Rezension über:

Corinna Höper: Raffael und die Folgen. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner graphischen Reproduzierbarkeit. Ausstellungskatalog der Graphischen Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart 26. Mai bis 22. Juli 2001, Ostfildern: Hatje Cantz 2001, 608 S., 580 Abb., davon 29 farb., ISBN 978-3-7757-1035-0, EUR 75,00
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Rezension von:
Christoph Wagner
Institut für Kunstgeschichte, Universität des Saarlandes, Saarbrücken
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Christoph Wagner: Rezension von: Corinna Höper: Raffael und die Folgen. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner graphischen Reproduzierbarkeit. Ausstellungskatalog der Graphischen Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart 26. Mai bis 22. Juli 2001, Ostfildern: Hatje Cantz 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 11 [15.11.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/11/3431.html


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Corinna Höper: Raffael und die Folgen

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Es ist kein kleines Verdienst Corinna Höpers, der Graphischen Sammlung in Stuttgart eine neue Raffael-Zeichnung aus dem Stuttgarter Handel hinzugewonnen und aus diesem Anlass das vorhandene immense Material der rund 2000 Reproduktions-Druckgrafiken nach Raffael-Vorlagen in einer Ausstellung präsentiert zu haben. Das Material ist polyperspektivisch in verschiedene Themenbereiche aufgefächert, deren Fluchtpunkte jeweils in Raffaels Kunst zusammenlaufen: Zeichnungen von Raffael, Zeichnungen der Raffael-Schule, Zeichnungen nach Raffaels Werken, druckgrafische Reproduktionen nach Werken beziehungsweise druckgrafische Umsetzungen einzelner Details beziehungsweise Figuren aus Raffaels Kunst.

Jede dieser Perspektiven hätte zu einem eigenen Ausstellungsthema ausgebaut werden können. Die Themenbereiche wurden in einem Ausstellungskatalog mit Handbuchgewicht zusammengefasst.

Schon das ausführliche Forschungsreferat der Zuschreibungsdiskussion um die späten Raffael-Zeichnungen und die kennerschaftliche Argumentation zur Zuschreibung des neu erworbenen Blattes - "Gott erscheint Isaak, der um die Schwangerschaft Rebekkas bittet" - wären höchst anspruchsvolle Themen, ja Anlass für eine umfängliche Forschungsdiskussion, die jüngst wieder von Oberhuber und Gnann mit neuen Impulsen versehen worden ist, [1] gewesen: Überzeugend ordnet Höper das lavierte Modello zu Raffaels Darstellung "Gott erscheint Isaak" in den Loggien aus stilistischen Erwägungen dem engsten Kreis der hierzu überlieferten Raffael-Zeichnungen zu (23ff.). Ein weiteres Blatt aus Schweizer Privatbesitz mit der Darstellung der "Erschaffung Evas" (ebenfalls für die Loggien entstanden) kann sie erstmals publizieren (33). Ihr Versuch, ein drittes Blatt, mit der "Darstellung zweier nach rechts eilender nackter Jünglinge" (Graphische Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart), das Oskar Fischel als Kopie des 17. Jahrhunderts bewertete und dem "Calligraphic Forger" zuordnete, ausschließlich mit stilistischen Argumenten ebenfalls Raffael zuzuweisen (39), vermag demgegenüber nicht zu überzeugen. Kennerschaftliche Kunstwissenschaft zeigt sich hier im besten Sinne im Dienst der musealen Bestandspflege und -erweiterung.

Freilich liegen Glanz und Elend der kennerschaftlichen Argumentationen gerade auf dem Terrain der Zuschreibungsfragen in Raffaels Spätwerk nach wie vor eng beieinander: Auch wenn die in der neueren Forschung zum Konsens gewordene Zuschreibung der qualitätsvollsten Zeichnungen zu den Loggien an Raffael überzeugend scheint, ist es noch nicht lange her, dass das gesamte Zeichnungskonvolut Giovanni Francesco Penni zugeordnet wurde [2]. Auch stimmt es nachdenklich, dass Penni, den Vasari in den Viten als "Fattore" in Raffaels Werkstatt rühmte, nun in keinem einzigen Blatt mehr sicher zu fassen ist. Ebenso lassen sich die Grenzen zu Giulio Romanos zeichnerischem Frühwerk in diesen Jahren kaum präzise konturieren, ganz zu schweigen von den Fragen nach den Übergängen zu den zahlreichen anderen in Raffaels Werkstatt beteiligten Künstlern wie Polidoro da Caravaggio, Perino del Vaga, Giovanni da Udine und viele andere mehr. So bleibt einstweilen nichts übrig, als die Zeichnungen nach stilistischen Erwägungen in Gruppen einzuteilen und die "Besten" mit dem Namen des "Chefdesigners" Raffael zu versehen (39). Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich keine Koketterie, wenn Höper die Zuschreibung der Stuttgarter Raffael-Zeichnung und ihr Forschungsreferat unter die Überschrift "Über die Grenzen der Händescheidung" stellte.

Der Schwerpunkt der Publikation liegt freilich auf der Erschließung der Reproduktionsgrafik nach Raffaels Werken, die in einem opulenten, ebenso akribisch wie sorgfältig erarbeiteten Katalog auf 350 eng bedruckten Seiten ausgebreitet wird (149-518). Angesichts der Zahl von rund 2000 Blättern ist verständlich, wenn auch - mit Blick auf die weitere Forschungsarbeit - bedauerlich, dass man lediglich eine Auswahl abbilden konnte. Dankbar nimmt man demgegenüber die aufwändigen Verzeichnisse der 370 Kupferstecher, Radierer, Holzschneider und Lithografen sowie der 200 Stichzeichner und Drucker entgegen (519ff.). In diesen Themenbereich führt Höper mit einer sorgfältigen, zusammenfassenden Darstellung von Raffaels druckgrafischem Unternehmertum ein: Ausgehend von Raffaels Kooperation mit Raimondi (52ff.), da Carpi und anderen schildert sie ausführlich das historisch neuartige Auftreten und die Funktion der Verleger, beginnend mit Baverio de'Carocci, genannt Baviera (69-72), und zeigt, wie Raffael angeregt von Dürers Druckgrafik ein auf die "Bedürfnisse des Marktes" hin ausgerichtetes "Graphik-Unternehmen" einzurichten versuchte (56). Durch diese Aktivitäten ist nicht zuletzt die überwältigende weitere druckgrafische Reproduktion der Raffael-Werke angestoßen worden.

Höpers Kernanliegen ist es, die Reproduktionsgrafik wieder als "eigenständige Kunst" (73), als "autonome Kunst" mit "ästhetischem Eigenwert" zu rehabilitieren: "Die künstlerische Aufgabe des Reproduktionsstechers zwischen Übersetzung und Interpretation, aber auch die Entfernung vom Original als Erinnerung an dieses bestimmen den ästhetischen Eigenwert der Reproduktionsgraphik" (73). Zweifellos wird man Höpers Hoffnung "auf eine neue Generation von Kunsthistorikern, die bereit ist, die Reproduktionsgraphik wieder als ernstzunehmende Gattung anzuerkennen" (Vorwort), teilen. Freilich besteht in Höpers Argumentation die Gefahr, dass über der Aufwertung der Druckgrafik zu einem "autonomen Kunstwerk" die gerade hier besonders bedeutsamen historischen Kontextualisierungen aus dem Blick geraten können: Gerade in der Analyse der Differenzen zwischen Reproduktion und Werk scheint hinter der "ästhetischen Eigenwertigkeit" vielfach auch die Frage nach der spezifischen Intention und Funktion druckgrafischer Repliken auf.

Auch bleiben einige andere, zur Untermauerung dieser "ästhetischen Eigenwertigkeit" skizzierte Aspekte einer "Ästhetik des Kupferstichs" problematisch: Die Überzeugung etwa, dass "in Abwesenheit von Farbe [...] der Betrachter weniger emotional als vielmehr intellektuell gefordert" wird (74), entstammt einer heute in ihren Prämissen nicht mehr haltbaren Setzung der klassizistischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Auch wäre es erst noch rezeptionsgeschichtlich abzusichern, inwieweit die Reproduktionsgrafik tatsächlich als eine "zutiefst demokratische Kunst" bewertet werden darf (74). Sicherlich wurde diese - wie man an manchem Beispiel aus Höpers Katalog zeigen könnte - vielfach auch als willkommenes Instrument ideologischer Propaganda genutzt. Auch Höpers These, dass die Reproduktionsgrafik eine "Vermenschlichung des Bildes vom Gegenstand des Kults und Glaubens, der Verehrung, Repräsentation und Illusion hin zu einem des täglichen privaten Lebens, sei es als Anschauungsmaterial für Künstler [...] oder nur des reinen Sammelvergnügen wegen" bewirkte (75), wäre weiterführend erst noch zu untersuchen.

Gerade in der Frage der bewussten künstlerischen und thematischen Uminterpretation von Raffaels Vorlagen liegen besonders interessante Ansätze für eine methodische Betrachtung der Druckgrafik: Warum etwa wurde die Pythagoras-Gruppe aus Raffaels "Schule von Athen" in dem bekannten Stich von Agostino Veneziano (62) unter christlichen Vorzeichen als Darstellung der vier Apostel gedeutet? An diesem Punkt könnte die Kunstgeschichte als Wahrnehmungsgeschichte tatsächlich mit großem Gewinn an der Reproduktionsgrafik ansetzen, um die Differenzen zwischen Werk und Reproduktion auf die wahrnehmungsgeschichtlichen, rezeptionsästhetischen, politischen und ideologischen Implikationen und Kontextverschiebungen hin zu analysieren. Hierzu hat Corinna Höper mit ihrem Bestandskatalog neue Ausgangspunkte und eine neue Materialbasis gegeben.

Anmerkungen:

[1] Raphael und der klassische Stil in Rom. 1515-1527, hrsg. Von Konrad Oberhuber, Katalog Achim Gnann, Mailand 1999.

[2] Zuletzt M. Clayton in: Raphael and his circle, Ausstellungskatalog. London u. a. 1999-2001, S. 128.


Christoph Wagner