Rainer Mentel: Building Scotland's Church. Das erste Jahrhundert schottischer Kirchenbaukunst (1125-1200), Weimar: VDG 2002, 293 S., 117 s/w-Abb., ISBN 978-3-89739-281-6, EUR 34,40
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"Building Scotland's Church" von Rainer Mentel verdient als die erste Darstellung schottischer mittelalterlicher Kirchenbaukunst in deutscher Sprache erhöhte Aufmerksamkeit. Ist schon die Beschäftigung mit englischer Kunst des Mittelalters von Deutschland aus immer noch eine Besonderheit, so wirkt die Ausweitung des Interesses bis nach Schottland geradezu exotisch. Abgelegenheit und Weitläufigkeit dieses Teils der britischen Inseln, ruinöser Erhaltungszustand fast aller kirchlichen Großbauten (nur die Kathedralen von Glasgow und Kirkwall auf den Orkneys sind vollständig erhalten) sowie spärliche Quellenlage erschweren den Zugang. Um so höher ist die Leistung Mentels zu bewerten, der im Rahmen seiner Marburger Dissertation das Material gesichtet und es für Romanik und Frühgotik des 12. Jahrhunderts zu einer geschlossenen Abhandlung verarbeitet hat. Sein leitender methodischer Ansatz ist die enge Einbindung der Architektur in ihren historischen Kontext sowie die Architekturikonographie (20-22).
Der historische Kontext ist tatsächlich über Schottland hinaus als Modellfall von großem Interesse: In dem rückständigen und noch von keltischen Stämmen und Kirchenstrukturen dominierten Schottland gab es bis zum frühen 12. Jahrhundert keine steinerne großformatige Kirchenbaukunst. Erst mit der Machtübernahme durch die Canmore-Dynastie und der Politik Davids I. (1124-53) gelang die Angleichung an die westeuropäischen Feudalstaaten, insbesondere an das anglo-normannische Königreich, verbunden mit der Einführung einer römischen Kirchenstruktur. Dies führte zur Errichtung einer Vielzahl von Kathedralen, Klöstern und Pfarrkirchen, zumeist direkt vom Königshaus oder den von diesem eingesetzten, oft ausländischen Kirchenmännern und Adeligen gefördert. Es kann also von einer königlich, geradezu zentral gesteuerten Kirchenbaupolitik ausgegangen werden sowie von einem engen Zusammenhang zwischen Bauwerk und Auftraggeber. Entsprechend ausführlich erläutert Mentel die historischen Sachverhalte (23-51, 141-150, genealogische Tafel 13).
Die Bauten bespricht der Autor in annähernd chronologischer Abfolge. Er beginnt mit der als Ruine erhaltenen ersten Kathedrale beziehungsweise Schreinkapelle von St. Andrews, St. Rules (datiert in die Anfangsjahre des Bischofs Robert, 1124-59, 53-66), sowie der ersten Kathedrale von Glasgow (Stiftung 1114, Weihe 1136, 67-75), von der nur äußerst geringe Reste unter der bestehenden hochgotischen Kathedrale ergraben wurden, die Mentel aber inklusive Aufriss rekonstruiert. Diese "beiden Gründungsbauten der schottischen Romanik" (90) an den beiden zentralen Bischofssitzen werden als Ausdruck zweier "gegensätzlicher Bautraditionen" interpretiert: St. Rules verkörpert eine altertümliche, kastenförmige, angelsächsische Bauweise, Glasgow dagegen die "christliche Basilika" mit mehreren Schiffen und Staffelchor in der Nachfolge anglo-normannischer Sakralbauten. Im Zusammenhang mit Glasgow widmet sich Mentel auch ausgiebig der Augustiner-Abteikirche Jedburgh (begonnen um 1135) und deren hervorstechendem Merkmal im Chor, der 'Giant Order' (75-90) mit monumentalen, bis in die Empore aufragenden Rundpfeilern.
Anschließend widmet sich Mentel der Königsgrablege Dunfermline, 1070-89 von der Mutter König Davids, der heiligen Margaret, gegründet und 1128 zur Benediktinerabtei erhoben (92-118). Von dem um 1125 begonnenen Neubau stehen noch mehrere Joche des dreischiffigen Langhauses, die der Autor nicht in den Kontext der Kathedrale von Durham, sondern einer Tradition von ungewölbten "Rundpfeilerbasiliken" in Nordengland stellt, die sich durch eine horizontale, viaduktartige Schichtung der Geschosse ohne Vertikalgliederung auszeichnen (105-112).
Ein weiteres Kapitel behandelt die zerstörten Stiftungen Davids I.: die Augustinerkirchen Scone und Holyrood (120-124); die Kirche des zu den Reformorden zählenden und nur in Schottland florierenden Tironenserordens in Kelso (Baubeginn nach 1128, 126-130), nur der westliche Ansatz des Langhauses und das spätere Westquerhaus erhalten; die Zisterzienserbauten in Melrose und Dundrennan ( 131-134) sowie einige kleinere Kathedralbauten (125, 134-136) und Pfarrkirchen (136-140).
Unter Davids I. Enkel Wilhelm dem Löwen (1165-1214) begann wie in Nordengland die Rezeption der frühgotischen und zisterziensischen Architektur Frankreichs. Der Situation in Nordengland ist ein Exkurs gewidmet, der sich hauptsächlich auf die Forschungen von Christopher Wilson stützt (151-164). Dabei fällt auf, dass Mentel die kunsthistorischen Stilbegriffe weitgehend unkritisch verwendet und den Wandel von Romanik zu Gotik als "einschneidenden Bruch" (151) interpretiert, entgegen der heute gängigen Auffassung. Richtig ist dagegen die Definition einer "nordbritischen Frühgotik" (151-157), die auf die zu wenig beachtete Tatsache hinweist, dass sich die Architektur Nordenglands und Schottlands im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts in engem Austausch zu einem eigenständigen gotischen System entwickelte. Im Westquerhaus von Kelso, in dem der Autor zwei Bauphasen von ungefähr 1150/55 bis 1165 und um 1180 unterscheidet, stellt er die früheste Rezeption zisterziensischer und nordfranzösischer Bauformen fest und deutet diese für Schottland ungewöhnliche Anlage als Grablege des 1152 dort bestatteten Kronprinzen Heinrich (165-187).
Sehr ausführlich bespricht Mentel die Kathedralneubauten von St. Andrews (ab 1162, 190-241) und Glasgow (ab 1181, Weihe 1197, 242-261), für die er den angesichts der Dimensionen und des Erhaltungszustandes erstaunlichen Anspruch erhebt, sie "zählten zusammen mit Sens, Notre-Dame in Paris, Laon, Noyon und Soissons zu den bedeutendsten Kathedral-Bauwerken der Frühgotik" (189). Von St. Andrews sind die Ostwand, Teile des Nordquerhauses und der Langhausnordwand sowie der Westfassade aus den 1270er-Jahren noch existent, von Glasgow nur ein winziges Wandstück in der Krypta. St. Andrews wird dennoch als eine in Schottland und England einmalige viergeschossige Anlage analog zu St.-Remi in Reims rekonstruiert, der Chorneubau in Glasgow als von zisterziensischen Bauformen bestimmt.
Die Untersuchung schließt ein Ausblick auf die Baukunst des späten 12. und frühen 13. Jahrhunderts ab, die sich nun am etablierten System des 'Early English' orientiert (261-268). Die Unabhängigkeit des schottischen Königreichs und der schottischen Kirche von England war erreicht, sodass einer "vorbehaltlosen Öffnung" gegenüber der englischen Baukunst nichts mehr im Wege stand. In den Worten des Autors "wird ein grundlegend verändertes Rezeptionsverhalten der schottischen Bauunternehmungen sichtbar", und es "entfällt die ikonographische Inanspruchnahme der Architektur" (267 f.).
Dies führt zu den grundsätzlichen Problemen der in ihrem weitgespannten Anspruch durchaus verdienstvollen Arbeit. Mentel vertritt in nahezu extremer Weise die Methode der Architekturikonographie. Jedes der besprochenen Bauwerke wird mit einer Vielzahl von zum Teil weit entfernten Vorbildern verknüpft und diese Rezeptionen mit inhaltlichen und historisch-politischen Aussagen verbunden. Die vom Autor konstruierten Verbindungen reichen bis zum Heiligen Römischen Reich (im Falle von Glasgow, Dunfermline oder Kelso), dessen Doppelchöre und Westbauten in überholter Weise als Ausdruck kaiserlicher Herrschaftsikonographie bewertet werden. Ein von Mentel bevorzugtes Verfahren, um Vorbildbauten zu identifizieren und mit diesen auch gleich auf eine gemeinsame Bauhütte zu schließen, ist das Übereinanderblenden von Grundrissen sowie Fotomontagen der zu vergleichenden Bauten. Die meist sehr schematischen Grundrisse aber sowie die Montagen aus Fotos und Aufriss-Zeichnungen werden nicht nur ohne Quellen-, sondern auch ohne Maßangaben abgebildet, sodass die behaupteten Analogien nicht nachprüfbar sind und schwere Bedenken angesichts einer solchen Methode bestehen bleiben. Gerade Proportionsverhältnisse dürfen nach wissenschaftlichen Standards nur aus sehr genauem und verlässlichem Planmaterial gewonnen werden.
Mentels architekturikonographisches Verfahren gipfelt in der Interpretation einer "Bezugnahme auf frühgotische Architektur im Chor von St. Andrews als ein Anschluss an die französischen Reformideale" (241), dem in Glasgow "das unveränderte Festhalten an... zisterziensischen Vorbildern" entspricht, das der "Verbundenheit mit der kirchlichen Reformbewegung eine architektonische Bestätigung [verlieh] und... dem reformorientierten Papsttum die Loyalität der schottischen Kirche [versicherte]" (257). Die schottischen Canmores knüpften zwischen 1168-73 Kontakte zu den französischen Königen, denen Mentel ein nicht weiter belegtes "Bündnis mit der kirchlichen Reformbewegung" unterstellt, und mit dieser Unterstützung wurde 1174 erreicht, dass Alexander III. 1174 die schottische Kirche zur 'filia specialis' erhob (145-150, 241, 256, 260).
So interessant dieser historische Kontext ist, so wenig findet Mentels Verknüpfung mit der schottischen Architektur eine Grundlage im tatsächlichen Baubefund. Im Falle von St. Andrews und Glasgow wurde auf den geringen Erhaltungszustand bereits hingewiesen. Der angeblich französisch inspirierte viergeschossige Aufriss von St. Andrews wird allein auf Grund von Vergleichen mit ebenso angeblichen Nachfolgebauten rekonstruiert, die allesamt dreigeschossig, nicht durch Quellen datiert und ebenso ruinös wie St. Andrews sind. Den Beleg für den frühgotischen viergeschossigen Aufriss bildet ein Ansatz des Langhauses aus dem 13. Jahrhundert (!), dargestellt in einem Stich aus dem 17. Jahrhundert mit unklarer Quellenangabe (John Sleezer (1979)?, 221f.) sowie einem "historisches Foto", das nicht abgebildet ist (222).
Jede Untersuchung schottischer mittelalterlicher Architektur hat das Problem, dass fast alle Bauten nur als Ruinen oder Ausgrabungen auf uns gekommen sind. Um so wichtiger ist eine genaue und zuverlässig überprüfbare Analyse des Baubefundes als Grundlage jeder Rekonstruktion. Diese Analysen fehlen jedoch in Mentels Untersuchung größtenteils, und die baugeschichtlichen Ausführungen sind häufig nicht nachvollziehbar oder nicht an der gängigen mittelalterlichen Praxis orientiert. So fällt zum Beispiel auf, dass der Autor häufig einen ursprünglich zweigeschossigen Aufriss rekonstruiert, dem erst nach einem Planwechsel ein Obergaden aufgesetzt wurde (Jedburgh, Kelso, St. Andrews), anstatt von einem langsamen Bauprozess auszugehen, der bei den in Schottland spärlich fließenden Geldmitteln vorausgesetzt werden kann.
Als gravierender Mangel macht sich für den Leser, der Baubefunde überprüfen will, die sehr schlechte Bildqualität des Buches bemerkbar. Die kleinen, in den Text integrierten Fotos sind so grob gerastert, dass Details nicht zu erkennen sind, in den Plänen verspringen die Linien, und oft sind die Bildlegenden nicht lesbar. Sind solche Mängel auf Grund der heutzutage ausbleibenden Druckkostenzuschüsse vielleicht unvermeidbar, so ist es der ungenaue Umgang mit den Schriftquellen nicht. Immer wieder vermisst der Leser das Zitieren angeführter Quellen (75, 96, 118, 127), deren Analyse generell in Ergänzung zum Baubefund die solide Grundlage jeglicher Bauinterpretation bilden sollte.
Enttäuschend ist auch, dass wichtige, über Schottland hinausweisende Fragen wie nach Genese und Funktion des nordbritischen Chortypus des 'aisled rectangle' mit hochaufragendem Mittelschiff im Gegensatz zum südenglischen rechteckigen Umgangschor oder nach einer schottischen Sakraltopografie in Form eines Pilgerweges zu den Apostelreliquien in St. Andrews als Analogie zum französisch-spanischen Jakobsweg nicht behandelt werden (nur ein Hinweis 121). So werden leider die Verdienste dieser Studie, die zum ersten Mal die schottische mittelalterliche Architektur in umfangreichem Maß für den deutschen Sprachraum erschließt, durch allzu viele und zu wenig untermauerte Spekulationen beeinträchtigt.
Ute Engel