Rezension über:

Anke Sczesny: Zwischen Kontinuität und Wandel. Ländliches Gewerbe und ländliche Gesellschaft im Ostschwaben des 17. und 18. Jahrhunderts (= Oberschwaben. Forschungen zu Landschaft,Geschichte und Kultur; Bd. 7), Epfendorf: bibliotheca academica 2002, 489 S., ISBN 978-3-928471-35-0, EUR 39,00
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Rezension von:
Wilfried Reininghaus
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Redaktionelle Betreuung:
Gudrun Gersmann
Empfohlene Zitierweise:
Wilfried Reininghaus: Rezension von: Anke Sczesny: Zwischen Kontinuität und Wandel. Ländliches Gewerbe und ländliche Gesellschaft im Ostschwaben des 17. und 18. Jahrhunderts, Epfendorf: bibliotheca academica 2002, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 7/8 [15.07.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/07/3561.html


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Anke Sczesny: Zwischen Kontinuität und Wandel

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Die in Augsburg bei Rolf Kießling entstandene Dissertation setzt kritisch am Konzept der Protoindustrialisierung an. Sie hält die institutionellen Rahmenbedingungen nicht für einen zu vernachlässigenden Faktor und will das platte Land nicht nur als eine Passivregion bei der "Ruralisierung" der Gewerbe (Werner Sombart) verstanden wissen. Die ausgewählte Region, das mittlere Oberschwaben, lag im Dreieck der Städte Ulm, Augsburg und Memmingen, somit im Einflussbereich ihrer Textilexportgewerbe. Die leitenden Fragen zielen auf den Handlungsspielraum der dörflichen Bevölkerung in dieser "offenen Gewerbelandschaft", die sich seit dem Spätmittelalter dynamisch veränderte.

Die Arbeit will Makro- und Mikroebene einander vermitteln. Deshalb wird sie durchzogen von einem häufigen Wechsel zwischen dem Schwäbischen Kreis und dem "kleingekammerten" Raum mittleres Ostschwaben einerseits und dem Dorf Langenneufnach sowie einzelnen Kaufleuten, Webern und Bauern dieses Gebiets andererseits. Durch eine plausible Gliederung verlieren Leser und Leserin dennoch nicht die Orientierung.

Teil eins stellt die Wirtschaftsstruktur im mittleren Ostschwaben vor. Ausgehend von den statistischen Erhebungen unter Montgelas 1809/10 wird, je nach Quellenlage, die Zahl der Weber, ihre Produktion und die Größe ihrer Betriebe für einzelne Gebiete bis 1763 zurückverfolgt. Augsburger und Ulmer Quellen erlauben es, die Bedeutung der Landweberei für die städtische Wirtschaft genauer zu bestimmen. Sie hatte eine wichtige Funktion bei der allmählichen Abkehr von der Barchent-Monostruktur des späten Mittelalters hin zu einer vielgestaltigen Gewerbelandschaft des 17./18. Jahrhunderts. Innovatorische Vorstöße kamen zwar aus den Städten, doch quantitativ war das Land überlegen.

Teil zwei behandelt den institutionellen und korporativen Rahmen des ostschwäbischen Textilgewerbes vor. Die Verfasserin greift Peter Kriedtes These auf, das Handelskapital habe bei der Verlagerung der Produktion auf das Land die entscheidende Rolle gespielt. Die Typisierung von vorindustriellen Unternehmern (risikobewusste Großkaufleute / zurückhaltende, handwerksnahe Kleinkapitalisten, 126ff.) bewegt sich quellenmäßig auf zu dünnem Eis. Denn für diese Frage steht eine Fülle an Sekundärliteratur zur Verfügung, die noch hätte herangezogen werden können. Freilich mangelt es generell an Überlegungen zu Unternehmern in der Frühneuzeit. Allerdings gelingt der Nachweis von der Abhängigkeit unternehmerischer Tätigkeit von obrigkeitlichen Vorgaben. Das Zusammenspiel zwischen Handelskapital und Obrigkeit war deshalb komplexer als theoretisch zu vermuten.

Die Wirtschaftspolitik des Schwäbischen Kreises drehte sich im 18. Jahrhundert vor allem um die Ausfuhrverbote für Garn und Flachs und die Rechte der Landzünfte. Damit ist ein Thema genannt, das der vorliegenden Arbeit über Ostschwaben hinaus einen Platz in der jüngeren Gewerbegeschichte sichert. Denn ausführlicher sind die Landzünfte nach Wissen des Rezensenten bisher noch nicht untersucht worden. Vor allem die Weber organisierten sich seit dem späten 16. Jahrhundert und bildeten die Zünfte der Städte nach. Sie fanden dabei die Unterstützung der Territorialherren, die fiskalisch von Zünften profitierten, aber auch ein Interesse an der von den Zünften ausgehenden Professionalisierung haben mussten. Die Initiative ging jedoch eindeutig von den Webern selbst aus, die nicht zuletzt wegen der Normierung ihrer Produktion eigenständig Handelsbeziehungen aufbauen konnten.

Teil drei beschreibt den Weberort Langenneufnach, der ziemlich genau zwischen Ulm und Augsburg liegt. Die Analyse geht nicht so tief, dass neben die durch monografische Untersuchungen bekannt gewordenen Belm (Jürgen Schlumbohm), Laichingen (Hans Medick) und Unterfinning (Rainer Beck) nun auch Langenneufnach träte. Aber durch die Berufsverteilung, eine Schichtenanalyse, die demografischen Untersuchungen (ohne Familienrekonstitution) und durch die Quervergleiche mit anderen Orten, vor allem dem Fugger-Ort Babenhausen, lernen wir das Dorf und seine Bewohner gründlich kennen. Gelegentlich sind sogar Fallstudien zu Händlern, Webern und Bauern möglich. Diese Personengruppen traten zueinander in vielfältige symbiotische Beziehungen. Dies, exemplizifiziert in Doppel- und Dreifachberuf, erschwert die von der Verfasserin mit Recht angemahnte (Re-)Konstruktion ländlicher Gesellschaften (247). Besondere Erwähnung verdient die Analyse des Kreditmarkts in Langenneufnach. Die Bedeutung kirchlicher Institutionen wird nachgewiesen. Kleinräumige Beziehungen zu Kreditoren dominierten, ohne dass es sichere Hinweise auf die Bedeutung des Kredits für die gewerbliche Entwicklung gibt.

Der Nachweis einer sich verändernden, vielfältig auf ökonomische Anreize reagierenden regionalen und lokalen Gesellschaft ist eindrucksvoll gelungen. Die ländlichen Weber waren keine Masse, die williger Spielball von Handelskapitalisten gewesen wäre. Diese - hier überspitzt vorgetragene - These darf mindestens für das Untersuchungsgebiet Ostschwaben als falsifiziert gelten. Das Hauptverdienst der Arbeit liegt deshalb im Nachweis der Eigeninteressen der Landbevölkerung, ihrer Befähigung zur Organisation, ihrer Durchsetzungsfähigkeit gegenüber der Stadt. Ob die Städte ihre kulturelle Hegemonie behielten oder ob auch diese angefochten wurde, bedürfte weiterer Recherchen. Für die Frühe Neuzeit gibt es sicher noch zu wenige solcher Arbeiten, die zwischen der Entwicklung in Städten und in Dörfern vermitteln und sie gewichten. Umso mehr verdient die vorliegende Arbeit Anerkennung und Respekt, wenngleich sie oft mehr Fragen stellt als Antworten gibt.


Wilfried Reininghaus