Gerd Althoff: Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt: Primus Verlag 2003, 256 S., ISBN 978-3-89678-473-5, EUR 24,90
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Die Begegnung der Mächtigen vor der Öffentlichkeit war nicht nur im Mittelalter häufig durch rituelles Verhalten geprägt. Während man lange Zeit Quellenstellen zu solchen Begegnungen achtlos überlas und die beschriebenen Vorgänge als starres Zeremoniell oder leeres Ritual abtat, sieht man neuerdings durch symbolisches Handeln die vormoderne soziale, politische und rechtliche Ordnung nicht bloß abgebildet, sondern geradezu konstituiert.
Die deutsche mediävistische Forschung zur symbolischen Kommunikation von Herrschaftsträgern erbrachte in den letzten Jahren reichhaltige Erträge. Diese gehen zu einem nicht geringen Anteil auf Gerd Althoff zurück, sei es als Autor, sei es als Wissenschaftsorganisator. Seine zahlreichen Aufsätze zum Thema füllen zwei für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft zusammengestellte Bände (1997: "Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde" und 2003: "Inszenierte Herrschaft. Geschichtsschreibung und politisches Handeln im Mittelalter"). Gleich zweimal (1996 und 1997) brachte Althoff den Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterforschung zu Tagungen über "Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter" auf der Reichenau zusammen, deren Akten er 2001 im 48. Band der "Vorträge und Forschungen" herausgeben konnte. Seit 1999 ist Althoff Sprecher des Münsteraner Sonderforschungsbereichs "Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur französischen Revolution", bei dem er selbst das Teilprojekt "Konflikt- und Friedensrituale im Spätmittelalter" leitet. Überdies ist Althoff für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft Mitherausgeber der Schriftenreihe "Symbolische Kommunikation in der Vormoderne".
In dieser Reihe ist im letzten Jahr die Münchner Dissertation der Germanistin Corinna Dörrich erschienen ("Poetik des Rituals. Konstruktion und Funktion politischen Handelns in mittelalterlicher Literatur"), die ausgehend von Beispielen aus der höfischen Epik von literarhistorischer Seite den Blick auf die symbolische Kommunikation im Herrschaftsraum lenkt. Das Gegenstück aus dem Blickwinkel historiographischer Quellen bietet die hier zu besprechende Monografie von Althoff. Schon seit einem Jahrzehnt treibt ihn immer wieder die Frage um: "Wie funktioniert Herrschaft ohne schriftlich fixierte Normen?" (so der Untertitel des Aufsatzes "Ungeschriebene Gesetze" in der oben angesprochenen Aufsatzsammlung von 1997). Auf diese für die Verfassungsgeschichte so wichtige, aber bislang kaum gestellte Frage gibt Althoff nun überzeugende Antworten.
Althoff setzt sich in seinem Buch "drei Beweisziele" (188): Erstens und vorrangig geht es ihm "um den Nachweis, dass in den Zeiten des Mittelalters Herrschaftsrituale 'gemacht'", dass sie also durch Verhandlung, Absprache und Planung bewusst konstruiert wurden; zweitens will er zeigen, dass Rituale "eine Geschichte haben wie andere Phänomene auch", dass sich rituelles Verhalten beispielsweise ändert, wenn sich die Machtverhältnisse ändern; drittens geht es ihm "um den Stellenwert, den Rituale für die Technik und Praxis von Machtausübung im Mittelalter besaßen" - von Ritualen ging eine Macht aus, der sich die Teilnehmer kaum entziehen konnten, Rituale führten Rangunterschiede sinnfällig vor Augen und konnten bei anerkennender Teilhabe ordnungsstabilisierend wirken.
Althoff erreicht die drei Beweisziele durch eine chronologisch geordnete Betrachtung symbolischer Kommunikationsakte von mittelalterlichen Herrschaftsträgern. Freilich verspricht der Untertitel "Symbolik und Herrschaft im Mittelalter" mehr, als der Autor einzulösen vermag. Althoffs Domäne ist das Hochmittelalter. Für die knappe Behandlung der frühmittelalterlichen Zeit (32-67) kann Althoff die Quellenarmut (32) und die These von der allmählichen Entfaltung der rituellen Ausdrucksformen in einem "Lernprozess" (38) geltend machen; die mit 16 Textseiten weniger als halb so umfangreichen "Ausblicke ins Spätmittelalter" (170-186) fallen sehr bescheiden aus.
Dabei weiß Althoff um den "fortdauernden, ja wachsenden Stellenwert" ritueller Formen im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (170). Er sieht sich aber aus pragmatischen Gründen zu einem Schnitt im 13. Jahrhundert gezwungen, da die Vielfalt der spätmittelalterlichen Phänomene von einem einzigen Bearbeiter nicht mehr sinnvoll zu behandeln sei. Welche Erkenntnischancen die reichere Überlieferung der folgenden Jahrhunderte für die Erforschung der symbolischen Kommunikation bietet, zeigt die im letzten Jahr erschienene umfangreiche Stuttgarter Dissertation von Gerrit Jasper Schenk ("Zeremoniell und Politik. Herrschereinzüge im spätmittelalterlichen Reich").
Althoff folgt bei seiner Beschreibung des Phänomens der "Macht der Rituale" einem entwicklungsgeschichtlichen Modell. Das Treffen von Papst Stephan II. und dem gerade mit päpstlicher Hilfe zum König erhobenen Pippin in Ponthion 754 ist für ihn "so etwas wie eine Initialzündung", die den "Siegeszug ritueller Kommunikation einleitete oder zumindest beschleunigte" (67). Für das ausgehende 9. und 10. Jahrhundert konstatiert er einen höheren "Bedarf an Ritualen", der zu einer "Ausbreitung ritueller Verhaltensmuster im 10. und 11. Jahrhundert" geführt habe (68); "die Barfüßigkeit, das Büßergewand, der Fußfall und der Fußkuss als rituelle Ausdrucksformen der Selbsterniedrigung", die sich erst "seit dem endenden 10. und in signifikanterer Dichte dann im 11. Jahrhundert" fänden, seien als "neue Entwicklungsstufe" anzusprechen (105).
Das Ritual der königlichen Selbstdemütigung, das von Heinrich IV. "inflationär" (125) gebraucht worden sei, habe allerdings ein "ziemlich abruptes Ende" insbesondere durch dessen Bußgang in Canossa gefunden (108). Dieser habe nach Althoff zu einer "doch tiefgreifenden Neuorientierung bei der Gestaltung rituellen Verhaltens im Bereich der Herrschaft im 12. Jahrhundert" geführt (136). Beeinflusst durch normannische Traditionen seien in staufischer Zeit Strenge, Härte und Gerechtigkeitssinn in der symbolischen Kommunikation stärker in den Vordergrund getreten gegenüber der früher obwaltenden Milde (156).
Obwohl Althoff am Ende seines Buches betont, dass "Rituale Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse waren" (203), sucht er die Gründe für die genannte Entwicklung weitgehend immanent in der politischen Herrschaftsgeschichte und verzichtet auf eine Engführung mit anderen gleichzeitigen kulturellen Erscheinungen (beispielsweise mit der Kirchenreform oder der Mönchsbewegung, die durch neue liturgische Zeremonien Vorbilder bereitstellten).
Althoff versagt es sich, "den vielen Definitionen von 'Ritual' eine neue hinzuzufügen", was zu bedauern ist, da nicht jede Definition gleich mit dem Anspruch auftreten muss, "für alle bisher unter diesen Begriff subsumierten Erscheinungen gültig zu sein" (12). Nachdem Althoff die Begriffe 'Ritual', 'symbolische Handlung / Kommunikation', 'Zeremoniell', 'Inszenierung' nebeneinander benutzt, ohne sie in dem Kapitel "Begriffliche Annäherungen" (10-14) voneinander abzugrenzen, nimmt er eine gewisse begriffliche Unschärfe bewusst in Kauf.
An zahlreichen Stellen räumt Althoff ein, dass die in der Historiographie gebotenen Erzählungen über Herrscherrituale fiktional sein könnten (41, 86, 88, 92, 96, 109, 187), macht aber geltend, dass die Fiktionen auf einen hohen Stellenwert vergleichbarer ritueller Verhaltensmuster in der Realität verweisen dürften (41). Allerdings ergeben sich insbesondere im Hinblick auf seine "Arbeitshypothese, dass mit Ritualen Macht ausgeübt wurde" (31), da Zweifel, wo es sich nur um literarische Inszenierung auf dem Pergament handeln sollte.
Als Kritikpunkt wäre anzuführen, dass nach der klärenden Untersuchung Hartmut Boockmanns "Über einen Topos in den Mittelalter-Darstellungen der Schulbücher: Die Lehnspyramide" [1] ein Satz nicht mehr wie der Folgende beginnen sollte: "Der mittelalterliche König wie der Lehnsherr auf den verschiedenen Stufen der Lehnspyramide [...]" (16). Die wenigen Illustrationen, zu denen kein Verzeichnis führt, werden leider nicht in die Interpretation eingebunden.
Trotz der genannten Kritikpunkte gelingt es Gerd Althoff dank seiner stupenden Quellenkenntnis, die vielfältigen Formen symbolischer Kommunikation von Herrschaftsträgern im Hochmittelalter an den wichtigsten historiographischen Beispielen plastisch vor Augen zu führen. Seine zentralen Thesen über die Konstruktion der Rituale, ihre Geschichtlichkeit, ihre Macht und die daraus abgeleiteten Funktionen werden in gut lesbarer Form überzeugend dargestellt.
Anmerkung:
[1] Zuerst 1992, jetzt in: Hartmut Boockmann: Wege ins Mittelalter. Historische Aufsätze, hg. von Dieter Neitzert / Ernst Schubert / Uwe Israel, München 2000, 343-352.
Uwe Israel