Rezension über:

Eckhard Stephan: Honoratioren, Griechen, Polisbürger. Kollektive Identitäten innerhalb der Oberschicht des kaiserzeitlichen Kleinasien (= Hypomnemata. Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben; Bd. 143), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 368 S., ISBN 978-3-525-25242-0, EUR 56,00
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Rezension von:
Dirk Erkelenz
Institut für Altertumskunde, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Christian Witschel
Empfohlene Zitierweise:
Dirk Erkelenz: Rezension von: Eckhard Stephan: Honoratioren, Griechen, Polisbürger. Kollektive Identitäten innerhalb der Oberschicht des kaiserzeitlichen Kleinasien, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 1 [15.01.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/01/3115.html


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Eckhard Stephan: Honoratioren, Griechen, Polisbürger

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"Das Römische Reich zeichnet sich unter den Großreichen der Antike nicht nur durch seine Größe, sondern auch durch seine Stabilität und Dauerhaftigkeit aus. Ein nicht unwesentlicher Grund hierfür lag in der vergleichsweise hohen Akzeptanz, die die römische Herrschaft genoß" (9). Die von Stephan vorgelegte Studie, eine geringfügig überarbeitete Fassung seiner Freiburger Dissertation von 2001, versteht sich als ein Beitrag zur Erklärung dieses Phänomens.

Die ersten drei Kapitel schaffen methodische und historische Voraussetzungen. Zunächst präsentiert Stephan die theoretischen Grundlagen für eine Beschäftigung mit kollektiven Identitäten (13-30): Multiziplität und Fluidizität von Identitäten, Situations- und Kontextabhängigkeit, Selbstidentifikation und Fremdzuschreibung, Prozesse der Aneignung, Mechanismen sowie Methoden der Gruppen- und Traditionsbildung ("kulturelles Gedächtnis") bis hin zur Konstruktion der eigenen Vergangenheit. Eine Diskussion der verwendeten Quellen und ihrer Aussagefähigkeit schließt sich an (31-41). Hierbei misst Stephan den materiellen, archäologischen Zeugnissen an sich keine hinreichende Aussagekraft zu, er konzentriert sich im Folgenden vielmehr auf die Interpretation von Schriftquellen.

Kapitel 3 widmet sich den "administrativen Strukturen sowie den allgemeinen politisch-sozialen Gegebenheiten". Hier bietet Stephan zunächst eine sehr geraffte Einführung in die Struktur der römischen Provinzen und ihre Amtsträger sowie - weit wichtiger - in die Spielräume, welche die "Definitionsmacht" Rom den Städten ließ (42-59). Schließlich folgt ein ebenfalls sehr kompakter Überblick über die offiziellen und inoffiziellen politischen Strukturen der Städte (59-72).

Mit Kapitel 4 wendet sich Stephan der eigentlichen Untersuchung verschiedener Identitätshorizonte zu. Er beginnt mit einer ausführlichen Betrachtung der "kompetitiven Statusgesellschaft" der städtischen Honoratioren (72-113). Dabei wird zunächst die Funktionsweise des Systems der Honoratiorenherrschaft analysiert (72-85); im Vordergrund stehen hier vor allem Mechanismen des Machterwerbs und -erhalts. Dies meint in erster Linie den innerstädtischen Euergetismus als entscheidendes Mittel der Distinktion sowie zum Gewinn von Macht und Autorität.

Nach dem soziopolitischen Rahmen widmet sich Stephan dem Selbstbewusstsein der Honoratioren (85-113). Dies erfolgt über eine Analyse der innerstädtischen Kommunikation, ihrer (in erster Linie epigrafischen) Ausdrucksformen sowie der wesentlichen Inhalte. Hier lässt sich ein normativer Kanon erkennen: Leistungen und Aufwendungen, Ämter auf lokaler, provinzialer oder Reichsebene, bestimmte Charaktereigenschaften, familiäre oder politische Kontakte bildeten den Maßstab, der über die Zugehörigkeit zur Führungsschicht entschied.

Kapitel 5 (114-260) ist nicht nur vom Umfang her das Kernstück der Arbeit: Hier betrachtet Stephan die "vielfältigen Bindungen der Honoratioren an geographische oder territoriale Einheiten" (114). Dabei identifiziert er vor allem vier (mögliche) Identitätshorizonte. Trotz der Entwicklung großräumigerer politischer Strukturen war und blieb "die allersüßeste Vaterstadt" (115-178) der wichtigste Bezugspunkt für die Bewohner der kleinasiatischen Provinzen; dies wird an zentralen Themenfeldern sowohl der offiziellen, also "von der Aristokratie bestimmten", Kommunikation (städtische Münzprägung, Festprogramm und Rangstreit der Städte) als auch der privaten Repräsentation (über Grab- und Weihinschriften) verfolgt.

Andere Zeugnisse lassen zwar einen überlokalen Bezug auf größere (ethnisch, geografisch oder politisch definierte) Regionen erkennen und zeigen, dass diese durchaus reale Größen waren (zum Beispiel mit eigenen Festen oder Beamten); doch ist ihre Zahl gering (178-199). Vielfache Rückbezüge finden sich andererseits auf "die griechische Kultur- und Abstammungsgemeinschaft" (199-222). Allerdings stammen sie größtenteils aus dem literarischen Diskurs der zweiten Sophistik. Inwieweit man in diesen beiden Phänomenen einen "zentralen Kristallisationspunkt kollektiver Identität", insbesondere auch für breitere Schichten, fassen kann, bleibt somit fraglich.

Was schließlich die imperiale Ebene betrifft (222-260), so waren gerade die Honoratioren allein durch die administrative Routine "praktisch ständig mit der Realität römischer Herrschaft konfrontiert" (222). Hier ergaben sich vielfältigste unmittelbare Berührungen, allein schon durch Bürgerrechtsverleihungen (einschließlich der Übernahme römischer Namen), Tätigkeiten im Reichsdienst oder die Ausübung des Kaiserkultes. Stephan konzentriert sich im Folgenden vor allem auf den Nachweis, dass zwar einerseits trotz aller Kooperation keine tief gehende Identifikation mit Rom stattgefunden habe, dass sich aber andererseits bei aller Betonung der eigenen - griechischen - kulturellen Identität keine generell antirömische Stimmung fassen lasse. Sein Fazit lautet an dieser Stelle, dass die verschiedenen Identitätshorizonte problemlos nebeneinander bestehen konnten, sich sogar ergänzten, indem sie sich auf unterschiedlichen Ebenen niedergeschlugen. So habe es sich bei "Griechentum" (im kulturellen Bereich) und "Imperium Romanum" (auf der politischen Ebene) "nicht um konkurrierende, sondern um einander komplementär ergänzende Bezugspunkte kollektiver Identität" gehandelt (260).

Die Grenzen dieses "relativ harmonischen Gefüges kollektiver Identitäten" (261) werden schließlich an zwei sehr unterschiedlichen Beispielen verdeutlicht. Bei der Betrachtung des "ländlichen Kleinasien" (261-294) geht es zunächst "nur" um deutliche Unterschiede in der Mentalität. Echte Gegensätze und massive Konflikte, von Ausgrenzung und selbstgewählter Isolation bis hin zu offener Gewalttätigkeit, gab es dagegen zwischen der paganen Bevölkerung und den Christen in Kleinasien (294-328). Ein knappe Zusammenfassung (329-336), ein Literaturverzeichnis (337-364) sowie ein sehr sparsamer Sach- und Namenindex (365-368) beschließen den Band.

Stephans Darstellung ist sehr flüssig geschrieben und gut strukturiert, er verliert sich weder in theoretische Erwägungen ohne konkrete Anwendung noch in eine modernistische Terminologie, bei der es sich nur zu oft um reine Vokabelexegese handelt. So gelingt es ihm, in einer gut lesbaren und verständlichen Weise die Anwendbarkeit von Methoden und Ergebnissen der (primär soziologischen und anthropologischen) Identitäts- und Mentalitätsforschung auch auf sein Thema zu zeigen. Dabei kann er dem Material manchen interessanten (wenn auch nicht grundsätzlich neuen) Aspekt abgewinnen und bisweilen in sehr plastisch-anschaulicher Weise verdeutlichen; so etwa die "deskriptive und normative Funktion von Festen" (122 ff.) oder die Vereinbarkeit verschiedener "kollektiver Identitäten in einem gemeinsamen (Statuen-) Ensemble" (255 f.).

Mehr wird man von diesem Werk allerdings nicht erwarten dürfen. Denn zu Gunsten anderer Schwerpunkte, die bestenfalls als Ausgangspunkt dienen können, wird den eigentlich entscheidenden Fragen oft zu knapp und vordergründig nachgegangen, häufig auch nur auf der Basis der (teils älteren) Standardliteratur und der prominentesten Quellen, mit bisweilen nur marginaler Absetzung von der Vorgängerliteratur.

Dies beginnt bei der ausführlichen, bisweilen beinahe exzessiven Präsentation der Quellen, die in dieser Breite unnötig ist. Bereits die Rahmenkapitel, aber nicht nur diese, enthalten zahlreiche Erörterungen, welche für die folgende Argumentation keine Rolle mehr spielen oder nicht zu nennenswerten Ergebnissen führen. Anderes wiederum sollte einem wissenschaftlichen Publikum bekannt sein oder, mit Verweis auf die relevante Literatur, sehr viel knapper präsentiert werden (zum Beispiel 35 ff., 42 ff., 59 ff., 84 f., 116 ff., 149 ff., 188 ff., 201 ff., 294 ff., 318 ff.).

In den Hauptkapiteln setzt sich dies fort. Zwar ist eine Untersuchung der von Stephan angesprochenen Identitätshorizonte durchaus wichtig und berechtigt, doch wäre hier vieles differenzierter zu betrachten. Dass beispielsweise für die Masse der Bevölkerung die Heimatstadt der zentrale Bezugspunkt war und blieb (115 ff.), muss nicht mehr eigens nachgewiesen werden, schon gar nicht in dieser Breite (das wäre allenfalls für das Gegenteil erforderlich). Wie sollte dies angesichts der geringen (von Stephan sicherlich zu hoch eingeschätzten) Mobilität breiterer Schichten auch anders sein (168 ff.) - und selbst für die Oberschichten ist Bekanntschaft mit anderen Orten noch nicht gleichzusetzen mit Identifikation.

Ganz anders verhält sich dies bei einer Personengruppe, die erstaunlicherweise überhaupt nicht berücksichtigt wird: Ritter und Senatoren aus den kleinasiatischen Provinzen. Von ihnen bekleidete Ämter im Reichsdienst waren weit mehr als nur ein Mittel der Distinktion (so etwa 203 f., 228, 236, 254, 332 f.). Sie boten den Mitgliedern der Oberschichten die Möglichkeit zur Partizipation an der imperialen Herrschaft. Gerade angesichts der zeitlichen Dimension (die bei Stephan durchgängig zu wenig berücksichtigt wird) war dies von ganz entscheidender Bedeutung für die Auflösung der anfänglichen Herren-Untertanenperspektive und für die eingangs (9) aufgeworfene Frage nach der Akzeptanz der römischen Herrschaft. Überdies waren hohe Amtsträger gezwungen, zumindest auf Zeit ihre bisherigen Lebensbereiche zu verlassen und sich in anderen einzurichten - hier wäre ein Ansatzpunkt für die Frage, inwieweit sich dies auf ihr Selbstverständnis auswirkte. Dass man bei den integrierten Oberschichten nicht von einer prinzipiell antirömischen Einstellung ausgehen kann, ist dagegen von vornherein anzunehmen und kann kein zentrales Ergebnis dieses Kapitels sein.

Was hier nur exemplarisch angesprochen wurde, gilt generell. Es bleibt über weite Strecken der Eindruck inhaltlicher Vordergründigkeit und, verstärkt durch das bisweilen störende Ausmaß von Druckfehlern, von zu großer Hast bei der Produktion der Studie. Die Frage nach den verschiedenen Identitätshorizonten provinzialer Oberschichten im römischen Reich ist ohne Zweifel von großem Interesse; und wenn es sich dabei auch keineswegs um ein unerforschtes Gebiet handelt, bleibt doch noch vieles zu sagen. Stephans Untersuchung kann dabei jedoch nur ein Ausgangspunkt oder bestenfalls ein erster Schritt sein. Zukünftige Betrachtungen werden hier weit präziser, gründlicher und differenzierter vorgehen müssen. Diese sollten auf bereits Bekanntes verzichten, dafür aber Methoden und Erkenntnisse der neueren Forschung zur "Romanisierung" berücksichtigen und schließlich auch nichtschriftliche Quellen, insbesondere für die Frage der Tiefen- und Breitenwirkung, einbeziehen.

Dirk Erkelenz