Gisela Engel / Brita Rang / Klaus Reichert u.a. (Hgg.): Das Geheimnis am Beginn der europäischen Moderne (= Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit; Bd. 6), Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2002, 531 S., ISBN 978-3-465-03146-8, EUR 54,00
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Dass Geheimnisse dazu angetan sind, ausgespäht, hervorgezerrt und ans Licht der Öffentlichkeit befördert zu werden, belegt der hier anzuzeigende Band, in dem auf über 500 Seiten der Erkundung dessen nachgegangen wird, was sich seinem Begriff nach nicht erkunden lassen will. Im Zentrum stehen "die sich wandelnden Konstellationen und Funktionen des Geheimnisses vom 15. bis zum 19. Jahrhundert" (9). Die Beiträge, hervorgegangen aus einer Frankfurter Tagung und erweitert um die themenverwandten Ergebnisse einer amerikanischen Forschergruppe, umkreisen die Gebiete Öffentlichkeit und Herrschaftswissen, Öffentlichkeit und Intimität, Körper und Sexualität sowie Künste und Wissen.
Damit ist bereits angedeutet, dass der Verhandlungsgegenstand durchaus kein einheitlicher ist und wir es mit technisch erzeugten wie mit "natürlich" gegebenen Geheimnissen zu tun bekommen, mit den Produkten weltkluger Verstellungs- und Regierungskunst ebenso wie mit dem, was sich im Inneren des menschlichen Körpers verbirgt. Einzelne Aufsätze behandeln das Geheimnis im Kontext von Politik, Religion, Recht und Geschichtsschreibung, seine Konstruktion in Literatur und Kunst, seinen Stellenwert in Diskursen über den Körper und seine Lüste. Techniken der Ent- und Verhüllung von Geheimnissen werden dabei gleichermaßen in den Blick genommen und weisen das Geheime als einen Bereich aus, dessen Demarkationslinien sich beständig verschieben. Zurecht erinnert Klaus Reichert in seiner Einführung daran, dass Geheimnisse entstehen und vergehen, nicht unbedingt deshalb, weil sie zuvor erfolgreich entschlüsselt worden wären, sondern kraft gesellschaftlicher Übereinkunft: "Geheimnisse ändern sich also, haben ihre Geschicke und Geschichten, nehmen andere Gestalt an, haben unterschiedliche Stellenwerte, aber dass es sie überall und jederzeit gibt, ist nicht zu bestreiten"(12). Als wirkungsmächtiger Generator von Versuchen, dem Menschen einerseits - durch Folter oder Beichte, Spionage, Physiognomik oder Psychoanalyse - seine Geheimnisse zu entreißen, ihm aber andererseits - mithilfe von Klugheitslehren, Verkleidungen, geheimen Schriften oder Sprachen - eine "arrière-boutique" (Montaigne) zu belassen oder gar erst einzuräumen, ist das Geheimnis allem Anschein nach ein Kulturstifter ersten Ranges.
Wer würde in einer Zeit, in der Sekretariate gemeinhin die erste Adresse für Auskünfte sind, hinter dem "Sekretär" noch einen Geheimnisträger vermuten? Entlang dem Bedeutungswandel des lateinischen "secretarius" über den "Heimlichen", wie ihn das Mittelalter als engsten Vertrauten und Berater der Obrigkeit kennt, zum "Schreiber" verhandelt Horst Wenzel den Medienwechsel von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit, von dem auch der Ort des Geheimen betroffen ist: "Der heimliche Ort der Rede verwandelt sich in den heimlichen Ort der Schrift"(69). Muss sich der personale Geheimnisträger durch absolute Zuverlässigkeit und Diskretion auszeichnen, so ist die Geheimhaltung von Schriften nicht weniger problematisch und setzt, worauf Wenzel nicht eingeht, das Geheime einer verdoppelten Entdeckungsgefahr aus, denn selbstverständlich können sich Geheimnisinteressenten sowohl des Schreibers, als auch des geheimen Schriftstücks zu bemächtigen versuchen. Spätestens bei der Lektüre von Ulrike Vedders Aufsatz, in dem das Aufspüren, Abfangen, Kopieren, Fälschen und Mitlesen fremder (Liebes-)Briefe als Konstituens des libertinären Romans plausibel wird, tritt die Entdeckungsanfälligkeit schriftgewordener Geheimnisse offen zu Tage. Die hier anklingende Einsicht, dass Geheimnisse immer an ein Medium ihres Entbergens (und Verbergens, wie man hinzufügen möchte) gebunden sind, bringt Valentin Groebner in seinen Bemerkungen zum Austausch von Geschenken und der Stiftung geheimer Verbindungen prägnant auf den Punkt: "Every secret - no matter how secret it pretends to be - derives its power from the media that reveal its existence"(108).
Einen faszinierenden Einblick in die italienische Geheimdiplomatie des ausgehenden 15. Jahrhunderts vermittelt Melissa Meriam Bullard, deren Spezialwissen als Herausgeberin der Briefe Lorenzo de´ Medicis in ihrem Beitrag "Secrecy, Diplomacy and Language in the Renaissance" mit glänzendem Gewinn angelegt ist. Bullard interessiert sich für die doppelbödige Struktur von Gesandtschaftsbriefen, die, teils verschlüsselt, neben einem offiziellen, den Gegenstand der Sendung betreffenden Teil einen zweiten Abschnitt enthielten, direkt an den Gesandten adressiert und mit geheimen Instruktionen für sein Verhalten während der jeweiligen Mission gespickt. So wird dem florentinischen Gesandten in Mailand aufgetragen, bei seinem Treffen mit Ludovico Sforza nicht nur auf dessen Worte, sondern auf jede Gemütsregung zu achten, "whatever signs, gestures, and movements he should make while articulating his response, so that through them it is possible to judge more effectively if his words come from the heart and to examine if his words and outward gestures correspond"(91). Das Phantasma einer transparenten Herzenssprache, die den Zugang zum opaken Inneren ermöglicht - hier vernehmen wir es nicht nur 250 Jahre vor Rousseau, sondern Seite an Seite mit seinem perhorreszierten Widerpart, der Sprache der Verstellung. Wenn deren Beherrschung in diplomatischen Kreisen nicht ohnehin vorausgesetzt werden kann, so wurde sie in jedem Fall fleißig trainiert, wie andere Instruktionen zur gezielten Täuschung des Gegenübers belegen. Von derlei Verwirrspielen scheint es da nur noch ein kleiner Schritt bis zu den Klugheitslehren späterer Jahre.
Patricia Simons hebt in ihrem Beitrag eine Geheimnisverräterin auf den Schild, die Jonathan Sawday vor einigen Jahren kurzerhand zur Leitwissenschaft der Renaissance ausgerufen hat. Die Rede ist von der Anatomie, insbesondere von Helkiah Crooke, der als Kompilator einschlägiger Autoren von Vesalius bis Valverde zu den Wegbereitern kontinentaler Theorien in England gehört. Das Beispiel ist denkbar gut gewählt, denn an Crooke und seinem Anatomieatlas (Mikrokosmographia, 1615 und öfters) lassen sich eine ganze Reihe von Beobachtungen machen, die direkt ins Zentrum der Frage nach dem Geheimnis führen. Mit dem Verzicht auf die Wissenschaftssprache Latein setzt Crooke bewusst auf In- statt Exklusivität, eine Geste, die in merkwürdigstem Kontrast zu anderen, geheimniskrämerischen Aspekten seines Buchs steht. Simons konzentriert sich bei ihren Überlegungen auf die weibliche Figur der Titelseite, angelegt in der ikonographischen Tradition einer Venus pudica und irritierend in ihrer Dialektik von Zeigen und Verbergen. Im Zeichen dieser dialektischen Spannung steht auch das umstrittene Vierte Buch, in dem Crooke jene Körperteile verhandelt, die das Englische "secret", "private" oder "shameful" nennt. Die Pointe freilich bleibt Simons ihren Leserinnen und Lesern schuldig: Crooke ließ das Vierte Buch drucktechnisch so herstellen, dass es aus dem Buchblock herausgetrennt und "privately", unbefugten Blicken entzogen, aufbewahrt werden konnte. Welcher Art die Studien gewesen sein mögen, die (männliche) Leser insgeheim mit einer bebilderten Abhandlung über die Geschlechtsteile trieben, deutet Simons an, indem sie augenfällige Parallelen zwischen dem anatomischen und dem erotisch-pornografischen Diskurs der Zeit herausstellt. Hier liegt das große Verdienst ihres Beitrags, geschmälert allerdings durch die Penetranz, mit der sie in jeder weiblichen Figur eine "Eva" und darin eine anatomische Ausbuchstabierung der Geschichte vom Sündenfall erkennen will. Für die schamhafte Geste von Crookes Titelfigur bietet sich im Übrigen noch eine ganz andere Interpretation an: Schamhaftigkeit und Keuschheit beschreiben eine vom Leser eingeforderte Lektürehaltung, ohne die Wissenschaftlichkeit nicht gelingen kann. Gefahr geht dabei vorrangig von den Bildern aus, die "geheime" Körperteile nicht durch ihre Vorenthaltung, als weiße Fläche (dazu der Beitrag von Daniela Hammer-Tugendhat über Vermeers Briefeleserinnen) darstellen können, sondern sie im Dienst des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns schamlos-explizit machen müssen und damit zu einer "falschen", undisziplinierten, sinnlichen Lektüre verführen.
Hier ließe sich mühelos mit weiteren Überlegungen zum Thema anknüpfen. Zu untersuchen wäre die paradoxe Funktion des Buchdrucks als Mittel der Veröffentlichung und Geheimhaltung zugleich (Crooke), die Inszenierung des Geheimen als des Authentischen (exemplarisch in Walters "My Secret Life"), der geheime Raum (Studiolo, Bibliothek), die marktstrategische Instrumentalisierung von Geheimnissen als Kauf- und Lektüreanreiz (dazu teilweise der Beitrag von Verena O. Lobsien). Anstatt diese Linien weiterzuverfolgen, soll abschließend einem Verdacht Gehör eingeräumt werden, der sich nach beendeter Lektüre mit einer gewissen Hartnäckigkeit einschleicht. Hatten wir es im Vorhergehenden überhaupt mit Geheimnissen zu tun? Ist ein erzähltes, gemaltes, aufgeschriebenes, gedrucktes und obendrein wissenschaftlich analysiertes, kurz, ein veröffentlichtes Geheimnis nicht vielmehr der Ausweis seines Scheiterns schlechthin? Man könnte geneigt sein, die einzig angemessene Antwort auf das Geheime in der radikalen Repräsentationsverweigerung zu sehen, im Schweigen, in der Leere. Dass aber umgekehrt auch in der Sprache immer ein unergründlicher Rest zurückbleibt, kann die bislang ergebnislose Suche nach einer vollkommen transparenten "eloquentia cordis" lehren. Jedes Sprechen ist zugleich ein Verstellen, jedes Zeigen ein Verbergen. Wenn das Geheimnis, wie dies zu Beginn einmal angedeutet wurde, eine anthropologische Konstante darstellt, so gilt dies erst recht für die Sprache und das Bildermachen, denen Verdunklung und Erhellung zu gleichen Teilen einbeschrieben sind. Wo kommuniziert wird, sitzt das Geheimnis von jeher mit am Tisch. Wer dem entgegenhalten will, spätestens mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms habe sich auch das letzte Geheimnis endgültig in Luft aufgelöst, dem sei als Antidot ein gelegentlicher Kinobesuch verordnet. Wir raten vorzugsweise zu einem Film von David Lynch - eine fremde und seltsame, eine geheimnisvolle Welt fürwahr.
Mathias Pozsgai