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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Manfred Hildermeier / Jürgen Kocka / Christoph Conrad (Hgg.): Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Geschichte, Chancen, Frankfurt/M.: Campus 2000
Detlef Brandes: Der Weg zur Vertreibung 1938-1945. Pläne und Entscheidungen zum "Transfer" der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen. Vorwort von Hans Lemberg, München: Oldenbourg 2001
Tim Blanning / Hagen Schulze (eds.): Unity and Diversity in European Culture c. 1800, Oxford: Oxford University Press 2006
Moritz Csáky: Das Gedächtnis Zentraleuropas. Kulturelle und literarische Projektionen auf eine Region, Wien: Böhlau 2019
Etienne François / Uwe Puschner (Hg.): Erinnerungstage. Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München: C.H.Beck 2010
Die "Deutschen Erinnerungsorte" sind in kürzester Zeit und zu Recht zur Pflichtlektüre für alle an Deutschland und seiner Geschichte Interessierten geworden: 2002 erschien die bereits vierte Auflage des voluminösen Werkes. [1] Die Mehrzahl der knapp 120 Essays hat das 19. und 20. Jahrhundert zum Gegenstand. Ein Fünftel der Autoren sind Nicht-Deutsche, was unter anderem mit dem Bemühen der Herausgeber zusammenhängt, "Deutschland in seinen europäischen Verknüpfungen" bzw. "den Blick von außen in seinem Wechselspiel mit dem Blick von innen" zu zeigen. In einigen wenigen Beiträgen in Band 1 geht es auch um "geteilte Erinnerungsorte, [...] die für Deutschland wie für benachbarte Nationen gleichermaßen bedeutsam sind" (19). Freilich werden nicht alle Orte, auf die diese Definition zutrifft, aus diesem Blickwinkel betrachtet: In dem Beitrag von Mathieu Lepetit über die Türken vor Wien kommt Johann III. Sobieski gerade zweimal vor (im Personenregister fehlt er), der Verfasser deutet aber zumindest in wenigen Sätzen an, dass die polnische "Deutungsdimension der Belagerung Wiens [...] weniger triumphalistisch, dafür stärker europäisch" sei (406). Der Essay von Hagen Schulze über Versailles konzentriert sich voll auf die innerdeutsche und die deutsch-französische Auseinandersetzung, die Folgen für das deutsch-polnische Verhältnis können nur als Teilaspekt der Zwangsläufigkeit Berliner Revisionspolitik nach 1919 mitgedacht werden.
In dem Kapitel "Volk" finden zwei Themen das besondere Interesse des ostmitteleuropäischen Lesers. Rainer Münz und Rainer Ohliger gehen der kurzen Karriere der "Auslands-" bzw. "Volksdeutschen" als Bezugspunkt deutscher Politik 1919-1939/45 nach und skizzieren Etappen und Instrumente der Eingliederung der Vertriebenen und Aussiedler nach 1945. Die Bedeutung dieser Gruppen ging bereits in der alten Bundesrepublik zurück; seit einem Jahrzehnt werden auch die Auslandsdeutschen nicht mehr privilegiert behandelt. "Nach der 1990 erfolgten abschließenden Definition seines Staatsterritoriums nähert sich Deutschland damit auch einer eindeutigen Festlegung seines Staatsvolkes" (387). Auf einen von Münz und Ohliger angedeuteten Aspekt gehen ausführlich Eva und Hans Henning Hahn in ihrem Essay über Flucht und Vertreibung ein: "Kaum eine andere kollektive Erinnerung wurde mit so viel Nachdruck in der Bundesrepublik gepflegt wie die an 'Flucht und Vertreibung'" (335). Dieser Erinnerungsort sei ein Konstrukt der staatlich betriebenen, ursprünglich von allen Parteien unterstützten Vergangenheitspolitik, aus der Dissidenten wie Horst Bienek oder Siegfried Lenz ausgeschlossen blieben, sofern sie sich an dem Aufbau des auch außenpolitisch benötigten und von Vertriebenenfunktionären vereinnahmten Opfertopos nicht beteiligen wollten; erst in den 1990er-Jahren begann eine Loslösung der Erinnerungslandschaft "Flucht und Vertreibung" aus diesem Korsett.
Frithjof Benjamin Schenk erzählt die preußisch-deutsche und polnische Wirkungsgeschichte der Schlacht bei Tannenberg im 19. und 20. Jahrhundert, wobei er für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auf "deutliche Übereinstimmungen" ("lediglich die Vorzeichen waren vertauscht", (444)) hinweist. Leider ist dem Verfasser der staatlich inszenierte Versuch entgangen, die polnische Grunwald-Tradition in den 1980er-Jahren wieder zu beleben (auch ist die Oder-Neiße-Grenze im November 1990 und nicht im Juni 1991 vertraglich bestätigt worden, (453)), völlig zu Recht vermutet er aber, dass es sich wohl um einen "aussterbenden Gedächtnisort" (454) handelt. Um weiterhin präsente Gedächtnisorte geht es in den Beiträgen von Peter Reichel über Auschwitz und Adam Krzemiński über den Warschauer Kniefall Willy Brandts 1970. Reichel widmet der Aufarbeitung der NS-Verbrechen in der Bundesrepublik wesentlich mehr Platz als Auschwitz selbst, stellt stark den Wandel der Erinnerungspolitik in den 1980er und 90er-Jahren heraus (Ablösung der "deutschen" durch die "jüdische Katastrophe") und kommt über diese auf den Kontext konzentrierte Darstellung zu dem Schluss, dass "der deutsche Erinnerungsort Auschwitz hinter dem zivilisationsgeschichtlichen Gedächtnisort Auschwitz verblasst" (618). Die knappen Sätze über polnisch-jüdische Konflikte um Auschwitz hingegen beschränken sich auf die Zusammenfassung der wichtigsten Fakten (602 f.) und scheinen seltsam losgelöst von der Grundthese des Essays. Krzemiński benutzt den Kniefall Brandts als Ausgangspunkt für einen Beitrag über die deutsch-polnischen Beziehungen mit besonderer Berücksichtigung Warschaus und des 20. Jahrhunderts, vor allem der Aufstände von 1943 und 1944 und deren Nachgeschichte. Er beschreibt den Umgang mit dem Kniefall im kommunistischen Polen (den man am ehesten als Verdrängung bezeichnen kann) und stellt seine Bedeutung als - letztlich erfolgreiche - "Herausforderung an die deutsche Öffentlichkeit" heraus (651); es ist wohl der einzige Beitrag unter den mit Ostmitteleuropa verbundenen Essays, in dem ein deutscher Erinnerungsort tatsächlich als ein "geteilter Erinnerungsort" porträtiert und verständlich gemacht wird - was nichts mehr heißen soll, als dass die auswärtigen Bezüge der lieux de mémoire einer Nation immer und aus durchaus verständlichen Gründen eine untergeordnete Rolle spielen.
"Zentraleuropäische", ex definitione übernationale Gedächtnisorte sollen in dem von Jacques Le Rider, Moritz Csáky und Monika Sommer herausgegebenen Sammelband nicht Randerscheinungen, sondern zentrale Objekte der Darstellung bilden. Allerdings wird deutlich, dass die Spannung zwischen national und übernational auch durch eine völlig andere Auswahl der symbolischen Orte nicht gänzlich aufgehoben wird. Während etwa die Untersuchung Ernst Bruckmüllers über die Ansprüche mehrerer Nationen auf die Person Josef Ressels einmal mehr das Ausmaß der Manipulationen zeigen, mit deren Hilfe ein vormoderner Österreicher einem modernen Nationalbewusstsein zugeordnet wird, oder die Skizze Daniel Barics über den Illyrismus als eines über- und vornationalen Begriffs (der Mitte des 19. Jahrhunderts dem Jugoslawismus weichen musste) durchaus dem Gesamtkonzept entsprechen, fragt man sich bei anderen Beiträgen - ungeachtet ihres Niveaus -, warum sie gerade in diesem Band erscheinen. Ein gutes Beispiel dafür ist der lesenswerte Essay von Andreas Pribersky über Geschichtspolitik in Ungarn nach 1989: Die Berufung auf die Stephanskrone durch die Rechte soll einerseits die "Symbolik nationaler Einheit an die Stelle eines Politikverständnisses als Wettbewerb von Interessengegensätzen" (75) setzen und zugleich die Notwendigkeit der Modernisierung des heutigen Ungarn herausstellen; dies ist sicher ein interessanter Einblick - nur, was haben diese innerungarischen Auseinandersetzungen mit "Transnationalität" zu tun? Ähnliche Zweifel erweckt der Beitrag von Michel Espagne, der über die Betonung der Internationalität von Wirtschaft und Kunst im modernen Sachsen kaum hinauskommt, die bildungsgeschichtliche Abhandlung von Jacques Le Rider über die Präsenz der griechischen Antike in Wien - hauptsächlich - vor 1914 und die Untersuchung der Rezeption von Shakespeare in der Wiener Moderne von Sylvie Arlaud (hier,164, die kühne Behauptung, die Entwicklung der mitteleuropäischen Nationalliteraturen sei von einem "eingedeutschten Shakespeare abgeleitet" worden beziehungsweise die polnische und tschechische Nationalliteratur seien gar durch die respektiven Shakespeare-Übersetzungen "entstanden").
Anderen Autoren geht es vor allem um bilateral geteilte Erinnerungsorte beziehungsweise um Internationalisierung nationaler Traditionen. Rudolf Jaworski überlegt, ob die Polen ihre "übernationalen" Helden (Sobieski als Retter von Wien, Tadeusz Kościuszko als Held des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, Józef Piłsudski als Verteidiger Europas vor der bolschewistischen Revolution) in ein europäisches Pantheon einzubringen bereit waren. Der Verfasser kommt zu dem Schluss, dass - trotz betont europäischer Prägung der Gedächtnispolitik gegenüber diesen polnischen Heroen - "eine deutliche Verengung auf eine polonozentrische, beziehungsweise auf eine ausgesprochen nationalistische Sehweise und damit eine zunehmende Entfernung von europäisch abgesteckten Horizonten" (26) festzustellen sei. Andrei Corbea-Hoisie geht einem wichtigen Aspekt der aktuellen Wiederentdeckung der Bukowina als der "Schweiz des Ostens" nach. Er zeigt unter anderem anhand von Reiseliteratur und Presse, wie die Präsenz deutscher Kultur in Czernowitz in den 1830er- und 1840er-Jahren dieses ursprünglich durchweg als "Halb-Asien" betrachtete Land im Bewusstsein liberaler Wiener Intellektueller zu einem (dem einzigen?) erfolgreichen Zivilisationsprojekt der Monarchie im Osten aufsteigen ließ, 1849 zur Herauslösung der Bukowina aus Galizien und 1875 zur Entstehung der deutschsprachigen Universität Czernowitz führte.
Thomas Serrier analysiert die wechselnden Funktionen des Danziger Artushofes zwischen Spätmittelalter und Ende des 20. Jahrhunderts. Der Aufsatz schließt mit der zutreffenden Bemerkung, dass die "Recodierung des Artushofes als identitätsstiftender Gedächtsnisort für das heutige Gdańsk [...] ganz offensichtlich der öffentlich gewünschten Überwindung des deutsch-polnischen Gegensatzes" dient [2] (48) - eine Schlussfolgerung, die nicht nur auf den konkreten Gedächtnisort Artushof, sondern auf die "Recodierung" der Kunstdenkmäler in den gesamten polnischen Nord- und Westgebieten zutrifft; das Thema ist ein eigenes Buch wert. Christoph Boyer behandelt die "Erfindung der tschechischen Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert", wobei es ihm hauptsächlich um Kontexte und - oft unbeabsichtigte - Nebenwirkungen der tschechoslowakischen Wirtschaftspolitik gegenüber deutschem Besitztum 1918-1938 geht; die von ihm angestellten Überlegungen eignen sich ebenfalls als Ausgangspunkt für eine größere, vergleichende Untersuchung über die "Entgermanisierungs-" beziehungsweise "Entmagyarisierungspolitik" in Ostmitteleuropa nach 1918. Abgeschlossen wird der Band durch einen schönen literarischen Essay von Pierre Burlaud über die Donau.
Anmerkung:
[1] Vgl. hierzu die Rezension von Christoph Cornelißen, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 2; http://www.sehepunkte.de/2003/02/2200.html.
[2] In eine ähnliche Richtung geht der etwa gleichzeitig erschienene Aufsatz von Peter Oliver Loew über Geschichtskultur in Danzig nach 1945, in: Ansichten. Jahrbuch des Deutschen Polen-Instituts 2003 (14), S. 43-59.
Włodzimierz Borodziej