Werner Paravicini / Jörg Wettlaufer (Hgg.): Erziehung und Bildung bei Hofe. 7. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Veranstaltet in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Celle und dem Deutschen Historischen Institut Paris (Celle, 23. - 26.9.2000) (= Residenzenforschung; Bd. 13), Ostfildern: Thorbecke 2002, 277 S., 15 Abb., ISBN 978-3-7995-4513-6, EUR 49,00
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Werner Paravicini (Hg.): La cour de Bourgogne et l'Europe. Le rayonnement et les limites d'un modèle culturel. Actes du colloque international tenu à Paris les 9, 10 et 11 octobre 2007, Ostfildern: Thorbecke 2013
Claudius Sittig: Kulturelle Konkurrenzen. Studien zur Semiotik und Ästhetik adeligen Wetteifers um 1600, Berlin: De Gruyter 2010
Jan Hirschbiegel / Werner Paravicini / Jörg Wettlaufer (Hgg.): Städtisches Bürgertum und Hofgesellschaft. Kulturen integrativer und konkurrierender Beziehungen in Residenz- und Hauptstädten vom 14. bis ins 19. Jahrhundert, Ostfildern: Thorbecke 2012
Der Tagungsband dokumentiert das 7. Symposium der Residenzen-Kommission der Göttinger Akademie der Wissenschaften, welches im September des Jahres 2000 in Celle veranstaltet wurde und sich mit einem bisher vernachlässigten Forschungsgebiet beschäftigte - der Erziehung und Bildung bei Hofe. Die einzelnen Beiträge nehmen verschiedene europäische Höfe des 12. bis 17. Jahrhunderts, vom Mittelmeerraum bis zum Nord- und Ostseeraum, in den Blick und stützen sich dabei auf sehr unterschiedliche Quellen: pädagogische und moralische Abhandlungen, Lehrbücher und Sammelwerke, literarische und bildliche Darstellungen, rechtliche Bestimmungen, Briefwechsel, Bibliotheksverzeichnisse und nicht zuletzt Hofrechnungen.
Eingerahmt durch die Einführung von Werner Paravicini (11-18) und die vorzügliche Zusammenfassung von Gerhard Fouquet (267-277), sind die 14 Beiträge in drei Themenblöcke unterteilt, welche die Leitfragen der Tagung widerspiegeln: erstens die recht weit gefasste Frage, ob es sich bei der höfischen Erziehung um ein Phänomen des sozialen Wandels oder der sozialen Reproduktion handelt, ob es also vorrangig um Standeserhalt durch die Weitergabe von herrschaftsrelevantem Wissen und standestypischen Verhaltensweisen ging oder ob sich durch Erziehung bei Hofe besondere Aufstiegs- und Karrieremöglichkeiten eröffneten; zweitens die Frage nach dem Verhältnis von geistlichem und weltlichem Wissen am Hof, ob beide tatsächlich im Gegensatz zueinander standen oder miteinander verbunden werden konnten; und drittens die Frage nach traditionellen und innovativen Elementen der Adelserziehung. In allen Beiträgen geht es nicht darum, einzelne Personen von Adel hinsichtlich ihrer Erziehung und Bildung zu untersuchen, sondern darum, den Hof als "Erziehungsinstitution" des Adels verstehen zu helfen (18). Der Hof erscheint hierbei als ein Ort, an dem bestimmtes Wissen gefragt war, das gepflegt und weitergegeben werden musste.
Dass es für das Mittelalter allerdings schwierig ist, zum Kern der höfischen Erziehung vorzudringen, zeigt bereits der erste Beitrag des Bandes, der Aufsatz von Bernhart Jähnig (21-42). Dieser beschäftigt sich mit jungen Edelleuten, die sich in der Zeit um 1400 in den Dienst des Hochmeisters des Deutschen Ordens in Marienburg begaben, um offenbar ihre Erziehung zu vervollkommnen und ihre Karrierechancen zu erhöhen. Auf der Grundlage des Treßlerbuches gelingt es zwar, Namen und Herkunft einiger dieser Edelleute zu bestimmen, welche meist der preußischen Ehrbarkeit entstammten, doch lässt sich kaum ein Einblick in den erzieherisch wirksamen Teil des jeweiligen Aufenthalts gewinnen. Der hochmeisterliche Hof stellt im Übrigen - worauf Gerhard Fouquet zu Recht hingewiesen hat (271 f.) - einen Sonderfall in Europa dar, weil er nicht nur in außergewöhnlicher Weise geistliche und ritterliche Ideale zu vereinen suchte, sondern auch ein Hof ohne Frauen war, denen immerhin eine beträchtliche Rolle bei der höfischen Erziehung zukam.
Aus den Verhältnissen am burgundischen Hof Philipps des Guten, die Monique Sommé (71-88) beobachtet hat, lässt sich hingegen schließen, dass junge Adlige gute Chancen hatten, Karriere zu machen, wenn sie als Pagen Kenntnisse des Hofzeremoniells erwarben und sichtbar am höfischen Leben teilnahmen. Die Einführung junger Adliger bei Hofe ist demnach ein entscheidender Schritt bei der sozialen Reproduktion. Noch deutlicher lässt sich das für das 17. Jahrhundert anhand der von Susanne Claudine Pils (89-105) verfolgten Karrieren von Mitgliedern der Familie Harrach am Hofe Leopolds I. zeigen. Wie aus den "Tagzettel" genannten Briefen der Hofdame Johanna Theresia von Harrach hervorgeht, waren die Schulung des Geistes und das Erlernen bestimmter Verhaltensweisen bei Hofe gleichermaßen von Bedeutung. Neben dem Lernen durch die Teilnahme am höfischen Leben spielte auch in Büchern gespeichertes Wissen eine Rolle. Antje Stannek (107-123) kann sich auf erhaltene pädagogische Handbücher und Prinzenspiegel stützen, um zu zeigen, wie die Grafen von Hohenlohe-Langenburg im 17. Jahrhundert auf die Kavalierstour vorbereitet wurden.
Bereits im England des 12. und 13. Jahrhunderts spielten didaktische Schriften bei der Vermittlung von Verhaltensnormen und Wertvorstellungen an junge Adlige, die sich bei Hofe aufhielten, eine Rolle. Der von Frédérique Lachaud (43-53) eingehend behandelte "Urbanus magnus", der Daniel de Beccles zugeschrieben wird, gibt lebendig Auskunft über die beim Hofdienst einzuhaltenden Normen. Auf umfangreiches Quellenmaterial, das im Zusammenhang mit der Hofhaltung entstanden ist, stützt sich dagegen der Beitrag zur englischen Adels- und Prinzenerziehung im 14. und 15. Jahrhundert von Arnd Reitemeier (55-69). Diesem gelingt es, den englischen Königshof als zentralen Ort der Adelserziehung zu beschreiben. In drei aufeinander folgenden Erziehungsphasen, der "infantia", "pueritia" und "adolescentia", wurden adlige Kinder nacheinander Ammen, Erziehern und Lehrern anvertraut, die hauptsächlich nach ihrer Vertrauenswürdigkeit ausgewählt wurden. In der theoretischen Ausbildung kann Reitemeier ein zunehmendes Gewicht herrschaftstechnischer Kenntnisse ausmachen.
Der erste Beitrag des Themenblocks zum Verhältnis von geistlichem und weltlichem Wissen bei Hofe führt ebenfalls ins mittelalterliche England. Michael Rothmann (127-156) unternimmt eine Neubewertung der "Otia Imperialia" des Gervasius von Tilbury, einer unterhaltsamen Geschichtensammlung, die sowohl bei Hofe als auch bei Oxforder Studenten außerordentlich beliebt war, bevor sie in der Frühen Neuzeit für unnütz erklärt wurde. Obwohl es vielfach enge Beziehungen zwischen Hof und Universität gab, blieben beide Kreise jedoch deutlich voneinander abgegrenzt, wie Jacques Verger (167-176) für das Frankreich des 14. Jahrhunderts feststellt. Am Hof war eben eine andere Art von Wissen gefragt. Das gilt bereits für den süditalienischen Hof der Staufer, an dem verschiedene naturwissenschaftliche Texte entstanden sind, die Gundula Grebner (193-213) analysiert hat. Wie das Verhältnis zwischen geistlicher und weltlicher Kultur bei Hofe letztlich ausgeprägt war, hing nicht unwesentlich von der Person des jeweiligen Herrschers ab, was vor allem Ivan Hlaváček (157-166) mit Blick auf Böhmen hervorhebt. Am spanischen Hof des 16. Jahrhunderts, den Antonio Saéz-Arance (177-190) betrachtet, herrschten zunächst humanistische Bildungsinhalte vor, bevor religiöse Inhalte im Zuge der Konfessionalisierung wiederum an Bedeutung gewannen.
Die vielfältigen Zeugnisse des innovativen Umgangs mit Traditionen am Hof Kaiser Maximilians I., der sich sehr stark am burgundischen Vorbild ausrichtete, hat Lucas Burkhart (215-234) untersucht. Dabei wird deutlich, dass am maximilianischen Hof keineswegs rückwärts gewandt auf Traditionen verwiesen, sondern das "Alte" umgedeutet und für die Gegenwart nutzbar gemacht wurde. Den scheinbaren Widerspruch zwischen Maximilians Vorliebe für alte Geschichten und seiner Offenheit für technische und andere Neuerungen versucht Burkhart mit der Bezeichnung "paradoxe Innovation" zu fassen. Im Hinblick auf die Erziehung und Bildung bei Hofe wäre es wünschenswert gewesen, dem "Weißkunig", in dem der Kaiser geradezu als bildungshungrig erscheinen will, mehr Aufmerksamkeit zu widmen, selbst wenn Maximilian als Mensch hinter der monumentalen Selbstdarstellung nur schwer auszumachen ist.
Mit der Rolle humanistischer Gelehrter am Hof Ferdinands I. beschäftigt sich Albert Schirrmeister (235-247). Dabei geht es auch um die Person des Prinzenerziehers Caspar Ursinus Velius, seine Aufgabenfelder und seine Einbindung in die Hofgesellschaft. Den Abschluss des dritten Themenblockes bildet der Aufsatz von Steffen Stuth (249-266) zum mecklenburgischen Hof. Durch die Untersuchung des Bücherbestands der herzoglichen Bibliothek und der Kontakte zu Philipp Melanchthon kann das Bildungsinteresse unter Johann Albrecht I. genauer beleuchtet werden.
Die Beiträge des Tagungsbandes werfen einerseits ein beeindruckendes Schlaglicht auf das geistige Klima an europäischen Höfen zu unterschiedlichen Zeiten, führen andererseits aber auch das Ausmaß der Forschungslücken auf dem Gebiet der höfischen Erziehung und Bildung vor Augen. Hilfreich für künftige Forschungen dürften vor allem die aufgeworfenen Leitfragen sein, die freilich noch zu erweitern und zu schärfen sind. Durch die Tagung in Celle, das zeigt der vorliegende Band, wurde gleichsam eine Tür aufgestoßen, durch die wir über einen langen Gang, vorbei an mehreren Türhütern und Höflingen, vielleicht in die Gemächer vordringen können, in denen der europäische Adel mit den Kenntnissen, den Fertigkeiten und der Selbstsicherheit ausgestattet wurde, die es ihm ermöglichten, seine herrschaftliche Stellung über Jahrhunderte hinweg zu behaupten.
Gerrit Deutschlaender