Barbara Schier: Alltagsleben im "sozialistischen Dorf". Merxleben und seine LPG im Spannungsfeld der SED-Agrarpolitik (1945-1990) (= Münchner Beiträge zur Volkskunde; Bd. 30), Münster: Waxmann 2001, 328 S., ISBN 978-3-8309-1099-2, EUR 19,50
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Der Wandel des dörflichen Lebens in der DDR war Gegenstand mehrjähriger Feld- und Aktenstudien der Volkskundlerin Barbara Schier. Nun legt Schier die Ergebnisse ihrer Untersuchung zur Nachkriegsgeschichte des Thüringer Dorfes Merxleben vor. Sie hatte interessiert, wie die SED-Agrarpolitik den Alltag der Dorfbewohner veränderte, konkret die Sozialstruktur, Lebens- und Arbeitsbedingungen, das Zusammenleben und die Handlungsspielräume. "Zwar werden lokale und regionalspezifische Besonderheiten berücksichtigt, doch zielt die Arbeit auf allgemeine Einsichten. Sie liefert zahlreiche Detailinformationen, ist aber dennoch eher als problemzentrierte Fallskizze denn als umfassende Gemeindestudie zu verstehen." (10) Schier griff auf Akten im Stadt- und Kreisarchiv Bad Langensalza, auf Unterlagen aus dem vormaligen SED-Bezirksarchiv und auf Reste des "Traditionskabinetts" der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) zurück. Die Bestände boten auch heimatgeschichtliche Abhandlungen aus DDR-Zeit. Der bedeutsamste Fundus aber war "hausgemacht": 48 Interviews mit Frauen und Männern im Alter von Mitte zwanzig bis Anfang Achtzig, deren Lebensweg nach Merxleben geführt hatte. Auf die Interaktionsprobleme geht Schier in der Einleitung ausführlich ein.
Schier will - in Auseinandersetzung mit der Agrarsoziologie und der Lebensweiseforschung der DDR - zeigen, dass im ländlichen Raum Ostdeutschlands seinerzeit keinesfalls, wie behauptet wurde, ein "historisch neuer Typ von Dorfgemeinschaft" entstand - die offizielle DDR-Binnensicht auf das "sozialistische Dorf" vielmehr überzogenes Wunschdenken war. Für ihre These nimmt Schier auch ostdeutsche Soziologen wie Kurt Krambach und Manfred Lötsch mit ihrer selbstkritischen Rückschau in Zeugenschaft. Diese hatten nach der Wende von ideologisch kurzschlüssigen Wertungen gesprochen.
Schier bemüht also den Vergleich zwischen kommunistischem Anspruch und Realität. Nun muss man für einen normativen Vergleich nicht alle Feinheiten der Entwicklung des Leitbildes nachvollziehen, doch Schiers Kenntnis von der Idee ist zu oberflächlich, sie nimmt sie grundsätzlich als etwas Statisches, - und bemerkt folglich nur die Differenz zu dem, was sie für den Anspruch hält. Sie sieht beispielsweise im "sozialistischen Dorf" die ländliche Kleinausgabe von "sozialistischer Menschengemeinschaft", ohne zu berücksichtigen, dass letztere als Theorem bereits in den Siebzigerjahren ad acta gelegt war. Ertragreicher wäre es gewesen, den sich wandelnden Anspruch und die sich wandelnde Realität parallel zu untersuchen, die Fachdebatte um "sozialistische Lebensweise" und "Lebensweise im Sozialismus" aufzugreifen und die hier beibehaltenen "Kurzschlüsse" in die Ideologiekritik einzubeziehen. Trotz einiger theoretischer Ausflüge bleibt Barbara Schier jedoch bei einer für ihren Vergleich eher belanglosen Reflexion sowohl der Fehler der DDR-Soziologie als auch der Ost-West-Differenzen in Methodologie und Terminologie. Das führt zu bisweilen unverständlicher Kritik.
Zur unklaren, fehlerhaften Ideologie-Folie kommen Unsicherheiten bei Problematisierung und Bewertung einiger sozioökonomischer Aspekte. Aus DDR-Lexika zitiert Schier, was mit "sozialistischer Arbeitskultur" gemeint war, was "Kollektiv" bedeutete, was den "gewandelten Charakter der Arbeit" angeblich ausmachte. Und wenn sie im Anschluss daran Augenzeugen berichten lässt (vom Wandel der Arbeitsinhalte, von Verfügungsgewalt, Verantwortlichkeit und Mitbestimmung in den Agrarbetrieben, von Lebensplänen, Arbeitmotivation, Bildungswegen, Sozialleistungen im Betrieb und anderem), dann ist das höchst aufschlussreich. Doch der normative Vergleich misslingt. In diesem Fall resümiert Schier zwischenzeitlich: Im Dorf haben genossenschaftliche und privat- beziehungsweise -hauswirtschaftliche Arbeit nebeneinander existiert; dies ist als Inkonsequenz auf dem Weg zum Sozialismus zu bewerten, ja, als Abweichung vom sowjetischen Modell. (293) Dieses Urteil ist nicht nur dürftig, es ist falsch.
Dabei legt Schier besonderen Wert auf die politikgeschichtliche Einbettung. Ein erster größerer Abschnitt thematisiert SED-Agrarpolitik. Auch im "Lokalteil" stellt Schier gelegentlich größere Bezüge her. Sie nennt Politik-Zäsuren und skizziert agrarhistorische Streitfragen, erfreulicherweise unter Verzicht auf Positionierung, wo das für die Wertungen unerheblich ist. Umso bedauerlicher ist die Häufung faktographischer und terminologischer Pannen, wie: "Seit Anfang 1949 gab es gezielte Angriffe gegen die Großbauern, die nun nicht mehr zu den 'werktätigen Bauern' zählten" (58), die SED "benutzte die Raiffeisengenossenschaften dazu, von den Bauern die Pflichtablieferung einzutreiben" (54), Ende 1952 verhinderte das Landarbeiterschutzgesetz bei den Großbauern den Einsatz fremder Arbeitskräfte (127), und das DDR-Landwirtschaftsministerium wurde 1963 "im Zuge" des Ausbaus der Kontrolle durch die ABI aufgelöst (75). Einige Daten stimmen nicht. Zu viele Erläuterungen sind irrig: ÖLB soll eine landwirtschaftliche Organisation gewesen sein (66), ein Neulehrer ein "Lehramtsanwärter an der Grundschule" (93), ein Brigadier oder Brigadeleiter ein "Meister oder eine Art Vorarbeiter" (200). Ein gutes fachliches Lektorat hätte derlei eliminiert. Das SED-Zentralsekretariat sprach garantiert nie von "Zwangskollektivierung" (59); der "Anteil von Einzelbauern an der Gesamtzahl von LPG-Bauern" (66) ist Unsinn. Doppelungen, die Zweifel schüren, wären aufgefallen: "Der Durchschnittsverdienst der LPG-Bauern lag nach Auskunft einer Lohnbuchhalterin bei 1.500 Mark monatlich" (169); "Das Durchschnittseinkommen [...] war nach Auskunft von zwei Lohnbuchhalterinnen 1.200 Mark" (238).
Viel schwerer wiegen aber die scheinbar selbstverständlichen Grundaussagen, die Schier zur Orientierung ihrer späteren Bewertung des Alltags trifft. Etwa auf den Abschluss der Kollektivierung bezogen: "Der DDR-Staat hatte durch die Schaffung einer konzentrierten landwirtschaftlichen Produktion [Was ist das?] die Bedingungen für die Integration der Landwirtschaft in die Planwirtschaft hergestellt. Das [?] gewährleistete politisch, ökonomisch und ideologisch die Vorherrschaft der SED auf dem Lande" (69). Mit solchen politik- und ideologiegeschichtlichen Unsicherheiten im Hintergrund lässt sich ein alltagsgeschichtlicher Gegenentwurf nicht überzeugend vorbringen.
Die folgenden zwei Kapitel beziehen sich konkret auf das Dorf Merxleben und den Landkreis. Lesenswert und überzeugend in der Verwendung neuer Dokumente beleuchtet Schier den Wandel der Sozialstruktur und den lokalen Niederschlag der SED-Agrarpolitik. Ihre Versuche zu bewerten entsprechen aber der schlichten Sicht auf die "große Politik", weshalb sie einiges vergibt. Der Konflikt um die NS-Vergangenheit des ersten LPG-Vorsitzenden beispielsweise verdeutlicht lediglich: "Die Machthierarchien im Dorf waren festgeschrieben" (149); Fälle, wo durch die gleichen Hierarchien andere politische Lösungen durchgesetzt wurden, bleiben unerwähnt.
Erfrischend liest sich der Abschnitt zum Alltag. Er bietet viel Anschauliches zu den Arbeits- und Wohnbedingungen, doch auch hier ist das Bild nicht nur nicht "rund", man vermisst Wesentliches. Die Fakten sind unangemessen gewichtet. So wird man ausladend von der Bedeutung der Dederon-Schürze als Arbeits- und Freizeitbekleidungsstück und von der "Indikatorfunktion der Schrankwand" in Kenntnis gesetzt, doch mit den verstreuten Bemerkungen zu Lohn und Zusatzerwerb kann der Leser im Grunde nichts anfangen. Die Volkskundlerin lässt sich häufig arglos auf die Wertungen ihrer Gesprächspartner ein. Gelegentlich nimmt sie falsch erinnerte Sachverhalte für bare Münze. Theoriebezüge, etwa zu den sozialen Netzwerken, stehen ohne erkennbare Funktion im Raum.
Alles in allem ist nur zu bedauern, dass Schier das Interviewmaterial nicht als das nimmt, was es ist, ein Kaleidoskop persönlicher Rückblenden auf ein soeben zusammengebrochenes Makrosystem. Stattdessen überfordert sie es als Beleg für objektive Wandlungen in 40 Jahren Dorfalltag. Dementsprechend fällt das "Resümee: Agrarpolitik und Wertewandel" aus: Merxleben war keine "sozialistische Dorfgemeinschaft". Zwar war nach der "Totalkollektivierung" das Zusammenleben "nicht so sehr von Statusgefälle und Distinktionsbestrebungen" gekennzeichnet (285), war "ein neuer Typ Bauer" entstanden (283), hatten sich die Arbeitsbedingungen insbesondere der Frauen entscheidend verbessert (200), hatte man sich "innerhalb der Brigaden schon recht gut verstanden" (207), gab es neben traditionellen Werthaltungen (291) eine "eindeutig materialistische Selbstentfaltungsorientierung" (292). Aber das soziale Gesicht des Bauern und seine Psyche hatten sich "nicht in gewünschter Weise verändert", "Werthaltungen [waren] nicht die prognostizierten" (293), Nachbarschafts- und Familienbindungen waren stärker als der Brigadezusammenhalt (207), Dorfleben unterschied sich von Stadtleben ... Folglich (!) blieb "die 'sozialistische Dorfgemeinschaft' auf der Basis sozialer Nivellierung [...] Fiktion".
Keine Dorfgemeinschaft historisch neuen Typs eben, sondern ...?
Elke Scherstjanoi