Andreas Prater: Im Spiegel der Venus. Velázquez und die Kunst einen Akt zu malen, München: Prestel 2002, 133 S., 1 Ausklapptafel, 63 Farb-, 15 s/w-Abb, ISBN 978-3-7913-2804-1, EUR 41,10
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"Grandiose Bilder stellen immer wieder neue Aufgaben" heißt es am Schluss des hier anzuzeigenden Buches (121). Dass es lohnend sein kann, sich auch mit vermeintlich bekannten Werken erneut intensiv auseinander zu setzen, belegt Andreas Praters Untersuchung zu Velázquez' so genannter "Rokeby Venus" in der Londoner National Gallery auf eindrückliche Weise.
Dabei gibt es eine Fülle von Problemen, die noch einer endgültigen Klärung bedürfen. Weder die Datierung noch der Auftraggeber des Werkes sind gesichert. Wie Prater zeigen kann, ist nicht einmal das genaue Thema des Bildes klar. Handelt es sich wirklich um die Darstellung der Venus, oder schlüpft hier eine sterbliche Frau in die Hülle der Göttin? Erstmals erwähnt ist das Gemälde 1651 im Inventar des Don Gaspar Méndez de Haro y Guzmán, Marqués de Heliche. Dort wird es beschrieben als ein Leinwandgemälde einer nackten, auf einem Tuch liegenden Frau, die sich auf ihren rechten Arm stützt und im Spiegel betrachtet, den ein Junge hält.
Dass die Dargestellte die Göttin Venus sein soll - eine Assoziation, die dem heutigen Betrachter unmittelbar in den Sinn kommt -, erfahren wir in diesem Dokument also nicht. Man könnte dies der Unkenntnis des Inventarschreibers anlasten. Wer Inventare des 17. Jahrhunderts kennt, weiß um die dort bisweilen aufzufindenden Stilblüten. Doch Prater kann zeigen, dass die übrigen Inventareinträge durchaus genauere Bezeichnungen für einzelne mythologische Gemälde geben. Wurde hier also bewusst die Identität der schönen Nackten verheimlicht?
Aus der Fragestellung, was eigentlich das Bildthema sein könnte, entwickelt Prater neue Perspektiven für die Lesart des Gemäldes, die sein Buch zu einer spannenden Lektüre machen. Handelt es sich um ein gemaltes Epithalamium, eine Art Hochzeitsgedicht, in dem sich letztlich der Wunsch nach Kindersegen eines frisch vermählten Paares ausspricht? Wurde das Gemälde also anlässlich einer Hochzeit in Auftrag gegeben? Wenngleich keine neuen Dokumente aufgetaucht sind, spricht doch einiges für diese Annahme.
Die erotische Wirkung des Rückenaktes, der mehr verbirgt denn freigibt, wurde seit jeher bemerkt. Velázquez ist natürlich nicht der erste, der die Göttin von hinten zeigt. Insbesondere in der venezianischen Malerei ist dies ein beliebtes Sujet. Doch ist er vielleicht der einzige, der den Spiegel dazu benutzt, nicht mehr von der Göttin zu zeigen, sondern, im Gegenteil, die Verschleierung noch voranzutreiben; denn das Gesicht der Frau sehen wir nur schemenhaft. Die Position des Spiegels und der in ihm sichtbare Bereich des Körpers, der dank dieses Ausschnitts an erotischem Reiz noch gewinnt, erfuhren im Laufe der Zeit unterschiedliche Interpretationen, bis zu dem Vorwurf, Velázquez hätte hier die Perspektive missverstanden, da im Spiegel das Gesicht, nicht aber die Scham der Frau zu sehen sei. Die von Gavin Ashworth angefertigte fotografische Rekonstruktion sollte dies seinerzeit "beweisen" (25).
Prater kann durch genaue Beobachtung zeigen, dass eine solche Sichtweise zu kurz greift, ja die Position des Spiegels durchaus auf das Haupt ausgerichtet ist. Allerdings betrachtet sich die "Venus" nicht selbst im Spiegel, sondern bietet vielmehr dem Betrachter ihr Antlitz dar. Aus diesem Grund handelt es sich auch nicht um die Darstellung der "Toilette der Venus". Schaut man etwas genauer hin, so kann man selbst auf dem verschwommenen Spiegelbild erkennen, dass die Göttin die Augen wohl geschlossen hat. Soll sie schlafend gezeigt werden? Oder ist sie gar blind vor Liebe? Zumindest beachtet die Frau nicht den Spiegel, sondern dieser dient ausschließlich als Angebot einer "Kontaktaufnahme" für den Betrachter. Obwohl uns also niemand direkt aus dem Bild anschaut, ist die gesamte Komposition auf den Blick des Betrachters hin ausgerichtet. Das Gemälde entpuppt sich als ein gekonntes Spiel der Blicke.
Auch anderen Details des Gemäldes gilt Praters Interesse. So ist das rosafarbene Band des Knaben nicht etwa eine beliebige Schnur, die zum Aufhängen des Spiegels dienen könnte, sondern ein Hinweis auf die Liebesfesseln Amors, die auch auf anderen Hochzeitsbildern zu finden sind. In diesem Zusammenhang entpuppt sich denn auch der rote Vorhang nicht einfach als dekorativer Hintergrund, sondern als weiterer Hinweis auf die Vermählung in der Form des römischen flammeum.
Viele weitere Einzelergebnisse Praters wären zu erwähnen. Besonders der Vergleich mit venezianischen Vorbildern ist erhellend. Dass Velázquez mit der Malerei der Lagunenstadt vertraut war, erstaunt angesichts der großartigen königlichen Sammlungen nicht. Eine andere Quelle der Inspiration wird von Prater etwas vernachlässigt: die Druckgrafik. Wie eminent wichtig die Wirkung gerade dieses Mediums für die spanische Malerei war, zeigt sich immer wieder; man denke etwa an das Werk Zurbaráns. Eine die gesamte spanische Kunst umfassende Studie zur Grafikrezeption steht zwar noch aus, jedoch für die andalusische Malerei - dort auch zu Velázquez - existiert sie bereits (Benito Navarrete Prieto, La pintura andaluza del siglo XVII y sus fuentes grabadas, Madrid 1998).
Über die Bedeutung der "Rokeby Venus" hinaus ergeben sich Fragen, die das gesamte Werk des Künstlers betreffen. So deutet Prater das verschwommene Antlitz der Frau im Spiegel als bewusste Entscheidung, mit Mitteln der Malerei unterschiedliche Realitätsebenen zu verbildlichen. Die Darstellung zweier verschiedener Wirklichkeitsebenen in einem Gemälde - das Bild der Frau und ihr Spiegelbild - verlangen geradezu eine Differenzierung. Ein Blick auf andere Werke von Velázquez kann verdeutlichen, dass der Künstler wiederholt mit unterschiedlichen Stilmodi arbeitet. Vergleichbares zeigt sich zum Beispiel auch im Werk El Grecos, der hierdurch etwa die göttliche Sphäre von der irdischen zu trennen versucht.
En passant bekommt der Leser auch noch interessante Deutungen anderer Werke mitgeteilt. "Apoll in der Schmiede des Vulkan" (Madrid, Museo del Prado) und "Josephs blutiger Rock" (El Escorial) werden als gedankliche Pendants aufgefasst. Obwohl die beiden Sujets aus zwei ganz unterschiedlichen thematischen Bereichen stammen, stellen beide Gemälde den Augenblick dar, als jemand hinzutritt, um den Beteiligten eine Geschichte zu erzählen. Apoll berichtet von dem Betrug, den Venus mit Mars beging; die Brüder Josephs von seinem angeblichen Tod. Es scheint so, als ob Velázquez gerade diese Schrecksekunde darstellen wollte. Den "Kriegsgott Mars", auch hier gibt es unterschiedliche Deutungen, deutet Prater als Friedensallegorie, "gefangen gehalten und bezwungen und so zur Untätigkeit verurteilt." (114).
Hinsichtlich der Datierung der "Rokeby Venus" gibt es in der Forschung unterschiedliche Vorschläge, die allerdings meist mit der Italienreise des Künstlers von November 1648 bis Sommer 1651 in Verbindung gebracht wurden: Das Bild sei entweder vor oder nach der Reise entstanden. Prater hingegen schlägt unter Hinweis auf die vielfältigen Beziehungen zur italienischen Kunst und Literatur eine Entstehung des Gemäldes während dieser Reise vor, und zwar in Rom im Zeitraum von April 1649 bis November 1650. Diese Datierung überzeugt.
Andreas Prater hat ein schönes, lehrreich aber auch unterhaltsam geschriebenes Buch vorgelegt, das zu weiterem Denken anregt. Die reiche Bebilderung macht die Lektüre darüber hinaus zu einem Genuss. Dass Correggios "Danae" aus der Galleria Borghese spiegelverkehrt abgebildet ist - vielleicht eine Reverenz an den Spiegel? - verzeiht man gern.
Justus Lange