Rezension über:

J. Adam Tooze: Statistics and the German State, 1900-1945. The Making of Modern Economic Knowledge (= Cambridge Studies in Modern Economic History), Cambridge: Cambridge University Press 2001, XVIII + 314 S., 5 graphs, 2 line diagrams, 9 tables, ISBN 978-0-521-80318-2, GBP 40,00
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Rezension von:
Michael C. Schneider
Dresden
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Michael C. Schneider: Rezension von: J. Adam Tooze: Statistics and the German State, 1900-1945. The Making of Modern Economic Knowledge, Cambridge: Cambridge University Press 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 7/8 [15.07.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/07/3410.html


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J. Adam Tooze: Statistics and the German State, 1900-1945

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Seit einiger Zeit stößt die amtliche Statistik des Deutschen Reiches auf ein zunehmendes Interesse, besonders wenn es um die nationalsozialistische Zeit und die Implikationen der Statistik für die Vernichtungspolitik geht. Zuletzt war es das sensationsheischende Buch von Edwin Black, der eine Verstrickung des IBM-Konzerns in die nationalsozialistische Judenvernichtung nachzuweisen versuchte. Angesichts dieses wachsenden Interesses sind Untersuchungen zu begrüßen, die sich der Klärung konzeptioneller Grundlagen groß angelegter statistischer Vorhaben zuwenden. Im selben Jahr wie die Studie von Jutta Wietog über die Volkszählungen des Statistischen Reichsamtes im Dritten Reich ist mit der Untersuchung von Adam Tooze über die Entwicklung der Wirtschaftsstatistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nun ein Buch über ein weiteres Arbeitsfeld der amtlichen Statistik erschienen.

Zentrales Ziel dieser Publikation ist es, die Querbezüge zwischen makroökonomischer Theoriebildung und der Entstehung statistisch fundierter Kenntnis über die Wirtschaftsentwicklung am Beispiel der deutschen Wirtschaftsstatistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachzuweisen. Dieser Ansatz unterscheidet Toozes Buch von bislang vorliegenden Untersuchungen zur Entwicklung der Konjunkturtheorie im allgemeinen, und zu dem vom Präsidenten des Statistischen Reichsamtes, Ernst Wagemann, geleiteten "Institut für Konjunkturforschung" (seit 1942 und seither: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) im besonderen. Dabei kombiniert Tooze einen dogmengeschichtlichen Zugang mit einem institutionengeschichtlichen, der zugleich der Bedeutung handelnder Personen hohes Gewicht beimisst. Die Untersuchung setzt mit einer im Vergleich zu den folgenden Kapiteln eher kursorischen Darstellung der Entwicklung der Wirtschaftsstatistik im späten Kaiserreich ein. Hier kommt es Tooze in erster Linie darauf an zu zeigen, in welch hohem Ausmaß die Kategorienwahl des Kaiserlichen Statistischen Amts bei seiner Berufs- und Betriebszählung von 1895 das offizielle Bild von der Wirtschaftsstruktur prägte. Zugleich lag in der zeitgenössischen Kritik an dieser - der tatsächlichen Wirtschaftsstruktur nicht mehr angemessenen - Kategorienwahl der statistischen Erfassung von Wirtschaftseinheiten auch der Ausgangspunkt einer Neukonzeption der Erhebungen, wie sie das Statistische Reichsamt nach dem Ersten Weltkrieg in Angriff nahm.

Auf dessen Präsidenten zwischen 1923 und 1933, Ernst Wagemann, und seinem Institut für Konjunkturforschung liegt ein erster Schwerpunkt der Untersuchung. Insbesondere stellt Tooze überzeugend die Verbindung zwischen den von der zeitgenössischen Wirtschaftswissenschaft nicht recht ernst genommenen theoretischen Arbeiten Wagemanns zur Geldtheorie sowie zur Kreislauftheorie und seinen Bemühungen zur Umsetzung in eine valide statistische Beobachtung der Wirtschaftsentwicklung her. Dabei lag der entscheidende Punkt nicht in einer - so auch nicht vorhandenen - besonderen Originalität der Überlegungen Wagemanns, sondern darin, dass diese Überlegungen, die in die entstehende Makroökonomie einzuordnen sind, den konzeptionellen Hintergrund für die Datensammlungen des Instituts für Konjunkturforschung und seiner Auswertungen bildeten. Wagemann verfolgte dabei das Ziel, zu einem umfassenden, aggregierten Abbild der Volkswirtschaft zu gelangen, ein Ziel, das durchaus auch tagespolitische Aktualität besaß: Insbesondere wenn mit einer präzisen Berechnung der tatsächlichen Höhe des Volkseinkommens eine Größe ermittelt werden sollte, die für die Beurteilung der Fähigkeit Deutschlands, die Reparationsforderungen zu erfüllen, unmittelbar relevant war.

Detailliert zeichnet Tooze die Entfremdung zwischen der Regierung Brüning und Wagemann nach. Die Gründe hierfür lagen zum einen darin, dass das Institut für Konjunkturforschung einen während der Krise kaum sinkenden Index der Lebenshaltungskosten nachwies, ein Nachweis, der die politische Durchsetzbarkeit der Deflationspolitik erschwerte. Zum anderen waren es die zu Beginn der Krise noch recht optimistischen Prognosen des Instituts zum Konjunkturverlauf, deren Nichteintreffen die Glaubwürdigkeit Wagemanns untergruben. Die Entfremdung zwischen Brüning und Wagemann kulminierte dann im häufig beschriebenen "Wagemann-Plan", in dem Wagemann ohne Absprache mit dem Kabinett eine moderate Ausweitung der Geldmenge, kombiniert mit einer strukturellen Reform des Bankwesens, empfahl. In diesem Zusammenhang vermisste der Rezensent eine weiter ausgreifende Kontextualisierung der zeitgenössischen Debatte, etwa einen Vergleich zum WTB-Plan, insbesondere aber zu der "Studiengesellschaft für Geld- und Kreditwirtschaft" des Unternehmers Heinrich Dräger, auf deren Treffen Wagemann seinen Plan Anfang 1932 vorstellte. Dieser Querbezug wäre umso mehr von Interesse gewesen, als einer der Mitbegründer der Studiengesellschaft, Walter Grävell, zugleich Mitarbeiter des Statistischen Reichsamtes war und in der NS-Zeit, wie Tooze in den folgenden Kapiteln detailliert zeigt, eine wichtige Rolle bei der Auseinandersetzung um die Konzipierung der statistischen Erfassung der Rüstungs- und Kriegswirtschaft spielte.

Im Zentrum der Abschnitte zur NS-Zeit steht - neben der Schilderung der personellen Brüche und der (weitaus häufigeren) Kontinuitäten im Statistischen Reichsamt - die Analyse verschiedener Konzeptionen einer adäquaten statistischen Erfassung der Produktionsflüsse. Hier standen sich, von unterschiedlichen Personen verkörpert und an verschiedene Machtträger des polykratisch strukturierten Herrschaftssystems angebunden, im wesentlichen zwei Auffassungen gegenüber. Auf der einen Seite vertrat Wilhelm Leiße, der seit März 1938 dem neu gegründeten "Reichsamt für wehrwirtschaftliche Planung" vorstand, eine Auffassung, die den klassischen Industriezensus in eine utopische Detailgenauigkeit zu steigern suchte und nicht zuletzt deshalb scheiterte.

Walter Grävell, Abteilungsleiter im Statistischen Reichsamt, forcierte demgegenüber seit Kriegsbeginn eine Vision, die sich den Wildwuchs unterschiedlichster Institutionen und ihre nicht koordinierten statistischen Erhebungen zu Nutze machen wollte. Sein Ziel war es, diese verschiedenen Erhebungen zentral zu koordinieren, und so unter der Voraussetzung eines völlig ungehinderten Datenaustausches zwischen den Institutionen einen vollständigen und vor allem jederzeit aktuellen Überblick über die Wirtschaft als ganze zu erreichen. Aber auch dieses Vorhaben, das sich konzeptionell von der traditionellen Gegenüberstellung von "Staat" und "Gesellschaft" verabschiedete und deshalb gut zu einem in konkurrierende Machtzentren zerfallenden Staatswesen passte, ließ sich nicht umfassend verwirklichen. Das lag nicht zuletzt an den zwischen den verschiedenen Institutionen verlaufenden und eifersüchtig bewachten Grenzen. In den letzten zwei Kriegsjahren versuchte dann das Planungsamt im Speer-Ministerium unter der Leitung von Hans Kehrl, mit dem Konzept eines "Gesamtplans" nicht nur die Organisation der Kriegswirtschaft statistisch in den Griff zu bekommen, sondern auch, die Funktionsfähigkeit einer Planungsökonomie für die Nachkriegszeit unter Beweis zu stellen. Mit einem Ausblick auf personelle Kontinuitäten des statistischen "establishments" in der Bundesrepublik schließt der durchweg flüssig zu lesende und auch für Leser ohne statistische Vorbildung ohne Probleme zugängliche Band.

Dieser positive Gesamteindruck kann auch nicht wesentlich durch eine gelegentlich laxe Belegtechnik und eine, wenn es um die Verbindung der spezifisch wirtschaftshistorischen Befunde mit generellen Entwicklungen geht, manchmal selektive Literaturrezeption getrübt werden. Wenn Tooze beispielsweise das Verhältnis von verschiedenen statistischen Konzeptionen und der Auflösung der Verwaltungsstruktur des NS-Staates behandelt, stützt er sich in erster Linie auf die Interpretation von Jane Caplan, ohne etwa die Arbeiten von Dieter Rebentisch heranzuziehen. Schließlich verwundert der scharfe Tonfall bei der mehr als vehementen Zurückweisung des nunmehr fast zwanzig Jahre alten Buches von Götz Aly und Karl-Heinz Roth: "Die restlose Erfassung" (bei allen unbestreitbaren methodischen Problemen dieser Publikation), und dies umso mehr, als der zentrale Gegenstand dieser Studie, nämlich die Bevölkerungsstatistik und ihre Implikationen für die Vernichtungspolitik, nicht Gegenstand der Untersuchung von Tooze ist. Ungeachtet dieser kritischen Anmerkungen handelt es sich um ein lesenswertes Buch, das viel zu einem besseren Verständnis der Entwicklung der Wirtschaftsstatistik und ihrer Bedeutung für die Wirtschaftswissenschaft in Deutschland beiträgt.


Michael C. Schneider