Ruth-Elisabeth Mohrmann (Hg.): Städtische Volkskultur im 18. Jahrhundert (= Städteforschung. Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster. Reihe A: Darstellungen; Bd. 51), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2001, XX + 209 S., 18 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-03699-7, EUR 35,30
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Städtische Volkskultur im 18. Jahrhundert - ein Thema, das in seiner ganzen Breite wohl schwerlich im Rahmen einer Tagung abzuhandeln ist. Deshalb hat die Münsteraner Volkskundlerin Ruth-Elisabeth Mohrmann sich dazu entschlossen, einzelne Aspekte städtischen Alltagslebens besonders hervorzuheben, um eine Basis für spätere vergleichende Studien zu schaffen. Diesem Ansatz liegt der Gedanke einer europäischen Ethnologie zugrunde, die sich konsequent der Arbeit an den Quellen sowie an theoretischen Konzeptionen von Volk, Kultur und Alltag widmet, um schließlich zu gemeinsamen Einschätzungen der Wandlungsdynamik Europas im 18. Jahrhundert zu gelangen. So stehen neben einigen Beispielen aus deutschen Städten auch Berichte aus norwegischen, niederländischen, englischen und schottischen Städten der Frühen Neuzeit im Mittelpunkt der Betrachtung. Ein Beitrag über das Leben osmanischer Stadtbewohner vom 16. bis zum 18. Jahrhundert wirft schließlich noch einen Blick auf die Balkanregion. Die behandelte Bandbreite reicht von städtischen Unterschichten über das Handwerk und die Zünfte bis hin zu Adel und Patriziat. "Volk" ist hier also in einem umfassenden Sinne gemeint, und schließt die unterschiedlichsten Situationen des alltäglichen Lebens der Bevölkerung jener Epoche ein, ganz gleich, auf welcher Stufe der sozialen Rangleiter sie jeweils angesiedelt war.
Was leistet dieser Ansatz, was leistet der vorliegende Sammelband? Es ist durchaus reizvoll, dem Alltagsleben europäischer Städte im 18. Jahrhundert im Detail nachzugehen. Zur Illustration seien hier drei kurze Skizzen herausgegriffen:
Wenn etwa Gunther Hirschfelder in seinen Überlegungen zu Aachener Wirtshäusern, Cafés und Hotels "Brennpunkte" städtischer Volkskultur ausmacht, die mehr waren als nur gastgewerbliche Vergnügungsstätten, nämlich vor allem im Umfeld der Französischen Revolution politische Versammlungsorte, dann wird deutlich, wie durch diesen neuen "Mittelpunkt des Gemeinwesens" (98) auch eine neue Öffentlichkeit in der Bürgergesellschaft entsteht. Hier böte sich ein Vergleich mit England, Frankreich und den Niederlanden geradezu an.
Thera Wijsenbeek-Olthuis verschafft den Lesern einen Einblick in die Architektur- und Sozialgeschichte einer Alleestraße, der 'Langen Voorhout' in Den Haag, deren Erscheinungsbild sich stets mit den politischen Verhältnissen veränderte. So kann diese Prachtstraße als ein Indikator für Wohlstand und Stabilität, für Krisen und Unruhen betrachtet werden. Solche Alleen prägten im 18. Jahrhundert viele europäische Städte, und auch hier wird die vergleichende Städteforschung reiches Material vorfinden können.
Stana Nenadic widmet sich in ihren Überlegungen zur "popular culture" Schottlands dem Wandschmuck in Haushalten der so genannten urban middle ranks. Die Verfasserin kann deutlich machen, wie stark der Markt für einfache Drucke im 18. Jahrhundert anwuchs, und wie sehr die Motive jeweils dem Rollenbild der Geschlechter entsprachen: Frauen sammelten eher emblematische, allegorische oder idealisierend-erbauliche Stoffe, während in den Aufenthaltsräumen der männlichen Hausbewohner häufig Portraits berühmter Figuren aus der Vergangenheit und Gegenwart Schottlands zu finden waren. Der Bericht schließt mit einem Plädoyer für eine stärkere Kontextualisierung dieser Objekte: Möbel, Architektur, Wandschmuck: dies alles gehöre zu einem Kunstmarkt, der sich breiteren Schichten zu öffnen begann. Wohlstand und Bürgersinn, Rollenbilder und Emanzipationsbestrebungen ließen sich am Wandel der neu entstehenden "art for a public audience" (179) wie in einem Spiegel ablesen. Dass dies auch für andere europäische Städte galt, etwa im Umfeld der alten Druckzentren Amsterdam und Antwerpen, Straßburg und Paris, klingt in dem Beitrag bereits an.
Auch die anderen Beiträge von Walter Hartinger, Gudrun M. König, Finn-Einar Eliassen, Herman Roodenburg, Suraiya Faroqhi, Penelope J. Corfield, Peter Höher und Fred Kaspar bieten Materialien und Überlegungen zu Themen ähnlicher Provenienz: Immer geht es um Einzelfälle - um Prozessionen und Straßensänger, um bürgerlich-herrschaftliche Bauformen oder um Inzest. Diese Themen ließen sich aber mühelos auch auf andere Städte übertragen, Insofern bietet der Band viele anregende Gedanken für eine vergleichend-europäische Alltagskultur der Stadt aus der Perspektive volkskundlicher Forschungen.
Umrahmt werden diese Einblicke in die Stadtkultur des 18. Jahrhunderts durch einige theoretische Überlegungen der Herausgeberin. Es ist ja durchaus umstritten, ob etwa der Terminus "Volkskultur", der dem Band im Titel voran steht, als Leitbegriff für eine ganze Forschungsrichtung zu gelten hat, die sich dem Alltagsleben des 18. Jahrhunderts widmet. Ruth-Elisabeth Mohrmann macht jedoch in ihren einleitenden Worten darauf aufmerksam, dass der Begriff in den vergangenen Jahren eher eine Auf- als eine Abwertung erfahren und man sich längst von der Assoziation "Volk = Kontinuität" verabschiedet habe. Vor allem die niederländische Forschung entwickele derzeit unter der Bezeichnung "Volkscultuur" ein reges Interesse an Phänomenen des historischen Alltagslebens, ohne sich starr darauf festzulegen, welche Schichten damit im Einzelnen ausgegrenzt werden. Und zudem habe sich im europäischen Gebrauch eine Bandbreite von Begriffen ähnlichen Zuschnitts durchgesetzt, wie etwa "popular culture" oder "culture du peuple", die nichts anderes meine als "die Art und Weise, in der Menschen ihrem Alltagsleben Form geben" (F.G. Rooijakker) (XI). Ruth-E. Mohrmann plädiert deshalb für einen unbefangenen Umgang mit dem Begriff, unter dem sich viele Aspekte subsumieren ließen, und eben auch die des klassischen Kanons. Einzelne Autoren wie Wolfgang Brückner stimmen dieser Meinung zu und erörtern den Wandel der Volkskultur in größerem Stil, vor allem in Hinsicht auf jene Dynamik, die sich als Austauschprozess zwischen den Ständen vollzog. Carola Lipp benennt hingegen ihre Schwierigkeiten mit diesem Konzept, indem sie noch einmal die ältere Kritik an der "Partialisierung von Gesellschaftsformationen" (65) aufgreift und stattdessen für einen "offenen" Kulturbegriff votiert. Anstelle von "städtische Volkskultur" ist in ihren Augen der knappere Begriff "städtische Kultur" als terminus technicus völlig ausreichend. Ob die Aufgabe dieser Differenzierung Abgrenzungen und Vielfalt besser zum Ausdruck bringt, ist allerdings derzeit noch nicht entschieden. Feststellen lässt sich jedenfalls, dass der Volkskulturbegriff starke Wandlungen durchlaufen hat, und es deutet sich eine Verständigung auf europäischer Ebene über eine Nutzung dieses Begriffsfeldes im wechselnden Sprachgebrauch für die künftige Forschung an.
Ruth-Elisabeth Mohrmann hat einen sehr anregenden Band zusammengestellt, der sowohl Streiflichter und Tiefenlotungen einzelner Phänomene des Lebens in europäischen Städten des 18. Jahrhunderts präsentiert als auch Überlegungen zum Konzept der Volkskultur und seinen forschungstechnischen Problemen anstellt. Positiv hervorzuheben ist die europäische Perspektive, denn sie eröffnet Einsichten in die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Alltagslebens in Städten unterschiedlicher Größe und Ausprägung an der Schwelle zum Industriezeitalter. Dass man hier wie dort einem raschen und nachhaltigen Änderungsdruck unterworfen war, ist auffallend. Es lohnt sich also, dieser Spur nachzugehen und weitere Studien des vorliegenden Typs im Kontext der vergleichenden Städteforschung anzuregen.
Sabine Doering-Manteuffel