Gerhard Adelmann: Die Baumwollgewerbe Nordwestdeutschlands und der westlichen Nachbarländer beim Übergang von der vorindustriellen zur frühindustriellen Zeit 1750-1815. Verflechtung und regionale Differenzierung (= Beiträge zur Unternehmensgeschichte; Bd. 11), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2001, 184 S., ISBN 978-3-515-07832-0, EUR 34,00
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Bei dem hier zu besprechenden Buch handelt es sich um die Bonner Habilitationsschrift Adelmanns. Es entspricht gutem Brauch, wenn derartige Qualifikationsarbeiten das "Licht der Welt erblicken" und nicht in irgendwelchen Gewölben von Archiven oder Bibliotheken ein abseitiges Dasein fristen. Ungewöhnlich ist im vorliegenden Fall jedoch, dass das Buch erst mit einer Verspätung von mehr als dreißig Jahren erscheint. Eine langwierige Krankheit des Verfassers, so ist dem Vorwort zu entnehmen, war dafür verantwortlich. Zu Recht darf sich also der Verfasser freuen, dass nunmehr die ehedem beabsichtigte Publikation vorliegt. Es erstaunt aber, dass die Veröffentlichung keine Einordnung in den aktuellen Forschungsstand enthält. Soll und muss deshalb der Leser davon ausgehen, dass der Inhalt des Werkes aus dem Jahr 1970 heute immer noch dem Stand der Wissenschaft unter den vorgegebenen Fragestellungen entspricht? Diese Vorgabe ist anzunehmen, zumal sich Adelmann früher mehrfach als Kenner des historischen Textilgewerbes ausgewiesen hat. Kaum eine Arbeit zum Thema, die nicht auf einen oder mehrere Aufsätze des Verfassers rekurriert.
Adelmann geht der leitenden Frage nach, wie die britische Herausforderung der Industrialisierung im Baumwollgewerbe auf dem Kontinent beantwortet wurde. Dazu beschreibt er in einem einleitenden Kapitel den Stand der Baumwollverarbeitung um 1750 im Untersuchungsgebiet, das von Minden-Ravensberg im Nordosten und dem Siegerland im Südosten bis zur Nordseeküste von Süd-Brabant (Belgien) bis Ostfriesland im Westen reichte. Hier waren es vor allem die Gebiete des "älteren Leinengewerbes", wo die Baumwollindustrie zuerst Fuß fasste. Für alle Teilregionen ermittelt der Verfasser faktenreich die vorindustrielle Ausgangslage und analysiert die Verbreitung des Baumwollgewerbes und dessen Produktionsziele in den Produktionsstufen Spinnen, Weben und Kattundrucken. Weiterhin erforscht Adelmann die Verflechtung und eigenständige Entwicklung (Differenzierung) dieser Regionen. Dabei berücksichtigt er im Einzelnen die Handelsbeziehungen, den personellen Austausch, die unternehmerische Expansion und den Technologie-Transfer zwischen den Regionen und bezieht zudem die staatliche Wirtschaftspolitik mit ein. In einem zweiten, kürzeren Kapitel stellt er die Industrialisierung im britischen Baumwollgewerbe dar, indem er die zunehmende Mechanisierung in der Baumwollspinnerei und -weberei sowie in der Kattundruckerei und die Durchsetzung des Fabriksystems zwischen 1780 und 1815 beschreibt und sie als wesentliche Kriterien für seine leitende Fragestellung begreift. Damit verschafft sich der Verfasser eine Folie, an der die erst später einsetzende Industrialisierung im Untersuchungsgebiet gemessen wird.
Wie die "Antworten" auf die britische Herausforderung ausfielen, stellt Adelmann im umfangreichsten Teil seiner Studie dar. Für jede Teilregion wird jeweils getrennt das Einsetzen der Mechanisierung und der Entwicklungsstand am Ende des Untersuchungszeitraumes in der Spinnerei, Weberei und der Kattundruckerei ermittelt. Gleichzeitig wird auch die Entwicklung des Fabriksystems berücksichtigt. Adelmann kommt zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass die Industrialisierung zuerst die Baumwollspinnerei und in Ansätzen die Kattundruckerei erfasste, während die nordwesteuropäische Baumwollweberei "in der vorindustriellen handwerklichen Produktionstechnik und heimgewerblichen Betriebsform" verharrte (164). Daneben bestanden in allen baumwollgewerblichen Segmenten und in allen Regionen weiterhin Manufakturen und Hausindustrie. Auf die Branche bezogen, kristallisierten sich als frühindustrialisierte Regionen der Raum Ratingen (Brügelmann) sowie das bergische und märkische Textilgebiet heraus. Deren weitere Entwicklung beeinträchtigte jedoch die napoleonische Wirtschaftspolitik. Dafür erfuhr das belgische Baumwollzentrum um Gent nach 1800 eine rasanten Aufstieg und erreichte zu Ende des Untersuchungszeitraums den "höchsten Grad der Industrialisierung" (164).
Die materialreich belegten Aussagen Adelmanns besitzen teilweise dreißig Jahre nach der Textabfassung weiterhin ihre Gültigkeit. Die Industrialisierung der einzelnen Produktionsstufen ist durch neuere Forschungsergebnisse nicht in Frage gestellt worden. Dafür stehen aber die Ergebnisse der Studie unter regionalen Aspekten auf dem Prüfstand. Adelmann operierte mit einem methodisch modern anmutenden regionalgeschichtlichen Zugriff. Nachfolgende Autoren haben unter ähnlicher Vorgehensweise und auf Basis einer wesentlich erweiterten Quellengrundlage Arbeiten vorgelegt, die seine Aussagen für einzelne Teilregionen präzisieren und korrigieren. So zählt nach einer umfassenden Studie zum Siegerländer Textilgewerbe [1] dieses Gebiet ebenfalls zu den frühindustrialisierten Regionen, in denen die Industrialisierung des Baumwollgewerbes nur unwesentlich später einsetzte als im Wuppertal. Derartige Ergebnisse erschüttern die grundsätzlichen Aussagen des Autors aber nicht.
Anmerkung:
[1] Thomas A. Bartolosch: Das Siegerländer Textilgewerbe. Aufstieg, Krisen und Niedergang eines exportorientierten Gewerbes im 18. und 19. Jahrhundert, St. Katharinen 1992.
Bernd D. Plaum