Ulrich Fürst: Die lebendige und sichtbahre Histori. Programmatische Themen in der Sakralarchitektur des Barock (= Studien zur christlichen Kunst; Bd. 4), Regensburg: Schnell & Steiner 2002, 446 S., 78 Abb., ISBN 978-3-7954-1504-4, EUR 84,00
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Zu lange hat sich die Architekturgeschichte damit zufrieden gegeben, lediglich die äußerlichen Erscheinungsformen der Baukunst zu erforschen. Ehemals entstanden als blasser Gehilfe der Architektenausbildung, war sie zunächst nur an der Formanalyse historischer Bauten interessiert, da es galt, vor allem den Architekten des 19. Jahrhunderts die korrekten historischen Stilelemente zu liefern.
Als die Architekturgeschichte im Laufe des 20. Jahrhunderts von den Architekten nicht mehr benötigt wurde, benahm sie sich mehr und mehr wie die kleine Schwester der Kunstgeschichte, das heißt der Geschichte der Malerei. Genau wie in der Malerei war man nun auch hier auf der Suche nach den großen Genies der Architektur und bemühte sich eifrig, die Architektur so genau wie möglich den Stilen der Malerei zuzuordnen. Denn ohne Stilgeschichte gäbe es keine wissenschaftliche Kunstgeschichte, dachte man. Der Wandel der Architekturstile mit der Zeit wurde von vorneherein als etwas Selbstverständliches hingenommen, als handele es sich bei der Kunst um einen lebendigen Organismus, der sich im Laufe der Zeit selbstständig weiterentwickele. Nur Unbestimmtes wie "Zeitgeist" oder "Volksempfinden" oder - noch extremer - "Nationaltugenden" vermochten diesen autonomen Gang der Baustile zu lenken, so schien es lange Zeit.
Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hat in dieser Hinsicht viele neue Erkenntnisse hervorgebracht, die nicht nur das "wie", sondern mehr noch das "warum" der Architektur beleuchten. Dieses Interesse in der Deutung der Baugestalt stellt nicht den Zeitstil oder den einzelnen, genialen Architekten in den Mittelpunkt der Forschung, sondern den Auftraggeber und dessen Ambitionen. Denn die verschiedenen Erscheinungsformen der Baukunst werden hier nicht erklärt anhand des Modells der zeitgebundenen Baustile, sondern anhand einzelner Personen oder Personengruppen, die bestimmte Absichten mit ihrem Auftrag verbanden. Diese neuen Fragen und Methoden der Bau-Ikonologie wurden zunächst anhand der mittelalterlichen Baukunst erprobt, und später wurden sie auch auf Werke späterer Epochen angewandt. Für eine überzeugende historische (kirchen-)politische Deutung der Sakralarchitektur reicht es jedoch nicht aus, die politischen Ambitionen der Bauaufträger zu kennen, und diese ohne weiteres als Sinngeber der Architektur vorzustellen. In verschiedenen Publikationen zu diesem Thema fehlt der überzeugende Beweis: die These bleibt auf Grund eines Mangels an historischen Quellen (oder der Berücksichtigung dieser), die das Bauprogramm und die Ambitionen des Auftraggebers eindeutig miteinander in Bezug setzen können, ein schöner Gedanke.
Das neue Buch von Ulrich Fürst über programmatische Themen in der Sakralarchitektur des Barock führt hier vor, wie die Architektur-Ikonologie im besten Sinn angewandt werden kann und wie man zu wirklichen neuen Erkenntnissen gelangt. Das zentrale Thema der Untersuchung ist der Sinngehalt und die Bedeutung sakraler Architektur des 18. Jahrhunderts in Böhmen und Österreich. Eine historiografische Einführung in das Problem des Verhältnis von Form und Bedeutung in der Architekturgeschichte des Barock zeichnet die methodische Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, von Bandmann und Forssman, über Sedlmayr, Hubala und Matsche bis zu zeitgenössischen Beiträgen zu dieser Diskussion von Lorenz und Polleross auf und verortet die Position des Autors.
Das zweite Kapitel, bei weitem das kürzeste, stellt eine Schlüsselstelle der Untersuchung dar, denn hier werden die wichtigsten historischen Aussagen zu dieser Problematik vorgestellt und erklärt, durch Texte von Leonhard Christoph Sturm und Karl Eusebius von Liechtenstein, dessen Zitat über die " lebendige und sichtbahre Histori" Ulrich Fürst zutreffend als Titel seines Buches gewählt halt.
Es folgen fünf Kapitel, in denen jeweils ein hochrangiges Beispiel sakraler Baukunst bis ins Detail vorgeführt und interpretiert wird. Diese fünf Beispiele sind so gewählt, dass das vielseitige Spektrum der damaligen Welt der religiösen Institutionen und deren Auftraggeber veranschaulicht werden kann. Es sind die Salzburger Kollegienkirche (1696-1707, Architekten J.B. Fischer von Erlach und Johannes Grabner), die Peterskirche in Wien (1702-1712, Architekt Gabriele Montani u.a.), die Klosterkirchen in Kladruby (Kladrau, 1712-1726) und in Rajhrad (Großraigern, 1721-1729) und die Wallfahrtskirche des Sankt Johann Nepomuk auf dem Grünen Hügel beim Zisterzienserkloster von Źdár (Saar, 1719-1722).
Die letzten drei Beispiele stammen alle von demselben Architekten, Johann Santini Aichl (1677-1723). Diese Tatsache macht dieses Buch nebenbei zu einer wichtigen Ergänzung zu dessen Biografie, ohne aber den thematischen Blickwinkel des ganzen Buches zu stören. Die Salzburger Kirche zeigt das Programm der "Sapientia Divina", wie man es von einer Universitätskirche auch erwarten kann. Sankt Peter in Wien ist von den politischen Ansprüchen des habsburgischen Kaisers geprägt, die mit Blick auf den Spanischen Erbfolgekrieg zu dieser Zeit in Österreich höchst aktuell waren. Das alles wird sehr überzeugend und reichlich dokumentiert dargestellt, aber ganz unerwartet sind diese Schlussfolgerungen nicht. Die interessantesten Beispiele bieten die drei Werke Santinis, von denen zwei in der traditionellen Kunstgeschichte als "Barockgotik" geführt werden, und eine, die Klosterkirche in Rajhrad, als "klassischer Hochbarock" fungiert. Gerade diese Gegenüberstellung so verschiedener Stile im œuvre eines Architekten zeigt erst richtig die Notwendigkeit der Entschlüsselung von Sinngehalt und Bedeutung.
Durch klare Analyse der Architektur und der Baugeschichte und Darlegung des historischen Kontexts dieser Klöster und der Position der jeweiligen Äbte, Pröpste oder Prälaten, wird überzeugend geklärt, dass sich die Architektur des Klosters zu Rajhrad ganz bewusst dem "kaiserlichen" Stil Wiens anpasst, und weshalb das bei den beiden anderen Beispielen gerade nicht der Fall ist. Der Kaiser war der Schutzherr des Klosters Rajhrad und zu dieser Zeit brauchte man im Kloster dessen aktiven Schutz in einem bedrohlichen kirchenrechtlichen Konflikt. Im Beispiel von Sankt Peter zu Wien hat der Autor seine Meinung über den Unterschied zwischen dem alten Begriff des "Reichsstils" und seiner Interpretation eines "Kaiserstils" ausführlich erläutert. Ganz in diesem Sinne verkörpert die "kaiserliche" Architektur die zeitgenössische Haltung des Propstes.
Die Stilvielfalt in der Architektur Santinis wurde vor einigen Jahrzehnten noch erklärt, als wäre sie die Folge eines wechselnden Geschmacks des Architekten. Ulrich Fürst zeigt in seinem Buch, wie auch dieser Stilwandel in den verschiedenen jeweiligen Ambitionen der Auftraggeber Begründung findet. Denn die gotisierenden Lösungen in Kladruby und in Źdár darf man nicht weniger kalkuliert nennen als den "Kaiserstil" in Rajhrad. In Kladruby handelt es sich um einen Umbau eines alten, mittelalterlichen Klosters. Das neue, raffinierte Netzgewölbe von Santini ist immer schon mit dem des Wladislawsaals der Prager Burg verglichen worden. Die Wallfahrtskirche auf dem Grünen Hügel zu Źdár wurde als vollkommen neuer Zentralbau errichtet, fünfeckig mit gotischen Details. Auch zum Thema dieser böhmischen "Barockgotik" Santinis gibt der Autor einen Forschungsüberblick als Einführung zum Kapitel über Kladruby. Kurz gesagt referiert er verschiedene ältere Erklärungen: Es handele sich entweder um ein unbewusstes Weiterleben traditioneller Bauformen, also um eine Art von "Nachgotik", oder um eine frühe Art romantischer Neugotik.
Die zeitgenössischen Aussagen über die "more Gothico" machen uns klar, dass es sich hier eher um eine eigene, "moderne Gotik" handelt. Diese ganz bewusste Entscheidung, sich der historischen Architektur einer älteren Epoche anzuschließen lässt sich erklären aus der Geschichtsauffassung und den Ambitionen der geistlichen Bauherrn des 18. Jahrhundert. Die Architektur des Klosters Kladruby sollte seinen Rang als königliche böhmische Stiftung verdeutlichen. Im Zeitalter, wo Rang vorerst nach Anciennität gemessen wurde, war die Verwendung gotisierender Bauformen und Gewölbe des Umbaus von Kladruby ein politischer Akt. Der fünfeckige Zentralbau von Źdár geht aber nicht auf einen Vorgängerbau zurück. Der sternförmige Plan der Kapelle ist zu erklären aus der Johannes Nepomuk Ikonographie, in der Lichtsymbolik und Sterne eine besondere Rolle spielen. Die gotisierenden Details dieser höchst originellen Schöpfung sollen auf die christliche Einheit der Kirche hinweisen, also auf jene Zeit vor den Glaubensspaltungen der Hussiten.
Das Buch von Ulrich Fürst liefert einen wichtigen Beitrag für ein besseres Verständnis der Sakralkunst in Mitteleuropa, in der das ikonographische Programm nicht beschränkt auf Deckenfresken und Altargemälde bleibt, sondern in dem auch die Stile der Architektur selber, des Bauschmucks und der Formen, als Bedeutungsträger vorgezeigt werden. Dank der reichen Quellen, die tatsächlich etwas aussagen über die zeitgenössische Interpretation dieser Bauten, wird uns klar, dass die Regie in einem solchem teatrum sacrum nicht auf das Bühnenbild beschränkt geblieben ist, sondern dass der ganze Kirchenraum in der Darstellung der "lebendige und sichtbare Histori" miteinbezogen ist.
Konrad Ottenheym