Ashraf Noor / Josef Wohlmuth (Hgg.): 'Jüdische' und 'christliche' Sprachfigurationen im 20. Jahrhundert (= Studien zu Judentum und Christentum), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2002, 306 S., ISBN 978-3-506-72360-4, EUR 40,00
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Der vorliegende Sammelband ist ein erstes - und profiliertes - Ergebnis des an der Universität Bonn angesiedelten Sonderforschungsbereichs "Judentum - Christentum: Konstituierung und Differenzierung in Antike und Gegenwart". Es handelt sich dabei um das Ergebnis eines Symposions zum "Verhältnis von jüdischem Denken und christlicher Theologie im 20. Jahrhundert", das im Jahr 2000 an der Hebräischen Universität zu Jerusalem in Kooperation mit dem Franz Rosenzweig Forschungszentrum durchgeführt wurde. Renommierte Wissenschaftler aus Israel und Europa reflektieren darin das Verhältnis von Judentum und Christentum in einer produktiven Auseinandersetzung mit den zentralen jüdischen Denkern des 20. Jahrhunderts: Emmanuel Lévinas (die Beiträge von Stéphane Mosès, Bernhard Waldenfels, Hent de Vries, Peter Welsen), Franz Rosenzweig (die Beiträge von Bernhard Casper und Francesca Albertini), Walter Benjamin (die Beiträge von Irving Wohlfarth und Werner Hamacher) und Jean-François Lyotard (der Beitrag von Eberhard Gruber).
Die anspruchsvolle Frage des Bandes gilt der Bezüglichkeit von jüdischem Denken und christlicher Theologie im 20. Jahrhundert. Alles andere als einfach ist dieses Verhältnis nicht nur in seiner Logik, nämlich in der jeweiligen Verschränkung von Außensicht und Innensicht, sondern auch und vor allem in seiner historischen Situierung nach der Katastrophe des 20. Jahrhunderts, die zwar nicht "einzigartig" ist, wie Zwi Werblowsky in seinem grundlegenden Einführungsreferat betont, aber doch im jüdischen wie christlichen Denken des 20. Jahrhunderts eine unübersehbare Zäsur hinterlassen hat. Allerdings ist es eine Zäsur - so machen die Beiträge des Bandes insgesamt deutlich -, die ein religionsphilosophisches Denken von jüdischer wie christlicher Seite eher verbindet als trennt, liegt doch das Andere jener Zäsur in einer enttheologisierten und bloß instrumentellen Vernunft (wie mit Adorno / Horkheimer argumentiert werden kann).
Davon ausgehend zeigt der Band, dass sich jüdische Denker, wie etwa Franz Rosenzweig, ebenso konstruktiv durch christliche Theologie haben herausfordern lassen, wie dies seit einigen Jahren christliche Theologen tun, die sich ihrerseits gerne von jüdischen Denkern "herausfordern" lassen (vergleiche insbesondere den Beitrag von Bernhard Caspar, "Die Herausforderung des christlichen Denkens durch Franz Rosenzweig"). So scheint denn in einer Zeit, wo 'jüdisches Denken' wie auch 'christliche Theologie' nicht mehr geschlossene oder dogmatische beziehungsweise religiös begründete Wahrheitsansprüche stellen, ein dialogischer Austausch zwischen den beiden monotheistischen Religionen möglich, ein Austausch genauer, der das Gegenüber, den "Anderen", in seiner Andersheit zu respektieren versucht. Nicht zufällig wird deshalb in diesem Band dem ethischen Modell von Emmanuel Lévinas, das den Begriff des "Anderen" in diesem Sinne zugrunde legt, eine besondere Aufmerksamkeit gezollt. Die These der "Andersheit des Anderen beim späten Lévinas" (Bernhard Waldenfels) erweist sich geradezu als die ethische Prämisse, mit der dieser neue jüdisch-christliche Dialog auch angesichts der Shoah geführt werden kann.
Eine solche Ethik, die letztlich eine Ethik der Differenz - nicht der Identität - ist, wird freilich den Blick nicht nur auf harmonische Dialoge richten, sondern auch auf Konflikte, auf das Phänomen des Krieges etwa, den Lévinas geradezu als das "Wesen der Geschichte" (51) begreift, wie Stéphane Mosès in seiner Analyse von Lévinas' "Totalität und Unendlichkeit" deutlich macht. Lévinas versteht den Krieg dabei allerdings weniger historisch, sondern als eine Art metaphysisches Prinzip, das die Totalität gegen die Subjektivität umsetzt. Konkreter zeigt sich dies an Lyotards Imperialismus-Vorwurf an das Christentum beziehungsweise an die paulinische Theologie, durch den sich Eberhard Gruber herausfordern lässt. Gruber aber widerspricht diesem Vorwurf, indem er Lyotards Konfrontationskurs einen an Rosenzweig angelehnten "Stern der Verbrüderung" entgegenhält und zu zeigen versucht, dass sich die Figuren Abraham und Jesus Christus ergänzen und nicht etwa widersprechen.
Ein etwas anders gelagertes Interesse verfolgt der lange Aufsatz von Irvingh Wohlfarth "Nihilistischer Messianismus. Zu Walter Benjamins Theologisch-politischem Fragment". Hier tritt die Frage nach dem Verhältnis von jüdischem und christlichem Denken gegenüber derjenigen nach der Präsenz jüdischer Theologumena bei modernen jüdischen Philosophen - eben Benjamin - zurück. Dabei rekapituliert Wohlfarth die schon des Öfteren diskutierte Frage nach der Präsenz jüdischer Mystik und messianischer Denkfiguren bei Benjamin und wirft somit im Grunde die Frage der Säkularisation auf, indem er - letztlich in Scholems Spuren - Benjamins jüdisches Denken auf den paradoxalen Gehalt eines "nihilistischen Messianismus" zuführt.
Eine neue Perspektive bietet dagegen Werner Hamachers Blick auf Benjamins These des "Kapitalismus als Religion", wobei er - ausgehend von Anaximanders Verständnis der Zeit als Schuld - die Fragen der Schuld und Buße zugleich moralisch, ökonomisch und juristisch liest. Von hier aus ergibt sich laut Hamacher erneut eine Differenzierung zwischen einer christlichen und einer jüdischen Interpretation der Schuld: Während in christlicher Sicht - in der Lehre der Erbsünde - die Schuld an die Zeit gebunden ist und das Christentum sich letztlich geradezu als Religion der "Schuldökonomie" verstehen lässt, stellt sich Benjamin die Frage nach einer Befreiung von der Schuld. Nach Hamacher ist dieser Zustand letztlich nur in einer Schöpfung ohne die Kategorie Gott möglich. Dagegen wäre an dieser Stelle allerdings auch ein Rekurs auf das Konzept der "messianischen Zeit" möglich und gewiss fruchtbar gewesen; schon die Idee des Halljahres verweist auf das Konzept einer anderen Zeit, in der die Schuld aufgehoben ist, und dass Benjamin gerade auf dieses messianische Zeitkonzept zurückgreift, haben Wohlfarth und vor allem Mosès wiederholt gezeigt.
Der Band will laut Titel jüdische und christliche "Sprachfigurationen" untersuchen. Das ist allerdings ein unnötig angestrengter Begriff, der im präzisen Sinne nur für den Beitrag von Francesca Albertini über "das Verb 'sein' im hebräischen und griechischen Denken" zutrifft, ansonsten allenfalls für einzelne semiotische Überlegungen (etwa bezüglich Lyotard). Zutreffender müsste dagegen von "Denkfiguren" die Rede sein, denn um diese geht es stets, auch da, wo sie an "sprachlichen Phänomenen" (11) gezeigt werden, also selbst bei Albertini. Doch das ist letztlich Kosmetik für einen Band, der eine Reihe von sehr anspruchsvollen philosophisch-theologischen Aufsätzen zu einer nicht weniger anspruchsvollen Fragestellung versammelt.
Andreas Kilcher