aber jeweils mangelndes Interesse an stilkritischen Methoden vor (13f.). Der ambitionierte Laie, der dieses Buch mit der Erwartung erwirbt, auch etwas über die Funktion der Kunstwerke, die Werkstattgepflogenheiten und ikonologische Fragestellungen zu erfahren, dürfte enttäuscht sein. Jörg Traegers "Renaissance und Religion: Die Kunst des Glaubens im Zeitalter Raphaels" von 1997 übergeht der Autor gar stillschweigend, auch in der Bibliografie ist es nicht verzeichnet. Das ist bedauerlich, zumal die Katalognummer zum Sposalizio (Kat. 9) dem Rang des Gemäldes entsprechend unangemessen kurz geriet (eine Seite Text) und Traeger Wesentliches zum ikonographisch-ikonologischen Verständnis des Werkes beisteuerte. Gewollt oder ungewollt liefert Meyer zur Capellen damit der Diskussion über das Wie und Warum von Oeuvre-Verzeichnissen neue Nahrung.

Diese Einwände sollen nicht vergessen lassen, dass hier ein Kenner seine Sicht auf das malerische Frühwerk Raffaels vorgelegt hat und damit - auch auf Basis der jüngsten technologischen Erkenntnisse - nicht unwesentlich zur besseren Kenntnis des Renaissancemeisters beiträgt.


Martin Maentele