Stefan Brakensiek / Stefan Gorissen / Regine Krull (Hgg.): Imaginationen eines Mythos. Widukindbilder der Vormoderne, CD-ROM, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2002, ISBN 978-3-89534-445-9, EUR 19,00
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Schon der Titel der CD-ROM lässt anklingen, dass es den Autoren weniger um die dürftigen zeitgenössischen Quellen über den Widersacher Karls des Großen als vielmehr um dessen legendenstiftende Nachwirkung zu tun ist. Die CD-ROM ist aus einer Online-Ausstellung hervorgegangen, die das Widukind-Museum in Enger 1998 mit der Historischen Fakultät der Universität Bielefeld erarbeitet hat. Die Scheibe wendet sich nach eigenen Angaben an alle historisch Interessierten, an Schülerinnen und Schüler ebenso wie an das Fachpublikum.
Gemäß dem Selbstanspruch, eine fachlich fundierte Ausstellung und ein möglichst breites Publikum zusammenzuführen, wurde bei der Erstellung der Benutzeroberfläche auf eine übersichtliche und zurückhaltende Präsentationsform geachtet. Nach einer als Tonbildschau gehaltenen Einführung gelangt der User auf eine zentrale Navigationsseite, die immer wieder als Ausgangspunkt für die inhaltlichen Erkundungen angesteuert werden kann. Zwei thematische Zugänge erschließen von dort aus das Themenfeld: "Widukindbilder" und "Chronologie". Jeder Zugang ist in vier Kapitel unterteilt, die wiederum weitere Untergliederungen aufweisen.
Die Unterthemen erschließen dabei die eigentlichen Inhaltsseiten, die so genannte "Exponate" vorstellen. Das sind Textquellen ebenso wie Bilder und Realien. Der Einstieg wird stets mit einem vertonten Text angeboten, wobei der Ton ausgeschaltet werden kann. Zwei Untermenüs "Exponat" und "Kontext" ermöglichen Vertiefungen mittels Zusatzinformationen zum Überlieferungszusammenhang, zu den Autoren, zu kunstgeschichtlichen oder politikgeschichtlichen Aspekten der Exponate. Zahlreiche Textquellen sind in Ausschnitten faksimiliert und transkribiert beziehungsweise übersetzt. Die Textmengen sind benutzerfreundlich kurz gehalten, eine Druckoption ermöglicht den Export auf Papier. Die Bildqualität ist bis auf ganz wenige Ausnahmen ausgesprochen gut, für derartige Medien noch immer keine Selbstverständlichkeit. Die CD-ROM läuft als stand-alone, benötigt also keinen Festplattenspeicher, etwa für Installationsdateien. Die Hilfeoption ist auf der CD-ROM lediglich als Sounddatei bereitgehalten, im Booklet wird die Navigation jedoch auch schriftlich erklärt.
Didaktisch will die CD-ROM nicht viel mehr sein als eine einfache Präsentation. Interaktionen, die über reine Navigationsmöglichkeiten hinausgehen, sind bis auf wenige Ausnahmen nicht vorgesehen. Auf hypertextuelle Links in den Informationstexten wurde verzichtet, auch ein Glossar wird nicht mitgeliefert.
"Imagination eines Mythos" ist eine bilderreiche Dokumentation und kein Multimediafeuerwerk. Deshalb richtet sich der Blick verstärkt auf die Inhalte und deren Aufbau. Hier fehlt - und darum kommt auch ein Bildschirmmedium nicht herum - eine klare Information zur methodischen Vorgehensweise. Der Eingangshinweis, dass Widukind als historischer Heldenmythos durch Jahrhunderte aufgebaut und abgerufen wurde, unterstreicht die Relevanz des Themas, klärt aber nicht dessen Disposition. Eine Einbettung in den Diskurs um die Medialität nationaler und kollektiver Mythenbildung und deren Funktionen hätte mit einem einführenden Text die CD-ROM tatsächlich an das Fachpublikum adressiert und Medialität und Geschichte an einem geeigneten Beispiel zusammenschließen können. Dass der historische Bogen vom 8. bis ins 18. Jahrhundert reicht und damit die "heldenträchtige" Epoche des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ausblendet, sei den Autoren und "Konzeptionierern" zwar freigestellt. Eine Begründung dafür hätte in einem Druckwerk aber sicher nicht gefehlt. Auch das Widukind-Museum in Enger bietet auf seiner Website für diese Periode der Widukindgeschichte Bildmaterial und einführende Informationen an. [1]
Im thematischen Zugangsbereich wird Widukind in vier Kapiteln als Heiliger, Stammvater, Krieger und Held sowie in seinem Bezug zur Heimat vorgestellt. Diese Trennung klingt zunächst einfacher, als sie tatsächlich durchzuhalten ist. Denn zahlreiche Überschneidungen liefern unter den vier Kapiteln wiederholt die gleichen Exponate mit den je gleichen Beschriftungen und Zusatzinformationen. Für ein Computermedium ist dies grundsätzlich zwar kein Problem, sondern vielmehr eine Chance. Schon ein kurzer Text zu Beginn jedes Kapitels hätte jedoch klären können, warum welches Exponat sowohl unter diesem als auch unter anderen Aspekten zu finden ist. Zudem bieten sich hier hypertextuelle Möglichkeiten, die sinnfällige Mehrfachkombinationen vorsehen und das konstruktivistische Potenzial des Mediums aufschließen, indem ein multiperspektivischer Wissensaufbau möglich und transparent gemacht wird. So wird die Tugend der technischen Zurückhaltung letztlich zum didaktischen Desiderat.
Demgegenüber steht eine bemerkenswerte Fülle an Informationen und Quellenmaterial. Die Exponatbeschreibungen und Zusatzinformationen sind stimmig und mit viel Aufwand hergestellt. Dies gilt insbesondere für die Quellenbestände, die über eine Suchfunktion oder einen Index noch besser zu nutzen gewesen wären. Literaturhinweise ergänzen das Angebot, kleinere Fehler, die aus Erwin Panofsky einen "Ernst" und aus der Chronik von Ulrich Richental eine "Reichenthaler-Chronik" machen, sind lässliche Schönheitsfehler.
Erfreulicherweise werden die Betrachter mit den Text- und Bildquellen nicht allein gelassen. Historische und kunstwissenschaftliche Hintergrundinformationen liefern entscheidendes Wissen zum Umgang mit dem Material, erläutern Bildmotive und Objektgeschichte. Dies ist nicht nur ein netter Service, sondern für die Arbeit mit Bildern im historischen Kontext unabdingbar. Wenngleich die Historikerzunft noch weit davon entfernt ist, den Umgang mit anderen als Textquellen zu standardisieren, sind solche Beispiele ein Schritt in die richtige Richtung, indem sie in diesem noch sehr unbestellten Feld der Wissens- und Wissenschaftskommunikation erste Zeichen setzen. Leider fehlt dafür bei manchen Bildern jedwede Beschreibung.
Die Informationsfülle und -dichte bleibt trotz der bereits erwähnten Redundanzen beeindruckend und empfiehlt die CD-ROM als Ausgangsmedium beispielsweise für den Schulunterricht, wenngleich das Thema in kaum einem Lehrplan behandelt wird. Es wird deutlich, wie sehr Widukind in der hier behandelten Phase in erster Linie für dynastische Zwecke als Stammvater beispielsweise für Wettiner, Liudolfinger oder Capetinger herhalten durfte. Das ist ein Schicksal, das Widukind mit einer Reihe antiker Recken und Großgestalten teilte. Insofern wäre der thematische Schnitt der CD-ROM am Beginn des 19. Jahrhunderts plausibel, weil von da an Figuren wie Widukind zunehmend vom regionalen in das nationale Kulturerbe überführt wurden, um dort eine ganz neue Semantik zu entfalten.
Insgesamt wirkt die CD-ROM in mancherlei Hinsicht etwas unentschlossen. Das Fachpublikum dürfte vor allem methodische Kontexte vermissen, der interessierte Laie interaktive Möglichkeiten. Angesichts der Tatsache, dass hier aber eine Ausstellung aus dem Internet gespiegelt wurde und die fachlichen Standards für dieses Medium noch kaum andiskutiert sind, kann man sich aber über ein sehr sachliches und vielseitiges Informationsangebot freuen, das insbesondere den Nicht-Widukindianern (die soll es ja auch geben) eine Vielzahl von Quellentexten und Bilddokumenten liefert und somit einen Zugang zum Thema verschafft. Und genau darum geht es ja in den meisten Ausstellungen.
Anmerkung:
[1] http://www.widukind-museum-enger.de/mythset/setmyth.htm (Stand 21.08.2002).
Fabio Crivellari