Rezension über:

Ulmer Museum (Hg.): Michel Erhart & Jörg Syrlin d.Ä. Spätgotik in Ulm. Katalog zur Ausstellung im Ulmer Museum der Stadt Ulm, 8. September bis 17. November 2002, Stuttgart: Theiss 2002, 387 S., zahlr. Abb. in Farbe und s/w, ISBN 978-3-8062-1718-6, EUR 25,00
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Rezension von:
Ulrike Krone-Balcke
München
Redaktionelle Betreuung:
Ulrich Fürst
Empfohlene Zitierweise:
Ulrike Krone-Balcke: Rezension von: Ulmer Museum (Hg.): Michel Erhart & Jörg Syrlin d.Ä. Spätgotik in Ulm. Katalog zur Ausstellung im Ulmer Museum der Stadt Ulm, 8. September bis 17. November 2002, Stuttgart: Theiss 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 3 [15.03.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/03/1275.html


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Ulmer Museum (Hg.): Michel Erhart & Jörg Syrlin d.Ä.

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Fünf Jahre nach der großen Werkschau zu dem Bildhauer Hans Multscher präsentierte das Ulmer Museum vom 8. September bis zum 17. November 2002 das Œuvre zweier weiterer bedeutender Künstlerpersönlichkeiten der Ulmer Spätgotik. Die Arbeiten Michel Erharts und Jörg Syrlins des Älteren schließen chronologisch wie künstlerisch an das Werk des großen Vorgängers an. Vor allem der erstmals 1469 in Ulmer Steuerlisten genannte Bildhauer Michel Erhart gehört zu den prägenden Persönlichkeiten nicht nur der Kunst Ulms, sondern auch Südwestdeutschlands im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts. Mit der eindrucksvoll bestückten Ausstellung dokumentierten die Initiatoren Stefan Roller und Michael Roth erstmals umfassend das Schaffen dieses Hauptmeisters der schwäbischen Spätgotik.

War die Werkschau zu Erhart seit langem ein Desiderat, so konnte auch mit dem vorliegenden Katalog eine seit Jahrzehnten offene Lücke in der Forschungsliteratur geschlossen werden. Seit den Veröffentlichungen von Gertrud Otto (1943) und Anja Broschek (1973) waren - abgesehen von einer nur im Typoskript vorhandenen Untersuchung Wolfgang Deutschs - keine monografischen Arbeiten zu Erhart mehr erschienen. Achtzehn Aufsätze namhafter Wissenschaftler zu den Hauptfragen, die zahlreichen, teils farbigen Abbildungen, der sorgfältige Katalogteil und die technologischen Beobachtungen der Restauratoren erfüllen in jeder Hinsicht den Anspruch der Autoren, ein "Neues Standardwerk zur Ulmer Kunst der Spätgotik" vorzulegen.

Als man in den 1460er-Jahren die ambitionierte Ausstattung des reichsstädtischen Münsters weiterführte, war mit den Arbeiten des genialen Hans Multscher ein sehr hoher künstlerischer Maßstab gesetzt. Der Unternehmer und Schreiner Jörg Syrlin der Ältere begann 1467 im Auftrag der Münsterbaupfleger mit dem Dreisitz am Choreingang und führte ab 1469 das große Chorgestühl an der Nord- und Südseite aus, das er 1474 signierte. Etwa zu dieser Zeit lieferte seine Werkstatt auch die Visierung für den im Bildersturm zerstörten Hochaltar, dessen Schreinarchitektur ebenfalls Syrlin zu errichten hatte, während die Skulpturen an den bis dato nahezu unbekannten Bildhauer Michel Erhart verdingt wurden. Diese Werke und die wohl von ihm ausgeführten Prophetenbüsten des Chorgestühls begründeten Erharts frühen Ruhm.

Die Problematik um sein Frühwerk und dessen stilistische Abgrenzung zum Œuvre Syrlins des Älteren - ein Schwerpunkt der Ausstellung - erläutert Michael Roth in seinem einführenden Beitrag über die vier Themenkomplexe des Katalogs. Die Forschungsdiskussion entzündete sich an der unterschiedlichen Qualität der Skulpturen am Chorgestühl, das allein Syrlin signierte. War Syrlin auch Bildhauer und an den plastischen Arbeiten dieser Aufträge beteiligt oder ist seine Signatur nur die Vertragsbesiegelung des Unternehmers?

Einige Autoren (Michael Roth, Stefan Roller, David Gropp) bestätigen die These Wolfgang Deutschs (1977), Syrlin der Ältere sei mit dem anonymen Meister der Heggbacher Madonna identisch. Seine Handschrift findet sich an einigen Bildwerken des Dreisitzes sowie des Chorgestühls im Ulmer Münster. Mit einer Beschreibung, die für den Nichtfachmann manchmal zu sehr der komplizierten Konstruktion ähnelt, schildert David Gropp ("Die Schreinerarbeiten von Jörg Syrlin d. Ä.") das Mobiliar des Ulmer Chores als "völlig nagel- und scharnierfreies" (178), raffiniertes Stecksystem. Es stellte auf diesem Gebiet eine vollkommene Neuerung dar. Nach Gropp lassen sich aus dem komplexen Schreinerwerk auch die Wangenbüsten nicht ohne weiteres lösen. Demzufolge wurden das Gestühl und die gesamte Skulptur in der Werkstatt Syrlins ausgeführt.

Mit Sicherheit war Syrlin der Ältere ein Neuerer in der Möbelkonstruktion, als Bildschnitzer aber entstammte er einer älteren Generation. Vor allem die Syrlin zugeschriebenen Marienfiguren in der Ausstellung lassen deutlich die Tradition Multschers erkennen, aus dessen Werkstatt er wohl hervorgegangen ist. Auf eine ganz andere Innovationskraft trifft man hingegen bei dem Bildschnitzer der Wangenbüsten, der im Katalog nun endgültig mit Michel Erhart gleichgesetzt wird. Im Beitrag "Das Ulmer Chorgestühl und Michel Erhart" konstatiert Albrecht Miller "zwillingshafte Ähnlichkeit" (48) im Vergleich der Physiognomien und Profile einzelner Propheten mit anderen Werken Erharts (beispielsweise Hochaltarfiguren von Kaufbeuren). Miller widerspricht der Auffassung Gropps, der selbstständige Meister sei zur Zeit der Ausführung (1469-74) Mitarbeiter Syrlins des Älteren gewesen und betont die Eigenständigkeit Erharts.

Schon die Zeitgenossen sahen in Michel Erhart den moderneren und innovativeren Künstler, denn sie übertrugen dem jüngeren Meister nicht nur die prominentesten Figuren des Gestühls, sondern auch die Skulpturen des Münsterhochaltares. Zu diesem 1531 zerstörten, zentralen Werk der schwäbischen Spätgotik geben nur der Vertrag mit Syrlin, die Eintragungen im Rechnungsbuch der Kirchenbaupflege und der berühmte Altar im Württembergischen Landesmuseum Stuttgart Auskunft. Neue Erkenntnisse zu der mit "Syrlin" beschrifteten Visierung liefern David Gropp ("Der Ulmer Hochaltar. Ein Gemeinschaftswerk von Jörg Syrlin d.Ä., Michel Erhart und Hans Schüchlin?") und Anja Schneckenburger-Broschek ("Der Riss des Ulmer Hochaltarretabels. Zur Rekonstruktion und Ikonographie"). Das 2,31 m hohe Pergament stammt Gropp zufolge aus der Hand des Malers Hans Schüchlin, der bereits am Tiefenbronner Altar mit Syrlin kooperierte. Der repräsentative Charakter der Zeichnung deutet nicht auf einen Werkstattgebrauch hin, sondern auf eine Verwendung als Schauobjekt für die Auftraggeber. Auf eine Zusammenarbeit mit einem Maler schließt auch Schneckenburger-Broschek, indem sie die neuere Forschung zusammenfasst. Jüngst entdeckte Quellen und "jeweils zwei Schlitze beidseitig im Pergamentriss" (79) lassen an einen Wandelaltar mit zwei Flügelpaaren ähnlich der Konstruktion in Blaubeuren denken.

Ein anderer Schwerpunkt des vorliegendes Bandes widmet sich einem Schlüsselwerk der Erhart-Forschung: der Ravensburger Schutzmantelmadonna der Staatlichen Museen in Berlin. Sie steht exemplarisch für die "windungsreiche Forschung" (13) zum Œuvre Erharts und zählt zu einer Reihe von Skulpturen, deren Zuschreibung bis dato strittig ist. Die Figur stammt nach einer Überlieferung des 19. Jahrhunderts aus einem Altar der Ravensburger Liebfrauenkirche, der die Signatur des Bildhauers Friedrich Schramm trug. Ausgehend von der Madonna stellte Gertrud Otto (1943) unter diesem Namen einen Werkkomplex zusammen, den sie schließlich in das Frühwerk Michel Erharts umwidmete. Darin folgt ihr Stefan Roller im Aufsatz "Einige Bemerkungen zum Frühwerk Michel Erharts", der plastische Arbeiten des Meisters aus den 1470er- und 80er-Jahren kritisch beleuchtet. Während die anderen Autoren der Attribution zustimmen, kommt Hartmut Krohm nach einer sorgfältigen Abwägung der Quellen zu dem Schluss, dass die Autorschaft eines Bildhauers Friedrich Schramm durchaus möglich sei. Gerade die geringere Differenzierung des physiognomischen Ausdrucks und die einfache Gewandstruktur reichen nicht an die hohe Qualität der Blaubeurer Madonna und deren intellektuellen Anspruch heran und lassen an die Arbeit eines "tüchtigen Epigonen" (34) denken.

Die Auseinandersetzung mit dem Spätwerk des Künstlers berührt die schwierige Frage nach der Trennung der Werkkomplexe von Vater und Sohn Erhart. In seiner Untersuchung "Zum Spätwerk Michel Erharts" gibt Stefan Roller dem älteren Erhart den Hauptanteil am Blaubeurer Retabel. Die dortigen Reliefs hingegen lassen sich den bis jetzt bekannten Arbeiten Gregors stilistisch anschließen - etwa der Muttergottes in Sankt Ulrich und Afra in Augsburg. Die Problematik des Themas verdeutlicht Rollers Zuschreibung der bisher Gregor zugeordneten Schutzmantelmadonna von Frauenstein an Michel Erhart - eine Argumentation, die nicht überzeugt.

Das vorliegende Buch vereinigt die jüngste Forschung zu zwei wichtigen Protagonisten der schwäbischen Spätgotik und bringt eine Fülle neuer Ansätze, die sicher Grundlage weiterer Untersuchungen sein werden. Wünschenswert wäre eine intensivere Auseinandersetzung mit den stilistischen und künstlerischen Ursprüngen beider Bildhauer gewesen, einem Thema, bei dem sich der Katalog nur mit gelegentlichen Hinweisen begnügt. Gerade die Begegnung Erharts mit dem oberrheinischen Stilkreis eines Niclaus Gerhaerts von Leyden macht im Gegensatz zu Syrlins Herkunft aus der lokalen Multscher-Tradition qualitative und intellektuelle Unterschiede deutlich. Vor diesem Hintergrund ist die Zuschreibung eines Meisterwerks wie der Wiener Vanitasgruppe an Syrlin den Älteren durch Heribert Meurer nicht nachvollziehbar.


Ulrike Krone-Balcke