Dina van Faassen: "Das Geleit ist kündbar". Quellen und Aufsätze zum jüdischen Leben im Hochstift Paderborn von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis 1802 (= Historische Schriften des Kreismuseums Wewelsburg; Bd. 3), Essen: Klartext 1999, 360 S., ISBN 978-3-88474-765-0, EUR 16,50
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Eine Publikation wie die von Dina van Faassen über die Juden im Fürstbistum Paderborn hat ihren offenkundigen Sinn in Form und Inhalt. Quelleneditionen zur Geschichte der Juden in der Frühen Neuzeit sind rar gesät - sie existieren neben den brandenburgisch-preußischen Gebieten (in der allerdings nicht mehr ganz zeitgemäßen Edition von Selma Stern) nur für kleinere Territorien (Hessen-Darmstadt, Lippe, Herzogtum Westfalen, Pfalz-Zweibrücken und andere mehr), nicht aber für siedlungsgeschichtlich so bedeutende wie die Kurstaaten Köln, Trier, Mainz und Pfalz. Was die Forschungslandschaft angeht, so sind neben den geografischen nach wie vor auch thematische und chronologische Freiflächen auszumachen: So genießt die Rechtsgeschichte einen traditionell unverhältnismäßig hohen Rang vor der Sozial- und Kulturgeschichte, zudem sind territorialgeschichtliche Arbeiten zur Geschichte der Juden auffällig oft auf die 'Toleranzzeit' des ausgehenden 18. Jahrhunderts konzentriert. Diese Faktoren lassen sich auch an der Erforschung der (hochstiftisch) Paderborner Juden festmachen. Immerhin ist festzustellen, dass die bislang allenfalls mäßige Erforschung der älteren jüdischen Geschichte in Paderborn in den letzten Jahren Aufwind bekommen hat, insbesondere im Bereich der Lokalgeschichte: Neben einigen Ortsgeschichten (Warburg, Beverungen und andere mehr) sind hier zu erwähnen Elfi Pracht-Jörns' Band "Jüdisches Kulturerbe" für den Regierungsbezirk Detmold sowie das in fortgeschrittener Bearbeitung befindliche "Handbuch der jüdischen Gemeinden im Regierungsbezirk Detmold" (Arbeitstitel) in der Herausgeberschaft von Karl Hengst und unter Beteiligung unter anderen von Margit Naarmann.
Nicht nur an der Haupteinleitung, die neben anderem die noch weitgehend offenen Themen der jüdischen Geschichte im frühneuzeitlichen Reich auf den Punkt bringt (die Lebenswelt jüdischer Frauen, alltagsgeschichtliche Aspekte überhaupt, Demographie, Mobilität und andere mehr), sieht man, mit welcher Sicherheit und Weitsichtigkeit sich die Herausgeberin auf dem komplexen Feld der christlich-jüdischen Geschichte zu bewegen versteht: Vor allem fällt sofort die reflektierte Komposition des Buchs ins Auge, das eine beeindruckende Bandbreite von Themen umfasst und mit didaktischem Geschick präsentiert. Statt in durchgängiger Reihung nämlich sind die insgesamt 108 abgedruckten Quellenstücke auf fünf Abschnitte mit jeweils unterschiedlicher thematischer Zuordnung verteilt: "I. Die Entwicklung des Geleitswesens und die Judenordnungen" (22 Nummern), "II. Rechtliche und soziale Verhältnisse sowie wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten der Judenschaft" (36), "III. Religiöses Leben und Selbstverwaltung in Landjudenschaft und Gemeinden" (20), "IV. Armenwesen und Betteljudenproblematik" (10), " V. Das konfliktreiche Verhältnis zwischen Juden und Christen" (20). Jede der fünf Abteilungen ist mit einem maximal zehnseitigen "Aufsatz" versehen: Diese Einleitungen erklären und vertiefen zugleich, und gerade für den punktuellen Zugriff auf eines der Themenfelder könnte sich der Benutzer eine bessere Handreichung kaum wünschen. Die glücklicherweise in originaler Sprachform wiedergegebenen (nur sehr vorsichtig normalisierten) Quellen sind jeweils mit kurzen Regesten versehen. In Anbetracht schließlich des großzügigen Anhangs des Buchs (er enthält nacheinander: ein Verwaltungsschema zum Hochstift Paderborn, eine Karte jüdischer Siedlungen, ein weiteres Schema zur "inneren Verfassung der Judenschaft des Hochstifts", eine Bevölkerungstabelle, Listen über Münzenwerte, Lebensmittelpreise, Löhne, Maße und Gewichte, eine Aufstellung der Paderborner Fürstbischöfe und als Beilage ein 24-seitiges Glossar zu Fachbegriffen) hat man ein Musterbeispiel an wissenschaftlicher Anschaulichkeit vor sich. Dass nur ein Orts-, nicht aber ein Personenregister beigegeben wurde, ist natürlich schmerzlich, allerdings ausdrücklich begründet und auf Grund der noch völlig unentwickelten prosopographischen Erforschung der Paderborner Juden einsichtig. Lediglich hätte ich mir eine Zusammenstellung der zum Teil entlegenen Archivalien beziehungsweise Archive gewünscht (Das Gros der Quellen stammt aus der Paderborner Überlieferung im Staatsarchiv Münster. Laut Ausweis des für die Erforschung des westfälische Judentum überaus nützlichen Spezialfindbuchs "Quellen zur Geschichte der Juden in Westfalen" [1] gehen die einschlägigen Quellen zur Geschichte des Paderborner Judentums in die hunderte von Nummern. Es wurden aber auch Adelsarchive herangezogen, was besondere Anerkennung verdient. Ortsgeschichtliche Akten, die in den Jerusalemer "Central Archives" vermutet werden, [2] konnten verständlicherweise nicht einbezogen werden).
Der erste Themenabschnitt befasst sich schlüssig mit der fürstbischöflichen Geleitspolitik. Wie in vielen Territorien des Reichs, so auch in den westfälischen, hatten sich Juden seit den Verfolgungen des 14. Jahrhunderts "erst wieder Mitte des 16. Jahrhunderts im Hochstift niederlassen" können (16) (wann und wo genau aber, wäre zu fragen). Ein geregelter Umgang mit ihnen setzte indes erst um die Mitte des 17. Jahrhunderts ein, womit nach Ansicht der Herausgeberin das "jüdische Mittelalter" überhaupt erst endete. Einen Markstein bildete das erste der üblicherweise auf zehn Jahre bemessenen und mit jedem Herrschaftswechsel erneuerungsbedürftigen Generalgeleite des Jahres 1651, das die Individualgeleite zusammenfasste (abgedruckt ist ein Generalgeleit von 1681 (Nummer 4)). Daneben wurde das Judenrecht wie anderswo in Edikten et cetera und in den Judenordnungen von 1648, 1683 (Nummer 5) und 1719 (Nummer 9) fixiert, als auch eine spezielle Judenkommission eingerichtet wurde (hierzu unter anderem Tl. II, Nummer 42 und Tl. V, Nummer 99). Die 1719 in einer Sedisvakanz durch das Domkapitel erlassene Judenordnung zielte auf eine Begrenzung der Judengeleite auf 125 Familien und kann als stellvertretend angesehen werden für die in vielen Territorien zu beobachtenden, bislang aber noch nicht systematisch untersuchten Versuche der sogenannten intermediären Instanzen, in das fürstliche Judenregal einzugreifen. 1729 hielten die Paderborner Landstände Bischof Clemens August denn auch unumwunden an, alle Juden bei entsprechender finanzieller Kompensation zu vertreiben (Nummer 11). Noch 1795/1796 unternahmen die Stiftsstände unter der Ägide des stadtpaderbornischen Krämeramtes den Versuch, die Juden auf 125 zu reduzieren: Nunmehr (1795) seien 281 Familien im Land, "aus welchen bei der Juden gewöhnlichen Fruchtbarkeit wohl 1700 Seelen zu berechnen stehen" [Tl. II, Nummer 55]. Nach der (auf der bestehenden Literatur beruhenden) Bevölkerungsliste lag jedoch die Familienzahl schon 1719 bei 158, 1778 bei 272, die Personenzahl im Jahr der preußischen Besitzergreifung 1802 bei 1.947.
Abschnitt II der Quellen dokumentiert vor allem Klagen der Zünfte und Magistrate über den 'unlauteren' Handel der Juden und ihre angebliche fiskalische Bevorzugung. Abschnitt III bringt Quellen über die Gremien und Ämter der jüdischen Selbstverwaltung [3]: Die Judenlandtage des 18. Jahrhunderts (in Borgholz, dann Warburg), den Ältestenrat beziehungsweise Obervorgänger, Kollektor und Rabbiner. Im Laufe des 18. Jahrhunderts sei, so die Herausgeberin, die Tendenz zu beobachten, dass "demokratische Traditionen in der Judenschaft" dadurch unterlaufen wurden, dass wenige wohlhabende Familien die landjudenschaftlichen Ämter unter sich ausmachten (194).
Abschnitt IV beleuchtet mit der Sozialgeschichte der unteren jüdischen Schichten ein quellentechnisch ebenso schwieriges wie wichtiges, in der Literatur aber noch weitgehend unbestelltes Feld. Denn natürlich wirft die in aller Regel doch rigorose und nicht nur in den preußischen Territorien im 18. Jahrhundert hochbürokratisierte Geleitspraxis die Frage nach der Situation derjenigen Juden auf, die sich Geleite entweder nicht leisten konnten oder als nachgeborene Kinder gegenüber den Hauptberechtigten von vornherein nicht konzessionsberechtigt waren. Diese Juden mögen manchmal auf die Gunst innerjüdischer Wohltätigkeit gebaut haben, eher die Normalität erscheint mir indes die verweigerte Solidarität der Gemeinden beziehungsweise ihrer Vorsteher, die unvergleitete Bettel und Handel treibende Juden schließlich in aller Regel fern zu halten bestrebt waren (Dokument Nummer 86 illustriert dies). Zwar gilt in der Forschung nach wie vor die Quote von 10% Anteil der Betteljuden an den Landjudenschaften als Orientierungswert (255), lokal aber dürfte sie sehr viel höher zu veranschlagen sein, zumal gegen Ende des Ancien Régime. [4] Neben den normativen Quellen (Edikte, Verordnungen et cetera) bringt die Herausgeberin hierzu lebensnahe Einblicke in Auseinandersetzungen um arme Juden vor Ort (Nummer 83, 85, 87). Dass im letzten Abschnitt das Verhältnis von Christen und Juden als "konfliktreich" erscheint, widerspricht kaum der historischen Realität, beruht natürlich aber auch auf der subjektiven Auswahl der 20 Quellen. Man liest hier über studentische Übergriffe auf Juden an der Universität Paderborn 1701 (Nummer 91), eine Hostienschändungslegende in Büren 1721 (Nummer 92) und Klagen über regelmäßige Steinwürfe auf einen Paderborner Juden bei katholischen Beerdigungen (Nummer 106). Dem gegenüber steht (in Tl. I, Nummer 20) aus demselben Jahr das durchaus bewegende Leumundszeugnis für einen aus dem Städtchen Lügde wegziehenden Juden, das ihm ein dortiger (christlicher) Lokalbeamter ausstellte: Dieser hebt die "Gutthaten und Wohltaten" des Juden hervor, und zwar mit gleich dreimaligem Verweis auf dessen herausragendes Ansehen bei Christen wie bei Juden. Gern wüsste man mehr über jenen Juden Jonas Michel, den aufrichtigen Subalternbeamten und das Miteinander von Christen und Juden in Lügde.
Sowohl als wissenschaftliches Werk wie als Lehrbuch stellt diese Publikation in uneingeschränktem Maße die von Friedrich Battenberg im Geleitwort hervorgehobene "Pionierleistung" dar: Nur sollte sie nicht nur Schule machen, sondern dort auch benutzt werden (der erschwingliche Preis bietet die Möglichkeit dazu!). Neben vielen Gründen dafür ist nicht der schlechteste, dass im hiesigen Paderborner Land, auf der Wewelsburg, ab Juli 1934 eine Kult- und Schulungsstätte, ab 1939 samt Konzentrationslager (Niederhagen) entstand. Neben Besuchern des dortigen Kreismuseums (der Herausgeberinstitution dieses Buchs) und der zeitgeschichtlichen Dokumentationsstätte sind dort noch heute selbst ernannte 'Sonnenanbeter' der rechten Szene anzutreffen.
Anmerkungen:
[1] Bearbeitet von Ursula Schnorbus, 1983
[2] Siehe jetzt die Strukturübersicht von Stefan Litt, in: Der Archivar 55, H. 1, 2002, S. 65-67
[3] Hierzu in absehbarer Zeit die Edition von Daniel J. Cohen, Die Landjudenschaften [...], Bd. 3, Tl. VIII
[4] Vgl. jetzt Friedrich Battenberg, Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, 2001, S. 45-47
Stephan Laux