Wolfgang Reinhard (Hg.): Gebhardt. Handbuch der Deutschen Geschichte Band 10: Maximilian Lanzinner: Konfessionelles Zeitalter 1555-1618. Gerhard Schormann: Dreißigjähriger Krieg 1618-1648, 10., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta 2001, XXXIX + 320 S., ISBN 978-3-608-60010-0, EUR 40,00
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Der Rezensent muss sich quasi selbst spalten, um seine "Sehepunkte" über dieses Handbuch vorzustellen. Der Blick des Franzosen mischt sich nämlich mit dem Blick eines so genannten "Spezialisten" der deutschen Geschichte. Beide sind zwar von dem Gebhardt, diesem einzigartigen Monument der deutschen Geschichtsforschung, beeindruckt, das wie der Phönix aus seiner eigenen Asche immer wieder (zehnte Auflage) neu geboren wird, und beide preisen die knappe Dichte, die Präzision (siehe die sorgfältigen Listen Lanzinners, zum Beispiel über die Universitätsgründungen oder über die städtischen Unruhen - da weiß man schon, dass man künftig gegebenenfalls wie reflexartig zum Gebhardt greifen wird), die Literaturhinweise und die nützlichen Anhänge (Münzen, Maße und Gewichte, Päpste, Kaiser, und Regenten von achtzehn Territorien während der gesamten Frühneuzeit). Bald aber treten die beiden Standpunkte auseinander.
Der Umgang mit der deutschen geschichtswissenschaftlichen Literatur erlaubt erstens, das Neue an dieser Auflage zu sehen. Um es kurz zu sagen: die Neubewertung des Alten Reichs, der Reichsinstitutionen und insbesondere des Reichstags tritt besonders bei dem Text von Lanzinner prägnant hervor. Dass der Frühen Neuzeit zum ersten Mal ein gleichberechtigter Platz im Rahmen des "Gebhardt" zuerkannt wird, spiegelt nicht nur die institutionelle Entwicklung der Lehrstühle seit den 1960er-Jahren wieder, sondern zeugt auch von einer neuen Einstellung zu dieser Epoche, die nicht mehr als ein sich zwischen den Verheißungen der Reformation und den Leistungen Preußens angesiedelter Abstieg in die Finsternisse der Zerrissenheit und die Fremdherrschaft betrachtet wird.
Im Gegenteil hat eine ganze Reihe von Studien, die die Tragfähigkeit der beiden Religionsfrieden (1555 und 1648), die Anpassungsfähigkeit der Reichsinstitutionen und die zentrale Rolle des Reichs sowie der Zusammenarbeit der Reichsstände herausgearbeitet haben, der Reichsproblematik eine neue Brisanz verliehen, indem die hergebrachte Chronologie tiefgreifend verändert worden ist. Es sticht zum Beispiel besonders im Text von Lanzinner hervor, dass die "Entgleisung", die zum Dreißigjährigen Krieg führte, immer später im 16. Jahrhundert verortet wird - was viel mit der Wiederentdeckung des Reichstags 1566, dem Umfang der Türkenhilfe oder der aktiven und ausgewogenen Politik Kaiser Maximilians II. zu tun hat.
Die ausdrückliche Auseinandersetzung mit Leopold von Ranke (48, 62) erhält von daher ihren Sinn - sie mag aber auch ein wenig überraschen. Obwohl der Autor andere, uns nahe liegende Kontroversen erwähnt (113, 138), bleibt offensichtlich das "Urteil" über den nationsstiftenden Charakter der Periode ein wichtiges Kriterium, um einen Zeitabschnitt der deutschen Geschichte zu bewerten - was schon in dem eine immer noch andauernde Debatte auslösenden Buch von Georg Schmidt (Geschichte des Alten Reichs, 1999) der Fall war. Dieses Merkmal des "Handbuchs der deutschen Geschichte" hat aber eine methodische Konsequenz, die nicht wirklich bewusst thematisiert wird: die massive Akzentsetzung auf das Konfessionelle und das Politische.
Mit dieser Bemerkung ist aber bereits der erste "Sehepunkt" dem zweiten gewichen. Wenn ein Franzose seine verhältnismäßige Vertrautheit mit der deutschen Geschichtsschreibung zu vergessen versucht, um sich an die französische zu erinnern, so muss er - wenn auch undifferenziert und ziemlich ungerecht - einräumen, dass er diese Geschichte, die im "Gebhardt" erzählt wird, immer noch traditionell und ereignisorientiert findet. Um es besonders schroff auszudrücken: Wer mit Ranke ringt, steht auf demselben Kampfplatz.
Diese bewusst zugespitzt und provokativ geäußerte Meinung bedarf freilich vieler Nuancen: Es gibt in diesem Buch gute Einsichten in neuere Forschungen über die Frömmigkeitsgeschichte, die Hexenverfolgung oder die Geschlechterbeziehungen. Vernachlässigt werden eigentlich eher die Sozialstrukturen. Dass von einer generellen Krise des Adels noch die Rede sein kann (155) oder dass die Ursachen für die Entwicklung der ländlichen Gesellschaften auf zwei externe Faktoren reduziert werden (146), erhellt, wie die deutsche Geschichtswissenschaft aus der Verfassungs- und politischen Geschichte heraus über die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte hinweg mehr oder weniger direkt in die "Mentalitätsgeschichte" gesprungen ist - nicht ohne dass dabei einige Widersprüche unvermeidbar werden: Die Seite 166 widerspricht klar der Seite 146.
Bei dem gegenwärtigen Stand der Forschung war Lanzinner allerdings nicht im Stande, die Informationen zu verdichten, die seine Fachkollegen ihm nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung gestellt haben. Schormann aber hätte diese Möglichkeit gehabt: Das Jubiläum des Westfälischen Friedens bewirkte nämlich eine tief greifende Erneuerung der Forschung über den Dreißigjährigen Krieg. Vor diesem Hintergrund enttäuscht seine fast rein ereignisgeschichtliche Darstellung den Leser. Zwar ist diese Periode reich an Daten und Fakten; aber eine Auswahl könnte man schon treffen. Das Kapitel über die Kriegswirtschaft ist relativ gelungen, aber der Abschnitt über die soziökonomischen Folgen benutzt bedauerlicherweise keine der - zwar seltenen - demographischen Studien, die ein präziseres und konkreteres Verständnis der Mechanismen (und nicht nur des fragwürdigen Umfangs) dieser Folgen ermöglichen (zum Beispiel Rödel, Schyle, Le Cam). Über die vielfältige Publizistik, die Entwicklung der ersten Zeitungen, die Vorstellungen, die Einstellungen zum Krieg und zum Frieden, Themen, denen viele Forschungen gewidmet worden sind, verliert Schormann leider nur ein paar knappe Worte.
Dieser zweite "Sehepunkt" mag wohl als überkritisch, wenn nicht gar als leicht besserwisserisch erscheinen. Es sei aber unterstrichen, dass die Feststellung unterschiedlicher Traditionen der Geschichtswissenschaft mit einem Werturteil nichts zu tun hat. Übrigens ist jede nationale Geschichte einzigartig genug, um eine spezifisch auf sie zugeschnittene Darstellung ins Werk zu setzen. Vielleicht aber ist es ganz hilfreich, wenn der eine "Sehepunkt" dem anderen hilft, einige Schwächen aufzudecken.
Abschließend bleibt nur die Zuflucht zu der ebenso ernüchternden wie tröstenden Binsenweisheit: Eine knappe Synthese kann nicht alles umfassen. In diesem Fall erörtert sie vieles, und das auf sehr angenehme und klare Weise, und sie bringt in die altehrwürdige Reihe des "Gebhardt" einige betrachtenswerte Neuerungen hinein, die wichtige Entwicklungen der deutschen Geschichtsschreibung dokumentieren. Kleine Mängel fallen dabei nicht so sehr ins Gewicht, und die dem Standard eines tüchtigen Rezensenten geziemende Liste von festgestellten Ungereimtheiten mag dem Leser der "sehepunkte" erspart bleiben - zumal die üblichen bibliografischen Mäkeleien (trotzdem: Seite XLIII, Sabean, Kinship in Neckarhausen, erschien 1998, nicht 1997; Seite XLIV: Warum ist die französische Fassung und nicht die ein Jahr zuvor erschienene deutsche Fassung des Buchs von Étienne François angegeben worden? Darüber hinaus stört es, dass die Sammelbände nach dem Titel und nicht nach dem Namen des Herausgebers geordnet sind) häufig von einem einzigen, existenziellen Trieb des Rezensenten verursacht werden: "Ist mein Buch drin?". Eine Frage, die hier offen bleiben soll ...
Christophe Duhamelle